Ein literarischer Adventkalender

Mitglied #75495

Power Mitglied
Männlich Hetero Österreich, Niederösterreich Dieser Benutzer hat 26 Checks Dieser Benutzer sucht keine Kontakte
Registriert
4.10.2007
Beiträge
35.230
Reaktionen
324.762
Punkte
2.656
Checks
26
Michael und Setayesh
von Gudrun Schagerl

1. Dezember

Verflixter Mist! Heute sollte ein schöner Tag sein! Früher habe ich mich immer sooo auf den Advent gefreut. Aber da war ich noch ein kleiner Bub. Der Adventkalender mit dem schönen Bild auf der Vorderseite und die darin versteckten Naschereien haben mich immer gefreut. Und jetzt?

"Michael, du bist doch schon zu groß für einen Adventkalender, oder? Und naschen tust du auch nicht mehr so gern. Also habe ich heuer keinen gekauft."
Eigentlich hätte ich schon noch gern einen gehabt. Aber vor meiner Mama wollte ich das nicht zugeben.

"Du kannst mir ja dafür zu Weihnachten mehr schenken", habe ich ziemlich mürrisch zu ihr gesagt.

"Warte ab!" war ihre Antwort. Warten war aber noch nie meine Stärke. Und so muss ich noch 14 Schultage oder drei langweilige Wochenenden hinter mich bringen bis endlich der Heilige Abend anbricht und die Weihnachtsferien beginnen!


Ich heiße Setayesh und bin elf Jahre alt. Ich gehe in die 1. Klasse Mittelschule.

Meine Eltern kommen aus Afghanistan und auch ich wurde dort geboren. Aber jetzt wohnen wir schon vier Jahre in Österreich. Ich kann schon recht gut deutsch sprechen und schreiben. Besser, viel besser als meine Eltern.

Mein Vater versteht viel, weil er schon seit ein paar Jahren hier arbeitet, aber er spricht nicht recht gut. Meine Mutter kann fast gar nicht deutsch. Sie kann keinen Deutschkurs besuchen, weil sie auf meinen kleinen Bruder aufpassen muss.

Ich habe noch einen Bruder, der in die Volksschule geht. Ich gehe sehr gern in die Schule. Die meisten Kinder und alle Lehrer sind sehr nett zu mir. Darum bemühe ich mich, alles richtig zu machen.

Oh, ich habe vergessen zu sagen, dass ich ein Mädchen bin!
 
2. Dezember

Gestern habe ich am Abend noch eine Idee gehabt. Weil mir meine Mama heuer keinen Adventkalender gekauft hat, habe ich mir selbst einen gebastelt. Ja, aber einen besonderen! Es ist einer zum Abstreichen der Tage.

Auf einen Karton habe ich die Zahlen von 1 bis 24 geschrieben und die erste Zifffer gleich wieder durchgestrichen. Und heute früh war die zweite an der Reihe. So sehe ich gleich, in wie viel Tagen Weihnachten ist. Und wie viele Tage ich vorher noch in die Schule gehen muss.

Die Schule ist für mich so eine Sache. Ich mag sie einfach nicht! In den meisten Unterrichtsstunden ist mir langweilig. Eigentlich mag ich nur Turnen und Werken. Vielleicht noch Biologie. aber die anderen Fächer interessieren mich nicht.

Wenigstens treffe ich meine Freunde dort. Leider geht mein bester Freund aus der Volksschulzeit nicht mehr mit mir. Johannes musste ja unbedingt ins Gymnasium. Ohne mich! Aber er mag halt das Lernen und die Schule. Wir treffen uns jetzt seltener. Früher gingen wir beide in die Musikschule. Aber ich habe mit dem Flötenspielen aufgehört. Ich gehe lieber in den Fußballverein. Das taugt mir!


In Afghanistan waren die Lehrer viel strenger als hier. Aber sonst kann ich mich nicht mehr gut an die Schulzeit dort erinnern.

Hier gefällt mir alles. In Englisch und Mathematik gehöre ich zu den besten. In Deutsch gibt es schlechtere Schüler als ich es bin. Und alles andere interessiert mich auch sehr. In Turnen bin ich nicht sehr gut, denn in Afghanistan dürfen sich die Mädchen nicht so viel im Freien bewegen. aber Ballspielen macht mir viel Spaß.

Gestern sagte meine Deutschlehrerin zu mir: "Setayesh, wenn du weiter so gute Fortschritte machst, solltest du dir überlegen, ins Gymnasium zu wechseln!"
Ich soll in eine andere Schule gehen? Na, ich weiß nicht. Hier geht es mir gut. Ich werde einmal mit meinen Eltern darüber sprechen. Ich glaube, es ist ihnen recht, so wie es jetzt ist. Mal sehen.
 
3. Dezember


Ich habe schon von meinem Freund aus der Volkschule erzählt: Johannes kam bis voriges Schuljahr einmal in der Woche nach dem Unterricht zu mir nach Hause. Schnell machten wir die Hausübung und wenn es schön genug war, spielten wir dann Fußball. Manchmal bei uns im Garten, manchmal gingen wir auf den Kinderspielplatz. Bei Schlechtwetter spielten wir mit der Kleinbahn, die bei uns im Keller steht. Allein macht das keinen Spaß, ich habe ja keineGeschwister. Zu zweit aber ist es lustig.

Anschließend gingen wir zur Musikschule in die Flötenstunde. Johannes blieb bei mir im Unterricht und dann noch in seiner Stunde, weil er schon ein Jahr länger lernt. Schade, dass wir uns jetzt nicht mehr so oft treffen. Mit ihm war es viel lustiger als mit meinen Freunden vom Fußballclub. Dort wird nämlich viel gestritten und das mag ich nicht. Jeder glaubt von sich, er sei der beste Fußballer. Dabei sieht doch ein Blinder, dass ICH das bin! Haha, das habe ich jetzt nicht ganz ernst gemeint!

Vielleicht besuche ich Jojo wieder einmal. Ob wir uns noch so gut verstehen wie früher?


Mein Bruder Ahmad und ich wurden in Afghanistan geboren, Elias hier in Österreich. An mein Geburtsland kann ich mich auch deshalb nicht mehr gut erinnern, weil wir in den Iran geflüchtet sind, als wir Kinder noch klein waren. Dort haben wir Verwandte: die Eltern meiner Mama, den Bruder von meinem Papa und seine Familie.

Papa ist eigentlich Maurer, aber er hat als Fliesenleger arbeiten müssen. Das gefiel ihm nicht gut und er wollte nicht bleiben. Zurück nach Afghanistan konnten wir nicht, denn dort gibt es Krieg und viele Menschen sterben.

Papa hatte gehört, dass es in Europa viel besser sei. Meine Eltern überlegten lange, ob wir weggehen sollen. Dann verkauften sie alles, was sie hatten, und wir machten uns auf den Weg.
 
4. Dezember

Jetzt weiß ich, dass ich Johannes so bald wie möglich besuchen werde. Heute hatten wir Fußballtraining in der Halle. Nach den Ballübungen machen wir immer ein Übungsmatch. Ich bin meistens im Sturm, obwohl wir natürlich alle Positionen ausprobieren dürfen. Aber ich bin nun einmal der beste Torschütze. Nur heute ist mir einfach nichts gelungen. Fünf sichere Torchancen habe ich vermasselt. Dreimal schoss ich neben oder über das Tor, einmal an die Stange und einmal hat Sebastian, der sonst nie fängt, den Ball gehalten. Meine Mannschaft verlor natürlich. Dann schimpften meine "Freunde" mit mir und sagten, dass ich schuld an der Niederlage sei.

"Du weißt doch, wie gut die anderen Mannschaften spielen! Wie sollen wir beim Neujahrsturnier gewinnen, wenn du so schlecht schießt? Dann wirst du eben nicht eingesetzt!" So eine Gemeinheit! Der Trainer nahm mich zwar in Schutz, aber auch nur halbherzig. Denen werde ich es zeigen! Jeder kann doch einmal einen schlechten Tag oder einfach nur Pech haben!


In Österreich ist es wirklich schön. Hier müssen wir keine Angst haben. Ich weiß noch, dass Mama in Afghanistan oft geweint hat.

Ich habe viele Schulfreundinnen: Tuka, Johanna, Andi und Kathrin. Tuka kenne ich schon aus der Volksschule. Sie kommt aus Syrien. Mit ihr treffe ich mich manchmal am Nachmittag. Wir gehen spazieren. Wir lachen viel, weil Tuka sehr lustig ist. Die anderen Mädchen treffe ich nur in der Schule, weil sie im Nachbarort wohnen. Manchmal muss ich meinen kleinen Bruder Elias zum Spazierengehen mitnehmen. Tuka und er mögen sich sehr. Mir folgt er nicht, auch Mama nicht immer, nur Papa. Und dem immer!

Mein Bruder muss nie auf Elias aufpassen. Das ist ungerecht! Er muss auch nie im Haushalt helfen. Von Johanna weiß ich, dass das bei ihnen in der Familie nicht so ist. Da müssen auch die Buben helfen. Ob es bei allen Österreichern so ist?
 
5. Dezember

Heute ist mein liebster Wochentag, denn wir haben am Nachmittag eine Doppelstunde Turnen. Wie bekannt, ist das mein Lieblingsfach. Aber heute hatte ich Pech im Turnunterricht. Und das kam so:

Wir haben einen ziemlich großen Turnsaal in unserer Schule. Und deshalb müssen ihn oft zwei Gruppen benutzen. Heue waren je eine Buben- und eine Mädchengruppe gleichzeitig dran. Wir machten gemeinsam einen Hindernislauf. Das kann ich gut. Darin bin ich ziemlich schnell und geschickt.

Vor mir war ein Mädchen aus der Parallelklasse, das so langam war, dass sie mich behinderte. Ich lasse mich aber nicht aufhalten! Beim Klettern auf der Sprossenwand wollte ich sie überholen und da ist es passiert! Obwohl ich nur an ihr vorbeikletterte, stürzte sie von ziemlich weit oben zu Boden! Leider fiel sie auf den Kopf und blieb liegen. Ich bemerkte es gar nicht gleich. Erst als die beiden Lehrer zu ihr liefen, blieb ich stehen. Da sie nicht gleich auf die Fragen der beiden Lehrer reagierte, riefen sie die Rettung. Jetzt ist sie zur Untersuchung im Krankenhaus. Ist das Mädchen so ungeschickt oder bin ich vielleicht schuld an dem Unfall?


Ich liege im Krankenhaus. Ich habe Schmerzen.

Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Nur dass ich im Turnsaal auf dem Boden lag. Dann erinnere ich mich an zwei Männer vom Roten Kreuz. Sie brachten mich ins Spital. Dort wurde ich untersucht. Mein Kopf wurde geröntgt. Der Arzt sagte, dass ich nicht schwer verletzt sei. Aber ich muss vielleicht ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.
Ich bin müde und traurig.
 
6. Dezember

Juhuu! Schon ein Viertel der Zahlen auf meinem Adventkalender sind durchgestrichen! Und am Abend bekomme ich ein Nikolaussackerl. Auch nicht schlecht.

Aber jetzt muss ich vom gestrigen Sportunfall berichten. Das Mädchen, das sich dabei verletzte, heißt Setayesh oder so ähnlich. Heute in der großen Pause nahm mich unser Sportlehrer zur Seite und sagte mir, dass das Mädchen noch zur Beobachtung im Krankenhaus sei. Da bekam ich einen ganz schönen Schreck. Das heißt ja, dass sie schwer verletzt ist, oder? Und Herr Sedlak ermahnte mich:

"Dein Ehrgeiz in Ehren, Michael, aber übertreib nicht! Nimm nächstes Mal Rücksicht auf die anderen. Du willst doch niemand verletzen!? Deine Schulkollegin hat immerhin eine leichte Gehirnerschütterung."

Natürlich will ich niemandem weh tun. Aber hoffentlich bin ich beim nächsten Wettkampf nicht wieder hinter so einer lahmen Ente dran.

Als ich das am Abend meiner Mama erzählte, meinte sie, ich hätte kein Verständnis für unsportliche Menschen. Stimmt!


Geschlafen habe ich gut, aber ich habe Kopfweh. Der Unfall im Turnunterricht tut mir leid. Hätte ich doch dem Buben beim Klettern Platz gemacht! Der kann sehr gut turnen und ich habe ihn aufgehalten. Aber mich von der Sprossenwand zu drängen, das hätte er auch nicht tun sollen.
Wer hilft Mama jetzt beim Kochen und mit Elias? Ich mache mir Sorgen. Hoffentlich darf ich bald nach Haus.
 
Zurück
Oben