Charlie der Seemann
Es war der 20. Dezember. Noch vier Tage bis zum Heiligen Abend. Frierend und mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen lief Cornelius Henschel die festlich geschmückte Einkaufsmeile entlang. Geschneit hatte es bisher noch nicht, aber die Temperaturen waren schon seit Tagen nicht mehr über Frostgrenze hinausgekommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Flocken fallen und das Land in ein weißes Kleid hüllen würden. Überall lag der Duft von Glühwein, gebrannten Mandeln, Zimt und Lebkuchen in der Luft. Wie in jedem Jahr hatten sich die Stände des Weihnachtsmarktes dicht an die Fußgängerzone geschmiegt. Als Lokalredakteur der örtlichen Tageszeitung hatte Cornelius während der letzten Tage viel zu tun gehabt. Alle möglichen Vereine und Institutionen hatten – in der Hoffnung auf wohlwollende Berichterstattung – zu ihren Jahresendversammlungen geladen. So war er mit seinen Weihnachtseinkäufen gehörig in Verzug geraten und nun musste er auf den letzten Drücker noch einige Geschenke besorgen. Durch drängelnde und rempelnde Menschenmassen kämpfte er sich voran und endlich kam sein Ziel in Sicht. Kurz bevor er den Eingang des Kaufhauses erreicht hatte, fiel ihm der alte Mann auf, der auf einem dünnen Stück Pappe neben einem der Lüftungsschächte auf dem kalten Boden saß. Zwischen seinen ausgestreckten Beinen lag eine verschlissene Wintermütze. Auf diese Art bat er die Vorbeigehenden wortlos um die eine oder andere Münze. Die beinahe schulterlangen weißen Haare, der nur mäßig gepflegte Vollbart und das faltige Gesicht des Mannes erzählten vom harten Leben eines Obdachlosen. Cornelius Henschel hatte es schon immer als beschämend empfunden das in einem so reichen Land wie diesem eine solche Armut überhaupt existierte. Aus diesem Grund fanden seine Finger schnell eines der Geldstücke, die er immer als Futter für diverse Parkscheinautomaten bereit hielt.
„Aber keinen Schnaps davon kaufen.“ Mit einem wohlwollenden Lächeln warf er einen Euro in die Mütze.
Er war schon ein paar Schritte weiter gegangen, als er hinter sich die raue Stimme des Bettlers hörte: „Wenn an deinem Geld ein solches Vorurteil hängt, kannst du es gerne behalten.“
Verdutzt blieb Cornelius stehen, drehte sich um und kehrte zu dem alten Mann zurück. Mit einer derartigen Reaktion hatte er nicht gerechnet.
„Nicht jeder, der auf der Straße lebt, ist automatisch ein Säufer.“ Mit einem festen Blick aus klaren blauen Augen hielt der Obdachlose ihn fixiert.
„Sie haben Recht. Bitte entschuldigen sie. Ich dachte nur...“
„Damals, auf See, hatte ich einen Kameraden. Der hat immer gesagt man sollte das Denken besser den Pferden überlassen. Die haben nämlich einen größeren Kopf.“ Der Alte grinste verschmitzt.
„Sie sind zur See gefahren?“ Cornelius´ Aufmerksamkeit war geweckt. Als Journalist hatte er stets ein offenes Ohr für besondere Geschichten. Diese hier interessierte ihn jedoch weniger aus beruflichen und mehr aus menschlichen Gründen.
„Ja, aber das ist lange her. Anfang der Sechziger war ich für ein paar Jahre auf großer Fahrt. Mit sechzehn bin ich von Zuhause abgehauen und wusste nicht wohin. Bin dann zu Fuß bis nach Hamburg gelaufen.“
„Mit sechzehn Jahren?!“ Cornelius staunte ungläubig.
„Ja“, der Alte lachte, „das waren damals noch andere Zeiten. Erst habe ich an den Docks gearbeitet, aber irgendwann wurde mir alles zu eng. Ich wollte raus und was von der Welt sehen. Schließlich habe ich auf einem dicken Pott angeheuert. Das war so etwa um diese Zeit. Das erste Weihnachten auf See werde ich nie vergessen. Die Luft so klar wie Glas und mehr Sterne am Himmel als Menschen auf der Welt.“ Die Augen des alten Mannes leuchteten in Anbetracht der wiedererwachten Erinnerung.
„Wie wäre es wenn ich sie zum Frühstück in ein warmes Bistro einlade und sie mir etwas mehr über sich erzählen?“
„Nur wenn er auch mitkommen darf.“ Der Obdachlose zeigte auf einen etwa kniehohen Hund, der leicht verdeckt hinter ihm saß. Er hatte ein drahtiges schwarz-braunes Fell und war bereits in die Jahre gekommen. „Das ist mein bester Kumpel und wir passen aufeinander auf. Ihm kann ich vertrauen, Tiere sind halt die besseren Menschen. Sein Name ist Rowdy.“
„Natürlich.“ Cornelius reichte dem alten Mann die Hand und half ihm auf die Beine. Dabei fiel sein Blick auf den Hund, der sich nun ebenfalls mühevoll erhob. Es konnte sein das der Eindruck ihn täuschte, aber Cornelius glaubte tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Herr und Hund zu erkennen. Auch das Gesicht des Tieres erzählte von einem nicht gerade leichten Leben.
Ungeachtet der schiefen Blicke, mit denen das ungleiche Trio bedacht wurde, bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und fanden schließlich einen freien Tisch in einem kleinen Cafe.
„Mein Name ist übrigens Cornelius Henschel.“ Nachdem sie Platz genommen und der Hund es sich zu den Füßen seines Herrchens gemütlich gemacht hatte, reichte der Gastgeber seinem Gegenüber die Hand.
„Du kannst mich Charlie nennen. Ich bin wohl ein Musterexemplar des kleinen Tramps“ Mit einer Anspielung auf den Schauspieler Charlie Chaplin erwiderte der Alte den Händedruck.
„Sie sagten sie hätten ihr Elternhaus schon früh verlassen. Hatten sie keine gute Kindheit?“ Obwohl er kein Interview führen wollte, eröffnete Cornelius das Gespräch ungewollt im Stil eines Reporters.
„Alles andere als das. Ich hatte drei Geschwister und mein Alter war ein Säufer. Immer wenn er uns verprügelt hat, hat unsere Mutter ihn anstatt der eigenen Kinder in Schutz genommen. Angeblich waren die schlimmen Dinge, die er im Krieg erlebt hat, Schuld an allem. Deswegen haben die Schläge, die er uns verpasst hat, allerdings nicht weniger weh getan. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und mich bei Nacht und Nebel davongemacht. Erst als ich schon unterwegs war kam mir der Gedanke das ich überhaupt nicht wusste wie es mit mir weitergehen sollte. Ich war erst sechzehn Jahre alt, noch ein halbes Kind, hatte keinen roten Heller in der Tasche und keine Ahnung vom Leben. Dann habe ich meinen späteren Kameraden getroffen. Der mit dem Denken und den Pferden, von dem ich dir vorhin schon erzählt habe. Er war ein paar Jahre älter als ich und wurde für mich zu einer Art großem Bruder. Irgendwann hatte er die Idee zur See fahren zu wollen und so sind wir einfach losmarschiert. Wochenlang sind wir unterwegs gewesen, haben in alten Scheunen übernachtet und von der Hand in den Mund gelebt.“
„Aber keine Reederei beschäftigt sechzehnjährige Jungs als Matrosen.“ Cornelius hakte nach.
„Damals waren noch andere Zeiten.“ Der Alte wiederholte sich und lachte erneut. „In den sechziger Jahre hat sich in keinem Hafen der Welt jemand dafür interessiert wer du bist, woher du kommst oder was du gemacht hast. Ich war jung, kräftig und sah älter aus als ich tatsächlich war. Außerdem konnte ich ordentlich anpacken. Das war alles was zählte.“
„Sie sagten das erste Weihnachtsfest auf See hätten sie nie vergessen. Bald ist wieder Weihnachten, möchten sie mir davon erzählen?“
Charlie senkte den Blick und die Heiterkeit in seiner Stimme wich von einem Moment auf den anderen einer gewissen Melancholie: „Über die Feiertage habe ich mich zur Steuerwache gemeldet und freiwillig Doppelschichten geschoben. Während die Kameraden in der Messe saßen, Weihnachtslieder gesungen und Christstollen gegessen haben, war ich ganz allein auf der Brücke. Sollte niemand sehen wie ich Rotz und Wasser heule. Der Kapitän hatte einen Plattenspieler dort oben und als ich das Weihnachtsgedudel nicht mehr ertragen konnte, habe ich es damit einfach übertönt. Wie Recht er doch hatte, der gute Freddy Quinn. Seemann, deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Sterne. Ein Zuhause gab es für mich nicht, blieb also nur das Meer. Freunde oder gar Familie hatte ich auch keine, blieben also nur die Sterne. Als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe musste ich noch mehr heulen und auch wenn es eigentlich nichts mit dem Fest der Feste zu tun hat, ist es für mich damals doch zum Weihnachtslied schlechthin geworden.“
„Tut mir leid das zu hören. Es war bestimmt eine harte Zeit für sie. Sollen wir lieber das Thema wechseln?“ Die Worte des alten Mannes waren Cornelius sichtlich zu Herzen gegangen.
„Nee, ist schon gut. Es kommt selten genug vor, dass überhaupt mal jemand zuhört.“
„Gab es für sie denn nie ein schönes Weihnachtsfest, mit Menschen, die ihnen und denen sie etwas bedeutet haben?“
„Wie ich bereits sagte, Hunde sind die besseren Menschen. Das gilt für Tiere im Allgemeinen.“ Als er Rowdy sanft über den Kopf streichelte verschwand die Traurigkeit aus Charlies Gesicht und ging in ein amüsiertes Grinsen über. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Allerdings stimmt das auch nicht immer...“
„Ich bin ganz Ohr.“ Cornelius war froh sein Gegenüber nun wieder lächeln zu sehen. Es war nicht seine Absicht gewesen alte Wunden aufzureißen.
„Irgendwann hatte ich die Nase voll von der Seefahrt. An den Docks war inzwischen auch kein Platz mehr für mich. Ich war älter geworden, konnte nicht mehr wie früher und Maschinen hatten viele Arbeitsplätze gefressen. So bin ich schließlich als Tierpfleger in einem kleinen Privatzoo gelandet. Auch dort habe ich freiwillig an den Feiertagen gearbeitet. Den Tieren war es egal ob nun Weihnachten ist oder nicht. Die wollten trotzdem ihr Futter und saubere Ställe und mir war es ganz recht wenn ich beschäftigt war und keine Zeit zum Nachdenken hatte. Dort haben wir mal zwei verletzte Wildgänse aufgepäppelt, die nicht mit ihren Kollegen auf die Reise gehen konnten. Wir haben sie Lotte und Luise getauft. Mann, waren die Viecher bissig! Denen durfte man nicht zu nahe kommen. Trotzdem habe ich immer viel mit den Tieren gesprochen und einmal, ich glaube es war sogar an Heilig Abend, habe ich zu ihnen gesagt das sie eigentlich Glück im Unglück gehabt hätten. Als Gans die Festtage zu überleben war schließlich keine Selbstverständlichkeit. Danach waren die beiden lammfromm, als hätten sie mich verstanden.“
„Ich mag ihren Humor.“ Cornelius musste herzhaft lachen.
„So, jetzt wird es aber Zeit für uns.“ Charlie stützte sich an der Tischplatte ab und stemmte sich in die Höhe.
„Haben sie noch etwas vor?“
„Wir müssen jetzt nach Hause.“
„Nach Hause?“ Cornelius sah den alten Mann fragend an. „Wo ist das?“ Bislang war er davon ausgegangen das es sich bei seinem Gast um einen Obdachlosen handelte.
„Das hier ist mein Zuhause. 360.000 Quadratkilometer Deutschland.“ Während er bereits der Tür zustrebte, breitete Charlie mit einer raumgreifenden Bewegung die Arme aus. „Da kann niemand mithalten, der sich selbst in einer drei Zimmer Eigentumswohnung einsperrt.“
„Eine letzte Frage noch.“ Cornelius eilte ihm nach. „Wo verbringen sie in diesem Jahr das Weihnachtsfest?“
„Was glaubst du wohl? Zuhause natürlich.“ Charlie lachte spöttisch auf.
„Warum nicht in einer karitativen Einrichtung, wie zum Beispiel der Bahnhofsmission? Dort müssten sie wenigstens nicht frieren, bekämen eine warme Mahlzeit und wären nicht allein.“
„Alleine bin ich nicht, ich hab´ ja Rowdy. Und auf einen Teller Dosensuppe und eine Schüssel Mitleid zum Nachtisch kann ich gut verzichten.“
So trennten sich ihre Wege. In den folgenden Tagen ging Cornelius die Begegnung mit dem Obdachlosen nicht mehr aus dem Kopf. Als Journalist hatte er jeden Tag mit Menschen zu tun, die meisten von ihnen hatte er allerdings schon nach wenigen Stunden wieder vergessen. Bei Charlie war das anders. Immer wieder hatte er die Worte und Schilderungen des alten Mannes im Ohr und dessen Flucht vor dem Weihnachtsfest kristallisierte sich immer deutlicher heraus. Am Heiligen Abend fiel ihm kurz nach dem Mittagessen schließlich die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen. Charlie war nie vor dem Festtagstrubel davongelaufen, wohl aber vor seiner Einsamkeit und dem Gefühl kein wirkliches Zuhause zu haben. Gerade an Weihnachten waren diese beiden Dinge aber von essentieller Bedeutung. Menschen, die einem nahe stehen und ein Ort, an den man gehört.
„Ich habe noch was dringendes zu erledigen.“ Hastig riss Cornelius seinen Mantel von der Garderobe und hauchte seiner fragend dreinschauenden Frau einen Kuss auf die Wange. Dann verlies er die Wohnung und eilte in die Stadt. Die Straßen waren wie leer gefegt. Die meisten Menschen hatten sich schon in ihre Wohnstuben zurückgezogen und bereiteten sich auf die Bescherung vor. Die ersten Kirchenglocken begannen bereits zu läuten, als Cornelius endlich sein Ziel erreichte. Er fand Charlie genau dort, wo sich die beiden zum ersten Mal begegnet waren. Sitzend auf einem dünnen Stück Pappe neben dem Lüftungsschacht des Kaufhauses.
„Hallo Seemann. Einen Plattenspieler habe ich zwar nicht, aber ich bin mir sicher das wir auch im Internet eine passable Aufnahme von deinem Lieblingslied finden werden. Wenn Du und Rowdy nichts besseres vorhabt, würde ich euch gerne zu einer kleinen Weihnachtsfeier bei mir zuhause einladen. Keine Gans, keine Dosensuppe und kein Mitleid, aber dafür ein warmer Platz und ein herzliches Willkommen für gute Freunde und solche, die es werden könnten.“