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Sayragul Sauytbay
Bericht aus Chinas geheimen Lagern
Seit das Internationale Netzwerk Investigativer Journalisten (ICIJ) 2019 Geheimdokumente veröffentlicht hat, weiß man von der systematischen Verfolgung muslimischer Uiguren in Chinas Provinz Xinjiang. Sayragul Sauytbay, die in einem Lager als Lehrerin Zwangsarbeit leisten musste und floh, liefert einen erschütternden Bericht über die systematische Ermordung zahlloser Angehöriger muslimischer Minderheiten.
04.07.2020 23.27
Online seit gestern, 23.27 Uhr
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Es ist die weltweit größte Menschenrechtsverletzung, die sich gerade in der nordwestchinesischen autonomen Region Xinjiang abspielt. Angehörige von muslimischen Minderheiten, vornehmlich der Uiguren und Kasachen, werden aufgrund von konstruierten Beweisen und erpressten Denunziationen als „Spione“ oder „Feinde Chinas“ in Straflagern interniert, gefoltert und zu willfährigen Unterstützern der kommunistischen Regierung „umerzogen“.
Über die genauen Zahlen herrscht Uneinigkeit. Doch es ist nebensächlich, ob es eine Million Menschen sind – in dieser Höhe bewegen sich Expertenschätzungen – oder mehr als drei Millionen, wie Sauytbay hochrechnet. Sauytbay ist eine ehemalige Ärztin, Lehrerin und Kindergartendirektorin und Angehörige der kasachischen Minderheit. Sie konnte dem „kulturellen Genozid“ in Xinjiang entkommen und erhielt in Schweden politisches Asyl.
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Sayragul Sauytbay im ORF-Interview
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5:11
Zukunftsversprechen und Bildungschanchen
Auf Basis ihrer Erzählungen hat die deutsche Journalistin Alexandra Cavelius den Bericht „Die Kronzeugin“ verfasst, der anhand von Sauytbays Lebensgeschichte die zunehmende Bedeutung Ostturkestans – so nennt Sauytbay ihre Heimat – bzw. Xinjiangs (Chinesisch: „Neue Grenze“) in Pekings Politik schildert.
Sauytbay wurde 1977 geboren und erlebte ihre Kindheit als weitestgehend frei. Die Kasachen Ostturkestans lebten nach ihren jahrhundertealten Traditionen, sprachen ihre Muttersprache und übten ihre Religion aus, die neben einer moderaten Auslegung des Islam auch naturreligöse Einflüsse hat. In den 1980er Jahren wurde die Familie sesshaft. Die „sanfte“ Assimilierung unter chinesischer Herrschaft äußerte sich zunächst darin, dass Han-chinesische Familien angesiedelt wurden und versucht wurde, die Repressalien der Mao-Zeit vergessen zu machen.
Abgesehen davon versprach sich Sauytbay Wohlstand durch Ausbildung und Leistungsbereitschaft, ideologische Versprechungen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), die sich anfangs durchaus erfüllten. Sie studierte Medizin, lernte Chinesisch und verdiente gut. Allerdings beschreibt sie schon für diese Zeit einen grassierenden Alltagsrassismus, die sie von Kollegen trotz ihrer Bildung und sozialen Stellung zu spüren bekam.
Rohstoffe und „Sinisierung“
Um die Jahrtausendwende begann Peking, die Bodenschätze Xinjiangs wie Erdöl, Uran, Gold, Eisenerze und die großen Kohlevorkommen systematisch auszubeuten – ohne Rücksicht auf den Lebensraum der Kasachen und Uiguren oder Ökologie. Zusätzlich begann die zunehmende Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppen. Höhere Verwaltungsposten wurden nur noch an Chinesen vergeben, viele gut ausgebildete Kasachen und Uiguren verloren ihre Arbeit.
Europaverlag Sayragul Sauytbay und Alexandra Cavelius: Die Kronzeugin. Europa Verlag, 352 Seiten, 22,70 Euro.
Hinzu kam kulturelle Zensur: Sauytbay schildert ein harsches Verbot der Minderheitensprachen. Zu dieser Zeit war sie bereits in den Schuldienst gewechselt und zum ersten Mal Mutter geworden. Die Schüler durften bald nur noch auf Chinesisch unterrichtet werden. Diese zunehmenden Repressionen wurden von Peking durch zwei Erzählungen gerechtfertigt.
„Faul und unkultiviert“
Die erste lautete, dass die Minderheiten faul und unkultiviert seien und erst durch die Erziehung zum Chinesischen zu Bildung und Wohlstand kommen könnten. Die zweite Erzählung, die nach dem Terroranschlag auf die Twin Towers in New York 2001 immer stärker forciert wurde, lautete, dass die muslimische Bevölkerung von potenziellen Attentätern durchsetzt sei.
Es war diese Erzählung, die zum Vorwand für die Verfolgung einer ganzen Bevölkerungsgruppe wurde. Besonders ab 2009, das Jahr, in dem Tausende Uiguren begannen, in Großdemonstrationen in der Stadt Urumqi gegen die Repressalien aufzubegehren. Bei den Vergeltungsmaßnahmen, einer „Säuberungsaktion“, wurden in den darauffolgenden Tagen gezielt Uiguren und Kasachen auf den Straßen und in Geschäften ermordet.
Im Staatsfernsehen, so Sauytbays Bericht, wurde nur vom Kampf gegen uigurische „Terroristen“ berichtet. Dieser vermeintliche Anti-Terror-Kampf war die Grundlage für eine brutal betriebene „Sinisierung“ Xinjiangs, die schließlich in das System der Inhaftierungen in Lagern mündete.
Brutale Verfolgung und totale Kontrolle
Sauytbay beschreibt, wie ihr zweitgeborener Sohn eines Tages unter Weinkrämpfen den Kindergarten verweigerte. Die Mutter erfuhr schließlich, dass ihrem Sohn dort den ganzen Tag über der Mund mit Klebeband verschlossen wurde, wenn er auch nur ein Wort auf Kasachisch sagte.
Ähnlich brutal ging es in Sauytbays Schule zu. Die Lehrer wurden von KPCh-Kadern dazu gedrängt, ihre Kollegen zu denunzieren, Sauytbay muss umfangreiche Dokumentationen über ihre Mitarbeiter zusammenstellen, zunehmend wird sie in einer Kultur von Überwachung, Verhör und Drohung unter Druck gesetzt.
Ganze Region als „Freiluftgefängnis“
Eines Tages wurde es Sauytbay zu viel, sie beschloss, mit ihrer Familie nach Kasachstan zu fliehen. Doch da ihr Pass eingezogen wurde, musste ihr Mann mit den beiden Kindern zunächst allein fliehen. Sauytbay wurde deshalb zunehmend drangsaliert. Ihre persönlichen Nachrichten wurden kontrolliert, wie sich überhaupt Xinjiang in ein „Freiluftgefängnis“ verwandelte – alle hundert Meter ein Kontrollposten, Stacheldraht und Wachtürme rund um Schulen und Krankenhäuser, Verschleppungen waren an der Tagesordnung.
Ab 2016 hatte dieses System auch einen Namen: Chen Quanguo. Er wurde zum Parteisekretär von Xinjiang ernannt und hatte zuvor sieben Jahre lang in Tibet die dortigen kulturellen Eigenheiten bekämpft. Rasch setzte er seine Erfahrung im neuen Zuständigkeitsbereich ein.
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Genozid nach Stufenplan
Während eines Jahres wurde Sauytbay siebenmal in der Nacht von der Geheimpolizei abgeholt und verhört. Sie war sich sicher, bald in eines der Straflager gesteckt zu werden, von denen sie gehört hatte. Kaum eine Familie hatte noch keinen Angehörigen an dieses Internierungssystem verloren.
Außerhalb der Lager trieb das Unterdrückungssystem inzwischen viele in den Suizid. Eine der Repressalien sah vor, dass Mitglieder der Minderheiten acht Tage im Monat Zwangsarbeit bei chinesischen Familien verrichten müssen, vorgeblich, um deren kulturellen Eigenheiten kennenzulernen und „eine Familie“ zu werden. Die Frauen wurden damit der staatlich gebilligten Vergewaltigung durch die chinesischen Männer freigegeben, wie Sauytbay beschreibt.
Zeugin massenhafter Folterungen
Ende 2017 wurde Sauytbay schließlich auch in ein Lager gesteckt, zu ihrem Glück als Lehrerin. Sie sollte den inhaftierten angeblichen „Terroristen“ – von der über 80-jährigen Bäuerin bis zum Schulkind reichte die Palette – die chinesische Sprache und Kultur in Form von KPCh-Schriften einbläuen.
ORF/Europaverlag Eines der wenigen Fotos aus dem Inneren der Straflager, Teil der „China Cables“ und abgedruckt in „Die Kronzeugin“
Sie wurde Zeugin, wie Tausende Menschen systematisch gefoltert, vergewaltigt und fast bis zum Tode ausgehungert wurden. Viele kräftige junge Männer verschwanden plötzlich, Sauytbay sammelte Indizien, dass sie ermordet und ihre Organe auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden.
Geheime Strategie
Damit nicht genug. Sauytbay bekam Einsicht in Geheimdokumente, die den Genozid an ihrem Volk als Teil eines Stufenplans beschrieben, nach der „Assimilierung“ der Uiguren und Kasachen und der „Eliminierung“ derer, die sich nicht assimilieren lassen, stand darin die Besetzung der Nachbarländer, auch mit Hilfe von Wirtschaftsinitiativen, die als „Neue Seidenstraße“ bekannt sind.
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China-Export von Menschenhaar-Produkten
In der letzten Phase dieses Plans stand eine Besetzung Europas durch China, die für die Jahre 2035 bis 2055 angesetzt wurde. Viele der Passagen in Sauytbays Bericht will man beim Lesen nicht glauben, solche Fürchterlichkeiten stellen sie dar. Auch die Geheimdokumente will man für Fälschungen halten.
Allerdings decken sich ihre Beschreibungen mit Informationen aus anderen Quellen. So zeigen neue Berichte weitere erschütternde Maßnahmen, mit denen die chinesische Regierung Uiguren und Uigurinnen und andere muslimische Bevölkerungsgruppen unterdrückt. Frauen sollen in den dortigen Internierungslagern zu Sterilisation und Abtreibung gezwungen werden.
Chinas langer Arm
Sauytbay selbst wurde nach fünf Monaten Zwangsarbeit im Lager entlassen. Kurz darauf gelang ihr mit einem Schlepper die Flucht zu ihrer Familie in Kasachstan. Auch dort wurde sie regelmäßig vom chinesischen Geheimdienst bedroht, was sie „Chinas langen Arm“ nennt.
Diese Einschüchterungsversuche halten bis heute an, obwohl sie mit ihrer Familie in Schweden politisches Asyl bekommen hat. Cavelius’ Buch „Die Kronzeugin“ eröffnet mit Sauytbays Bericht das erste Mal eine umfangreiche und erschütternde Einsicht in unbeschreibliche staatliche Verbrechen.
Florian Baranyi, ORF.at
Links:
https://orf.at/stories/3172245/