Also ist nicht die Neigung das Problem, sondern das diese eben nicht der Norm entsprechen.
Wobei hier vielleicht auch mal ein paar Gedanken über das "Normale" angebracht wären. Normal ist etwas ja zunächst einmal nicht, weil es mit einer bestimmten Moral konform geht, sondern das Normale ist schlicht Statistik. Es gibt die bekannte Gauss-Glocke, die Normalverteilung: Alles, was oben zur Kuppel gehört, wird von einer größeren Mehrheit als "normal" betrachtet. Wo dann allerdings rechts und links der Schnitt zu den Extremwerten gemacht wird, das ist je nach Intention unterschiedlich.
Solche Schnitte machen Gesetzgeber, solche Schnitte machen Moralisten, solche Schnitte macht in seinen unwillkürlichen Einschätzungen jede und jeder. Solche Schnitte sind selten symmetrisch ... je mehr jemand zum einen Rand tendiert, wird er mit dem Schnitt zwischen "akzeptabel" und "nicht akzeptabel" großzügiger und dafür am entgegengesetzten Rand umso rigoroser verfahren. Beispiel hier: BDSM-Praktiker sehen die Grenze zum nicht zu Tolerierenden sehr weit draußen an ihrem Rand der Glocke, dafür orten sie schon sehr früh auf der anderen Seite der "Moralisten" eine unzulässige Beschneidung ihrer Freiheit zur Lebensgestaltung. Umgekehrt ist das genauso, und anzunehmen, es könnte "mit etwas gutem Willen" anders sein, halte ich für ebenso blauäugig wie auch unerwünscht ... seien wir froh über eine Meinungsvielfalt und fürchten wir uns davor, dass alle einer Einheitsmoral folgen, selbst wenn es unsere eigene wäre ... ;-)
Was die Kindheit anlangt, da orte ich hier reichlich Schwarzweiß-Denken. Nach meinem nicht völlig unfundierten Überblick über die tiefenpsychologischen Schulen gehört zu den wenigen Gemeinsamkeiten, dass die Bedeutung von sehr frühen und frühen Kindheitserfahrungen hoch eingeschätzt wird ... bei Psychoanalytikern in der (mehr oder weniger) Freud-Gefolgschaft sowieso, bei den Bindungstheoretikern à la Melanie Klein & Co. (die ich bei der Suche nach Erklärungsmodellen für normdeviante Verhaltensweisen für recht ergiebig halte), bei Entwicklungspsychologen frei nach Piaget ...
Kindheit ist allerdings ein sehr durchmischter Prozess, und ich muss nicht erst in die Analyse gehen, um zu sehen, dass sehr oft das Traumatische und das förderlich Gedeihliche ganz dicht beieinander liegen. Man darf Trauma nicht kurzschlüssig als Missbrauch verstehen ... da gibt es eine breite Palette von Traumatischem, das in den "glücklichsten Kindheiten" Platz haben kann. Es gibt auch keine triviale Kausalität, wonach schweres Trauma zu schweren Störungen und leichtes Trauma zu leichten Störungen führen würde ... und es ist auch nicht von vornherein auszumachen, was für das einzelne Kind sich später (!) als schweres und was als leichtes Trauma herausstellt. Ich stimme Franz_66 in dem einen Punkt zu, dass wesentliche Kindheitserfahrungen unbewusst bleiben (was nicht nur Traumata anlangt) ... dabei geht es ja nicht ums anekdotische Nacherzählen, "wie das damals war", nicht um Faktenwahrheit, sondern um die Dynamik innerer Prozesse, die in Interaktion mit exogenen Faktoren stehen.
Ich neige selbst eher zur systemischen Psychologie mit konstruktivistischem Hintergrund und meine (mit Watzlawick, de Shazer, Schmidt e.a.), dass ich noch keinen einzigen Schritt zur Lösung getan habe, wenn ich die Ursache eines Problems erkenne ... wobei solches Erkennen von "Ursachen" m.E. ohnedies auch nur ein Konstrukt sein kann und im komplexen Strickmuster von Verhalten grad mal einen Strang herausgreift ... "Der Glaube an den Kausalzusammenhang ist DER Aberglaube" (Wittgenstein). Außerdem, de Shazer provokant: "Um eine Lösung zu finden, muss ich nicht die Ursachen des Problems kennen!" Und vor allem meine ich mit Gunther Schmidt: "Wer ein Problem hat, der hat ein Problem!" ... das Problem sind also, wenn ich eins habe, nicht "die anderen", sondern zunächst einmal mein Zugang zu einer Wahrnehmung, die etwas als problematisch bewertet.
Der TE hat - nach meinem Empfinden - sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass ER mit seiner erotischen Verhaltenspräferenz ein Problem hat. Er hat nicht "die Neigung" (was immer das sein mag) diffamiert, und er hat schon gar nicht andere heruntergemacht, die ähnlichen Neigungen folgen. Er hat lediglich formuliert (und das leider nicht gar so klar), dass ER ein Problem damit hat und darunter leidet, vermutlich eher am Suchtcharakter als an "der Neigung", die ihm ja durchaus Lust verschafft. Und er hat auch, u.a. von Rubberinchen und von mir, Zuspruch bekommen, sich da um eine Therapie umzuschauen, Rubberinchen hat ihm sogar angeboten, ihm da
Kontakte zu vermitteln.
In keiner Weise war damit ein Appell verbunden in der Art von "Solche Schweinereien sind pervers und gehören zwangstherapiert!", und es war zunächst auch (von den Dummheiten der üblichen Verdächtigen einmal abgesehen) nicht die Rede davon, BDSM generell an den Pranger zu stellen. Dass es auf dem kurzen Weg zum Missverständnis kam, eine Therapieempfehlung im konkreten Einzelfall des TE würde bedeuten, es gehörten eigentlich alle BDSM-Afficionados auf die Couch des Therapeuten, ist bedauerlich und u.a. aus den interessengebundenen Schieflagen der Normalverteilung (s.o.) zu erklären.
Und wenn ich schon dabei bin ... L4Y, selbstverständlich ist nicht die Neigung das Problem. Zum Problem wird ein Verhaltensmuster durch die Haltung, die ich dazu einnehme, unwillkürlich oder willkürlich.
Wenn ich damit kein Problem habe, erübrigt sich eh jede Frage nach Veränderung.
Wenn ich ein Problem damit habe, dass andere ein Problem mit mir haben, dann habe ich ein Problem ... und das kann ich mir anschauen.
Nobody's everybody's Darling ... wie komme ich mit meiner Eigenart klar, die mich vom Anderen unterscheidet? Dafür gibt es viele bewährte Muster (und mein eigenes Muster kann ich - wenn ich's nicht selber auf die Reihe bringe, in einer guten Begleitung - überprüfen und auf der Basis meiner eigenen Bedürfnisse und Ressourcen modifizieren) ... ein hilfreicher Ansatz ist es, an der eigenen Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu arbeiten und diese Toleranz nicht nur einzufordern.
Ein weiterer hilfreicher Ansatz ist, mich neugierig und offen zu halten und meiner selbst auch dann gewiss zu sein, wenn ich es riskiere, bisherige Denk- und Verhaltensweisen im Licht neuer Wahrnehmungen zu überprüfen ... dabei z.B. wird eine "gute gebundene" Kindheit vermutlich unterstützend wirken (ohne dass ich irgendetwas über sie wissen muss).
Und dergl. mehr ... war eh schon wieder so ein wenig geschätzter "Roman" ... dafür schätze ich die Leute, die Sinn erfassend zu lesen verstehen und sich mental nicht nur von Schlagzeilen ernähren, wie sie in der U-Bahn aufliegen.