Clementinen zu Weihnachten
Mit schnellen Bewegungen zog die Mitarbeiterin die wenigen Waren, die auf dem Laufband lagen, über den Scanner der Supermarktkasse. Bei jedem einzelnen Produkt, das erfasst wurde, ertönte der obligatorische Piepton.
„Das macht dann zwölf Euro und neunundsiebzig Cent.“ Mir ernster Miene und gestresster Stimme verkündete die Kassiererin die Gesamtsumme.
Gerda Kessler öffnete ihr Portemonnaie und zog einen zehn Euro Schein daraus hervor. Es war ihr letztes Geld. Zwar fanden sich noch einige Münzen, aber alles in allem kam sie nur auf rund elf Euro. Nervös kramte die alte Dame in ihren Manteltaschen, um dort vielleicht doch noch das eine oder andere Geldstück zu finden. Vergeblich.
„Mann Oma, zahl doch einfach mit Karte. Dann geht´s schneller!“ Ein junger Bursche, der hinter Frau Kessler gestanden hatte, wurde langsam ungeduldig.
„Für alte Leute sollte man eine extra Kasse einführen, die brauchen beim Bezahlen ja fast so lange wie ein Maurer für den Bau eines ganzen Hauses.“ Eine Frau mittleren Alters etwas weiter hinten in der Schlange meldete sich nun ebenfalls zu Wort.
„Es tut mir leid, ich habe nicht genug Geld bei mir.“ Gerda Kessler war die Scham ins Gesicht geschrieben, als sie sich an die Kassiererin wandte. Am liebsten wäre sie in diesem Moment im Erdboden versunken.
„Dann müssen sie einen Teil der Waren hier lassen. Ihnen hätte aber auch schon früher auffallen können das sie mehr im Einkaufswagen haben, als ihr Geldbeutel zulässt. Eine Woche vor Weihnachten, hier ist ohnehin der Teufel los und jetzt muss ich auch noch Storno buchen.“ Die Supermarktmitarbeiterin rollte mit den Augen und ihre Stimmer klang genervt.
„Reicht es wenn ich die Clementinen zurück lege?“ Zaghaft hob die alte Dame das Netz mit den orangefarbenen Südfrüchten an.
„Die kosten einen Euro und neunundneunzig Cent. Dann kommt es hin.“ Die Kassiererin nahm die Ware entgegen und korrigierte den Rechnungsbetrag.
Nachdem Frau Kessler die verbliebenen Einkäufe im mitgebrachten Stoffbeutel verstaut hatte, verließ sie das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sie musste zu Fuß gehen, denn Geld für eine Busfahrkarte hatte sie nicht mehr. Eine gute Stunde brauchte sie, bis sie schließlich ihre Wohnung erreichte und nun spürte sie jeden einzelnen Schritt in ihren Knochen und Gelenken. Im Herbst war sie achtzig Jahre alt geworden und bei weitem nicht mehr so rüstig wie früher. Auch die Luft zum Atmen wurde immer knapper. Die alte Dame stellte die nur spärlich gefüllte Tasche auf den Küchentisch, setzte sich auf einen Stuhl und begann bitterlich zu weinen. Das zurückliegende Ereignis war ihr so peinlich wie nur selten etwas zuvor. Noch nie war es vorgekommen das sie in einem Geschäft an der Kasse gestanden und zu wenig Geld zum Bezahlen gehabt hatte. Und dabei hatte sie sich doch wirklich nur auf das Nötigste beschränkt. Brot, Butter, Milch, etwas Käse und Aufschnitt, ein paar Konserven sowie eine Dose löslichen Kaffee. Echten Bohnenkaffee hatte sie schon lange nicht mehr getrunken, denn auch wenn dieser im Sonderangebot war, überschritt der Preis ihr Budget. Selbst die Clementinen, die sie schließlich im Laden hatte zurücklassen müssen, wären purer Luxus gewesen. Sie hatte das Netz mit den Südfrüchten nur im Vorbeigehen und aus einem Gefühl nostalgischer Erinnerung an bessere Zeiten in den Einkaufswagen gelegt. Früher, als ihr Mann noch lebte und es ihnen wirtschaftlich noch besser ging, hatten sie in der Adventszeit immer jede Menge Clementinen gekauft und mit großem Appetit verzehrt. Sie hatte den süß-saueren Geschmack und den unverwechselbaren Geruch dieser Früchte schon immer geliebt und er war für sie stets ein Inbegriff des sich nähernden Weihnachtsfestes gewesen. Nie wäre ihr früher auch nur der geringste Gedanke daran gekommen das ein solch einfacher Genuss für sie einmal unerschwinglich werden würde.
Die Gedanken der alten Dame schweiften ab und wanderten immer weiter zurück in die Vergangenheit. Weihnachtstage, die schon lange hinter ihr lagen, wurden vor ihrem geistigen Auge wieder lebendig und zauberten nun das eine oder andere Lächeln auf das vom Weinen gerötete Gesicht. Während der ersten Weihnachtsfeste, an die sie sich erinnern konnte, hatte Krieg geherrscht. Sie war damals noch ein Kind gewesen und ihre Eltern hatten stets versucht das Grauen von Tod und Zerstörung so gut es eben ging von ihr fernzuhalten. Der Vater war als Soldat an der Front und ihre Mutter hatte daheim wahre Wunder vollbracht, um der kleinen Gerda trotz allem unbeschwerte Festtage zu bescheren. Die Geschenke waren damals karg ausgefallen und hatten eher praktischen Nutzen besessen. Gebrauchte und wieder aufgearbeitete Kleidung, warme Strümpfe und einmal sogar ein von Hand besticktes Taschentuch. Auch Äpfel und Nüsse, manchmal sogar ein paar harte Kekse und ein kleines Stück Schokolade hatte sie bekommen. Dankbar war sie immer gewesen, aber erst als sie selbst erwachsen war hatte sie nachvollziehen können welche Mühen es die Mutter gekostet haben mochte, in solch schweren Zeiten all diese Dinge herbeizuschaffen.
Auch die ersten Jahre nach dem Krieg waren noch von Entbehrungen und Bescheidenheit geprägt. Aber immerhin herrschte Frieden und man konnte sich sicher fühlen. Dann ging es aufwärts. Langsam zwar, dafür aber beständig. Mitte der fünfziger Jahren setzte schließlich das Wirtschaftswunder ein und die Weihnachtszeit wurde zunehmend opulenter. Die Regale in den Kaufhäusern und Supermärkten waren prall gefüllt mit allerlei Waren und Leckereien. Bereits im Advent gab es Lebkuchen, Spekulatius und Stollen im Überfluss. Anstelle von notdürftig zusammengeflickten Hosen und grob gestopften Socken aus dem Vorjahr lagen nun mehr und mehr bunt verpackter Schmuck, Parfüm, Spielzeug und elegante neue Kleider unter den Christbäumen. Zum Festmenü konnte man wählen zwischen Gänse- oder Entenbraten, Forelle, Kaninchen oder Wild. Je nach belieben - alles war in ausreichendem Maß vorhanden und vor allem konnten sich die Menschen diese Dinge auch leisten. Arbeit gab es genug und mit etwas Fleiß konnte man einen anständigen Verdienst erzielen und ein gutes Leben führen.
Dieser Aufschwung setzte sich auch im folgenden Jahrzehnt fort. Die frühen sechziger Jahre waren für Gerda Kessler die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie hatte einen Mann kennen gelernt, sich verliebt und schließlich geheiratet. Es wurden neue Möbel und ein Auto angeschafft. Einen Urlaub in Italien hatten sie sich ebenfalls leisten können und trotz all dieser Ausgaben blieben an jedem Monatsende immer noch ein paar Mark übrig, die auf ein Sparbuch eingezahlt wurden. An das erste Weihnachten in der ersten gemeinsamen Wohnung erinnerte sie sich noch lebhaft. Dieses Fest war etwas ganz besonderes gewesen. Im kleinen Wohnzimmer hatte eine viel zu große Tanne gestanden, die über und über mit Lametta, silberfarbenen Kugeln, Zapfen und Glocken geschmückt gewesen war. Einen Fernseher hatten sie damals noch nicht besessen, wohl aber eine Musiktruhe. Zur Bescherung am Heiligen Abend hatte ihr Mann eine Schallplatte von Freddy Quinn aufgelegt und während sie „Stille Nacht, heilige Nacht“ hörten, kuschelten sie sich auf dem Sofa aneinander und betrachteten den im warmen Kerzenschein glitzernden Weihnachtsbaum. Die besagte Schallplatte und auch einige Teile der Dekoration besaß die alte Dame noch heute. Sie waren in Kartons verpackt und lagerten im Keller, denn einen Baum, den sie damit hätte schmücken können, konnte sie sich dieser Tage nicht mehr leisten.
Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre waren dann ihre Kinder zur Welt gekommen. Ein Sohn und eine Tochter hatten das Familienglück vervollständigt. Wie zu dieser Zeit üblich, war Gerda Kessler damals Hausfrau und Mutter gewesen und keiner eigenen Berufstätigkeit nachgegangen.
Ihr Mann verdiente als Angestellter in einem großen Unternehmen genug Geld, um die Familie allein versorgen und den Lebensstandard sichern zu können. Zwar war die Erziehung von zwei Kindern für sie mit viel Arbeit verbunden, gerade zur Weihnachtszeit aber bereitete der Nachwuchs ihr auch sehr viel Freude. Den Anblick der großen leuchtenden Augen, die zum ersten Mal im Leben einen mit Süßigkeiten gefüllten Nikolausstiefel erblickten, hatte sie tief in ihr Herz geschlossen. Auch die unzähligen Stunden, die sie mit den Kleinen in der Küche beim Plätzchenbacken und dem Basteln von Strohsternen und Lebkuchenhäusern verbracht hatte, würde sie nie vergessen. Und dann waren da noch die Großeinkäufe in den Discount Märkten gewesen. Jedes Jahr zu Beginn der Adventszeit hatte sie Pakete für die Verwandtschaft in der DDR gepackt. Kistenweise wurden für diesen Zweck Kaffee, Schokolade, Kakao und Backzutaten benötigt. Dazu kamen oft noch gute Kleidungsstücke, aus denen die eigenen Kinder herausgewachsen waren, sowie der eine oder andere Geldschein. Letzteres war zwar offiziell verboten, aber sorgsam zwischen dem Inhalt der Pakete versteckt, fanden auch diese Zuwendungen regelmäßig ihre Adressaten. Für Gerda Kessler war es jedes Mal unfassbar gewesen wie viel Freude diese Gaben den Empfängern bereiteten und wie sehr diese einfachen Dinge des Lebens in der sogenannten Ostzone doch gebraucht und begehrt wurden. In diesen Momenten wurde ihr stets bewusst das ein Leben in relativem Wohlstand nicht für alle Menschen eine Selbstverständlichkeit darstellte. Gerührt war sie auch immer wenn im Gegenzug ein Ostpaket bei ihnen eintraf. Obwohl die Verwandtschaft in der DDR selbst nicht viel besaß, schickten sie was gerade erschwinglich war. So bekamen sie regelmäßig echten Dresdner Christstollen, hölzerne Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge und für die Kinder handbemalte Cowboy- und Indianerfiguren aus Hartgummi. Von letzteren war über die Jahre hinweg eine stattliche Sammlung entstanden, mit der später noch die Enkelkinder gespielt hatten.
So verging die Zeit und die siebziger und achtziger Jahre zogen ins Land. Die Kinder wurden allmählich erwachsen und begannen auf eigenen Füßen zu stehen, während sie und ihr Mann sich dem Rentenalter näherten. Mitte der Neunziger war es schließlich soweit und ihr Mann trat in den Ruhestand. Zwar war die gesetzliche Altersgrenze noch nicht erreicht, aber seine Gesundheit spielte nicht mehr mit. Durch diesen Umstand hatte sich das monatliche Einkommen der Kesslers nahezu halbiert. Nichtsdestotrotz waren sie zufrieden, denn sie hatten immer den Rat der Eltern befolgt: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“ Ein Vermögen war auf diese Weise nicht entstanden, das Geld reichte jedoch um weiterhin alle Rechnungen bezahlen und ein auskömmliches Leben führen zu können. Kurz darauf wurde ihr erstes Enkelkind geboren. Es war ein Mädchen und der ganze Stolz der Großeltern. Die Fürsorge und Erziehung dieses Kindes lag nun in den Händen von Tochter und Schwiegersohn und Gerda konnte sich als Oma voll und ganz darauf konzentrieren die kleine Prinzessin nach Strich und Faden zu verwöhnen. Das tat sie auch, mit ganzem Herzen und voller Leidenschaft. In der folgenden Zeit kamen noch zwei weitere Enkelkinder hinzu, die von ihr ebenso geliebt wurden. Vor zwei Jahren jedoch hatte ein Schicksalsschlag ihr Leben tiefgreifend verändert. Nach mehr als fünfzig gemeinsamen Jahren war ihr geliebter Ehemann verstorben. Es war ein unerwarteter Tod gewesen, denn trotz seiner Erkrankung hatte sich ein so plötzliches Ende nicht abgezeichnet. Dennoch war ihr kaum Zeit zum Trauern geblieben. Die letzten finanziellen Reserven hatte sie für die Beerdigung aufwenden müssen und mit dem Bezug von Witwenrente hatte sich ihre finanzielle Situation drastisch verschlechtert. Ihren Kindern wollte sie damit aber nicht zur Last fallen und um Geld zu sparen war sie in eine kleinere und günstigere Wohnung gezogen. Vor diesem Hintergrund hatte sie sich von vielen liebgewonnenen Erinnerungsstücken trennen müssen. Trotzdem reichte das Geld kaum zum Leben. Wenn Miete, Telefon, Strom- und Heizkosten bezahlt waren blieben ihr nicht mal vierhundert Euro im Monat. Dennoch gab es Dinge, auf die sie trotz allem nicht verzichten konnte. So legte sie jeden Monat einen festen Betrag zur Seite, um zumindest ihren Enkeln zu Geburtstagen und an Weihnachten eine kleine Freude bereiten zu können. Die drei waren inzwischen schon fast erwachsen und die Älteste war im Sommer nach Süddeutschland gezogen, um dort Medizin zu studieren. Gerda Kessler wusste das auch junge Menschen es nicht immer einfach hatten und gerade während der Ausbildung jeden Euro gut gebrauchen konnten. Zudem hatte die Familie für sie stets an erster Stelle gestanden und daran sollte sich in den letzten Jahren, die ihr noch blieben, auch nichts mehr ändern. Eher würde sie sich noch mehr vom Mund absparen und eigenen Verzicht üben, bevor sie irgendwann einmal mit leeren Händen vor den Menschen stand, die sie am meisten liebte.
So endete ihre gedankliche Reise durch die Erinnerungen vieler Jahrzehnte. Nachdem der eine oder andere Rückblick sie zum Lächeln gebracht hatte, musste sie nun wieder weinen. Es war kein Selbstmitleid, sondern eher eine tiefe Traurigkeit darüber nichts an der eigenen Situation ändern zu können.
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Die alte Dame schreckte hoch und wischte sich hastig über das Gesicht. Besuch erwartete sie nicht und so konnte es nur der Postbote sein, der etwas bei ihr abgeben wollte. Als sie die Tür öffnete war sie mehr als überrascht. Vor ihr stand der junge Bursche, der sie noch vor gut zwei Stunden an der Supermarktkasse unsanft zur Eile gedrängt hatte. In seinen Händen hielt er eine flache Holzkiste, in der sich insgesamt sechs Beutel Clementinen befanden.
„Tut mir leid wenn ich störe, aber ich möchte mich gerne für mein Verhalten von vorhin entschuldigen. Ich bin ihnen nachgegangen, war aber zu feige sie schon auf der Straße anzusprechen. Wissen sie, ich habe selbst eine Großmutter, die in ihrem Alter sein müsste und hätte allein schon aus diesem Grund etwas mehr Geduld und Respekt haben sollen. Bitte nehmen sie dieses kleine Geschenk als Wiedergutmachung und Zeichen meines Bedauerns an.“
Erneut rannen Tränen über Gerda Kesslers Wangen. Dieses Mal waren es jedoch Tränen der Freude und der Rührung über eine solch nette Geste. Mit so etwas hätte sie nie im Leben gerechnet. In den folgenden Tagen dachte sie bei jeder einzelnen Clementine, die sie aß, an den jungen Mann und daran, dass es wohl doch noch so etwas wie Menschlichkeit in einer immer egoistischer werdenden Welt gab.