endlich die Pille für den Mann, diesmal die gegen AIDS/HIV
"Wundermittel" sind diese Tabletten nicht. Ich habe mir die Daten aus
Wiener Zeitung vom 14.07.2011 angesehen: Demnach wurden drei offenbar gleich große Gruppen zu je 1.586 Paaren aus Afrika mit gemischtem Serostatus untersucht (teilweise heterosexuelle Paare, teilweise homosexuelle Paare), mit folgenden Ansteckungen nach 3 Jahren:
Sex mit Kondom und Placebo 47 Infektionen, Sex mit Kondom und Tenofovir 18 Infektionen, Sex mit Kondom und Kombination (Tenofovir + Emtricitabin) 13 Infektionen. Das Risiko pro Sexualakt ist damit bei Tenofovir bzw. Kombination 38% bzw. 27% des Risikos von Sex ohne Prophylaxe. Die in den Daten nicht angegebene Zahl der Sexakte (vom beobachteten Risiko her sind 3 bis 4 Akte pro Woche am wahrscheinlichsten) spielt für diese Zahlen keine Rolle.
Der individuelle Nutzen ist demnach auf den ersten Blick nicht sehr hoch. Trotzdem können diese Tabletten im Paysex die HIV-Infektionen deutlich eindämmen helfen.
Beim oben diskutierten "intensivierten Straßenstrich-Szenario aus Chicago" (rund 2/3 sichere Praktiken, wie beschrieben) mit 20 Freiern pro Woche und SW und 2 Paysex-Erlebnissen pro Woche und Freier dämmt diese Prophylaxe HIV auf der Seite der Freier genauso gut ein, wie eine (in den USA hypothetische) Kontrolluntersuchung. Und selbst im Fall, dass mehr unsichere Praktiken nachgefragt und angeboten werden, kann diese medikamentöse Prophylaxe auch langfristig eine Epidemie verhindern - nicht so die Kontrolluntersuchung (Mix aus 50% vaginal, 35% anal, 10% oral und 5% Handentspannung bei nur 20% Kondomnutzung).
Im Unterschied zur Kontrolluntersuchung hätten die Sexarbeiter auch einen unmittelbaren Nutzen aus der Prophylaxe.
Selbstverständlich (zur Kritik von @Bulsara) sind diese einfachen Modellrechnungen nicht als gesundheitspolitische Entscheidungsgrundlage gedacht - allenfalls als ein mögliches Verkaufsinstrument der Pharmaindustrie. Sie zeigen aber, dass auch eine scheinbar geringfügige Risikominderung jeder Einzelperson messbaren Nutzen für die Gesellschaft haben kann, der dann wieder den Einzelpersonen zugute kommt.
Soo klein ist die Anzahl der SWs ja sicher nicht !? [...] Ich gehe mal aus das HIV sich bei denen am raschesten verbreitet welche ihre Sexualpartner wechseln. Umso häufiger gewechselt wird desto größer die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung und die Verbreitung. Da sehe ich die SWs als guter Indikator. Oder siehst du einen besseren Indikator ?
Es handelt sich bei der Gruppe der Sexarbeiter um eine viel zu kleine Gruppe, um aus den HIV Infektionen von Sexarbeitern brauchbare Rückschlüsse auf die Zahl der HIV-Infektionen unter den Freiern zu machen. Hinzu kommt, dass die Arbeitsweisen der SW sehr unterschiedlich sind, womit Rückschlüsse von SW auf Freier noch ungenauer werden.
Als konkretes Beispiel: Wie soll man anhand der Kontrolluntersuchung der SW feststellen, ob HIV unter Freiern um 10% zugenommen hat, von 0,1 auf 0,11 Prozent?
Wenn eine SW fleißig ist, 5 AO-genital/Tag, 7 Tage/Woche, 52 Wochen/Jahr, dann wirken sich 10% mehr HIV+ Freier so aus, dass im Jahr das Risiko einer Infektion für die SW um 0,02% steigt (von 0,18% auf 0,2%). Die meisten SW arbeiten aber wesentlich weniger, weil sie ihre Freizeit genießen wollen, etwa nur 2 Tage/Woche. Mit wieder 5 AO-genital Freiern pro Arbeitstag verringern sich die Risiken, sich innerhalb von 1 Jahr mit HIV zu infizieren (0,052% bzw. 0,057%) und auch die Steigerung ist nur mehr 0,005 Prozent. Wenn aber gar nicht alle ihre Freier AO konsumieren, ist das Risiko entsprechend geringer: Bietet eine SW nur 2 mal/Woche 5 mal/Tag safer GV-genital an, dann wirken sich 10% mehr HIV+ Freier mit einer Steigerung des jährlichen Risikos um 0,001% aus (von 0,009% auf 0,01%).
Damit sind 1.) allenfalls festgestellte Unterschiede kaum zu interpretieren, weil sich die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Sexarbeiterinnen bei den Risikodifferenzen mit dem Faktor 20 auswirken, von e = 0,001% bis zu 0,02%. 2.) Um solche kleinen Risikodifferenzen e festzustellen, sind riesige Stichproben nötig.
Wie
Wiki dazu informiert, erfordert eine 95% Sicherheit, dass (kleinere Stichprobengröße zu e = 0,02%) n = 1,96^2/(4*e^2) > 24 Millionen SW untersucht werden. Auch die genauere Formel, bei WIKI daneben, erfordert, dass 172.000 SW untersucht werden.
Mit 5.000 regelmäßig untersuchten SW, alle vom Typus "fleißige AO Anbieterin", wird erst eine Risikosteigerung von 0,18% auf 0,3% Infektionsrisiko/Jahr bei den Untersuchungen als statistisch signifikant erkannt. Das entspricht, bei diesem Typ von SW, einer dramatischen Zunahme von HIV unter den Freiern um 70% (von 0,1% auf 0,17%). Wenn sich SW einem geringerem Risiko aussetzen, dann muss die Zunahme von HIV unter Freiern entsprechend größer sein, damit bei den Kontrolluntersuchungen eine statistisch signifikante Verschlechterung bemerkt wird.
SW sind also ein extrem schlechter Indikator für HIV unter Freiern.
Bei SWs wird AO erst in letzter Zeit angeboten - noch dazu so offen. Früher gabs bei SWs nicht-mal NF CIM und schlucken waren kein Thema.
Auch früher hat es AO gegeben, aber nur in (damals teureren) Bars und Bordellen: Dank Kontrolluntersuchung waren genügend viele Freier bereit, AO zu konsumieren, und die Sexarbeiter konnten dafür eine angemessene Risikoprämie verlangen (die wegen ihrer Höhe AO auch eingebremst hat). Die neue Entwicklung ist, dass der Preisaufschlag für AO im Vergleich zum Risiko lachhaft gering ist (ein weltweites Phänomen), und oral ohne Kondom zum Grundservice zählt, was anzeigt, dass die Anbieterseite am Markt an Durchsetzungsvermögen verloren hat, offenbar wegen eines Überangebots seit der Ostöffnung.
Dieses Überangebot ist selbstverständlich nicht der Kontrolluntersuchung anzulasten. Es führt aber in zweifacher Weise zu ihrem Versagen:
1.) Versagen des Steuerungseffekts, weil sich durch die riskanten AO Praktiken langsam ein Reservoir an HIV-positiven Freiern aufbaut, das aber bei der Kontrolluntersuchung zunächst nicht bemerkbar ist (siehe oben zur nötigen Stichprobengröße).
2.) Systemversagen, weil sich Sexarbeiter, die in Bratislava oder anderen grenznahen Orten wohnen und nur kurz für ihre Dates nach Österreich reisen, außerhalb jeder staatlichen Kontrolle befinden.
Dazu kommen noch verstärkende Faktoren, wie die Problematik des Sextourismus in Hochrisikoländer für HIV (siehe einschlägige EF Threads).