Steirer-Stüberl

in mein Enthusiasmus nach der gschicht vom Schatz (der tant) hab i die ganzen 20 Seiten nachglesen und immer no mit feuchte augen muass i jetzt fragen:

Steirerbua derf i bitte eintreten ins steirerstüberl und warum is da in letzter zeit so leer?
 
Was für ein schöner, heimeliger, besinnlicher Thread, danke für den Wink hierher, Steirer! Hab ihn in Ruhe stückerlweise gelesen und dabei mit Sicherheit den Eindruck ernsthafter Arbeit am Urlaubstisch erweckt. :engel:

Ich liebe es, die Erinnerungen anderer zu lesen/hören, es schafft so ein Gefühl von Verbundenheit. Ich möcht im Lauf der Zeit auch das eine oder andere Erlebte hinzufügen, ich hab auch schöne, nachdenkliche Erinnerungen, und ich hoffe, daß andere hier das auch tun werden.

Heute am letzten Urlaubstag nur ein paar lose Gedanken, weil pickats Beitrag zum Thema Glauben so frisch gelesen am stärksten präsent ist.


Ich glaub nicht an Gott. Aber er und vor allem Jesus waren etliche Jahre präsent, so wie spürbare, lebendige Wesen, die immer bei mir waren. Mit Jesus hab ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht, ich stand mit ihm in ständigem Austausch, mit ihm hab ich alle Gedanken, jede Gefühlsregung geteilt, es gab nichts, was er nicht von mir wußte. Meistens tröstlich, ich war nicht allein mit ihm. Manchmal auch beschämend, wenn ich zweifelte oder traurig war oder unanständige Gedanken hatte... :oops:

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich ihn verloren hab: das war nach einer längeren Zeit im Keller, in dem ich sein mußte, um den Diebstahl einer Breze zu gestehen. Ich war ziemlich verzweifelt, weil ich wußte, daß ich unschuldig war, und weil ich immer wieder aufgefordert worden war, eines meiner (Pflege-)Geschwister zu benennen, der oder die diesen Diebstahl begangen und boshafterweise diese Brezel unter den Schreibtisch im Mädchenzimmer deponiert hatte. Ich konnte und mochte mir niemanden aus der Familie vorstellen, der so gehandelt hätte.

Als ich also so im Keller saß und ich hörte, daß 'Mutti' wieder einmal auf dem Weg zu mir herunter war, dachte ich wie so oft: "Lieber Jesus, bitte, was soll ich machen, gib mir doch bitte eine Erinnerung oder eine Erklärung, wie diese Brezel unter meinen Schreibtisch gekommen ist, irgendwas", und mir war auf einmal, als hätte er mich umarmt, ich wußte plötzlich, wie ich beweisen konnte, daß ich unschuldig war, ohne jemanden bezichtigen zu müssen. Und als 'Mutti' wieder fragte, ob ich immer noch leugnen wolle oder ihr sagen könnte, wer den Diebstahl begangen hätte, sagte ich ihr: "Nein, ich weiß nicht wie die Brezel da hingekommen ist, aber Gott ist mein Zeuge, daß ich sie nicht genommen habe". Ich war davon überzeugt, daß das der eindeutigste, unwiderlegbarste Beweis für meine Aufrichtigkeit war, den es überhaupt geben konnte. Den Glauben an Gott und Jesus hatte ich von der Pflegemutter, sie war ja Pfarrerstochter und sehr gläubig, sie hatte uns viel von Jesus erzählt, so lebendig, daß es für mich nie einen Zweifel an seiner Existenz gegeben hat. Wie hätte sie mir also nicht glauben sollen?

Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als sie zu lachen anfing und sagte: "Mein Gott, du Märtyrer!"

Nur das. Ich bin erstarrt, ich konnte nicht glauben, was sie sagte, ich dachte, sie lästert Gott, sie wagt es, ihn als Zeugen zu verlachen! Ich war sicher, es würde ein Blitz auf sie herunterfahren und sie für diese Lästerung erschlagen. Aber nichts passierte. Sie ging wieder hoch, immer noch lachend, und ich stand da, fassungslos, und konnte nicht glauben, daß Gott sie nicht auf der Stelle erschlagen hat.

Ich weiß nicht, wie lang es gedauert hat und was ich dann dachte, irgendwann löste sich die Erstarrung und ich fing an zu fluchen, erst leise, dann immer lauter, immer schlimmer, jedes gotteslästerliche Wort, das mir einfiel, sagte ich erst, dann schrie ich immer lauter alle Flüche, die mir nur einfielen, und ich wartete die ganze Zeit, daß der Blitz nun käme und mich erschlüge. Und es passierte nichts. Kein Blitz, kein Jesus, der mich traurig anschaute, nur ein riesiges leeres Loch in meiner Brust, so als wäre da eine Leere, wo ich immer die Anwesenheit von Jesus gespürt hätte, da wo er hätte sein müssen.

Das war ein furchtbares Gefühl, diesen Verlust kann ich nicht beschreiben.

Ich hab viele Jahre gebraucht, um das zu verkraften. Diese Angst vor Gottes Strafe, diese Unsicherheit, ob es ihn nicht doch gebe, diese Verzweiflung, ob er mich nicht einfach verlassen hätte, weil ich böse war, und mein Bemühen, ihn wiederzufinden, egal wo, egal wie, in Zwiesprachen, in stillen Gebeten, in denen ich Jesus bat, wieder zurückzukommen zu mir, irgend ein Zeichen, ein Gefühl, irgend etwas, das mir gezeigt hätte, daß er mich nicht ausgestoßen hat.

Es kam nie was. Ich hab über die Jahre gelegentlich versucht, diese Lücke wieder zu füllen, diese Leere ist lange Zeit nicht gewichen. Hab gesucht, auch auf anderen Wegen, über Sekten, über esoterische Strömungen, über den Intellekt natürlich - diese trotzige Art von Atheismus, die den "altmodischen Christengott" als dumm und unreflektiert abgelehnt hat... es hat sich nie als richtig angefühlt. Diese Lücke ließ sich nicht füllen, die Sehnsucht nach der Geborgenheit, die mir Jesus früher gegeben hat, ist geblieben. Oft hab ich mich dafür geschämt, zugegeben hätte ich das nicht.

Wenn ich heute sage: Ich glaube nicht an Gott, dann stimmt das. Er ist nie wieder gekommen, so sehr ich mich danach gesehnt hab, so sehr ich mich auch davor gefürchtet hab. Irgendwann konnte ich ihn "loslassen", als ich zu ihm - in die Leere, wo er früher gewohnt hat - gesagt hab: "Wenn's dich gibt, dann laß es mich wissen, ich will versuchen, so gut ich kann zu leben. Nach meinem eigenen Gewissen, nicht nach deinen Geboten. Was Besseres kann ich dir nicht anbieten."

Das hat mir geholfen, seitdem ist das Gefühl des Verlusts nicht mehr so gewaltig.

Daran mußte ich denken, als ich pickats Erinnnerung gelesen hab. Manchmal kommt immer noch Zorn und auch Trauer hoch, wenn ich zurückdenke, daß es einen einsamen Platz in mir gibt, an dem früher Jesus gewohnt hat.

Aber immer öfter erleb ich diese Momente, wo sich alles richtig anfühlt. Wo ich erkenne, welche Weisheiten in der Bibel stehen, wie verwandt manche Erkenntnisse sind mit denen aus anderen Religionen, welche tiefen Wahrheiten über alle Kulturen hinweg immer wieder mit anderem Gesicht auftauchen, sei's in der buddhistischen Lehre, in Märchen, in Geschichten und Erzählungen und auch in der Bibel. Gefühlte Wahrheiten, die sich gut anfühlen.

Immer noch ohne Gott, aber nicht mehr so einsam. Das ist ein schönes Gefühl.
 
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Heute ist unser letzter Tag einer viel zu kurzen Urlaubswoche hier im wunderschönen Österreich, und während ich hoch oben auf dem Schneeberg im Jägerstüberl der großen Ausflugsgaststätte sitze und schon ein bißchen Wehmut beim Gedanken an die morgige Heimreise aufkommt, besonders weil ich einige tolle Bekanntschaften hier aus dem Forum persönlich kennenlernen durfte, nutzt mein Mann die Gelegenheit, ohne mich die letzten 200 Meter zum Gipfel zu wandern, denn im Gegensatz zu mir liebt er Berge, war aber noch nie auf einem so hohen Berg wie diesem hier. :)

Hier im Stüberl bin ich umgeben von ausgestopften Murmeltieren, einem Steinmarder, Rebhahn und Erpel, an den Wänden hängen Gams- und Rehbock-Gehörne und ich sitze verwöhnt und faul auf einem mit Gamsfell und Kissen gepolsterten Eckbankerl, links fröstelig, rechts bald rösch von einer Elektroheizung, die verdächtige Ähnlichkeit mit einem Dönergrill hat :mrgreen:

Ich konnte meinem Mann sein Netbook abschwatzen und nutze die Wartezeit, meine Gedanken, die durch das Lesen eurer Erzählungen und meine morgendlichen Erinnerungen so ruhig und friedlich geworden sind, aufzuschreiben. Ich hoffe, ich darf das hier schreiben, Mockingbird... deine Frage, wie diese eure Erinnerungen an geliebte Großeltern und Familienurlaube auf mich wirken müßten, wo meine Kindheit ja nun nicht so unbelastet war, hat mich überrascht und ich hab mich kurz dabei erwischt, wie ich mich entschuldigen wollte dafür, daß ich so wenig Schönes aus meinem Erinnerungskasten dazugeben kann. Aber ich glaub, das wäre genauso verkehrt wie der Gedanke, mich könnten die schönen Erlebnisse von euch irgendwie runterziehen.

Das Gegenteil ist der Fall. So wie euch im gegenseitigen Erzählen verloren geglaubte Erinnerungen wieder kommen, so haben eure Geschichten mir ein paar Fenster in meine Vergangenheit aufgemacht, und es sind schöne Sachen dabei. So mußte ich vorhin während der Fahrt mit der Zahnradbahn hier herauf – ich geb's zu, ich hab dabei ein bissl gedöst :oops: - daran denken, wie Luis Trenker uns manchmal besucht hat und uns Geschichten von seinen Bergtouren und von seinem Wunsch, hoch droben auf dem Berg seinem Herrgott näher zu sein, erzählt hat. Das war eine fremde, schöne Welt, und ich erinnere mich, daß der Onkel Luis, wie wir ihn nennen durfte, mir in meiner Kindheit schon alt, gegerbt und knorrig vorkam. Er trug so braune Cordsamt-Kniebund-Hosen und schöne, gemusterte, dicke Wadlstrümpfe, und wenn ich da auch schon mein Bayerisch verlernt hatte, so hat mich sein Dialekt doch heimelig berührt. Ich erinnere mich an wenig Inhalte; wenn ich mich solchen Erzählungen überlassen hab, dann hat sich mir immer mehr die Stimme, der Klang eingeprägt, das ist bis heute so geblieben :)

Es war schön, an die Besuche vom Onkel Luis zu denken, er hat uns Kinder gern gemocht, das hab ich gespürt. Und beim Herauffahren auf den Schneeberg heute hab ich ein paar Almwiesen gesehen, voll mit den typischen Gebirgsblüten von Butterblumen, Klee und vielen anderen, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann. Zwischendurch rötliches und hellgraues Gestein, wie ich das von unseren Kinder-Ferienlagern erinnere, nur die Kühe, die in meinen Erinnerungen so zahlreich und mit großen Glocken um den Hals herumspazierten und gelegentlich ihr warmes, tiefes Muhen hören ließen, fehlen heute, um diese „Rückreise“ vollständig zu machen.

Während der Fahrt mit der Zahnradbahn, hinter mir ein etwa 1-jähriges Kind, dessen Finger an meinem Halstuch herumzuppelten und das immer ein ganz skeptisch-schiefes Gesicht aufsetzte, wenn ich mich zu ihm umdrehte, fragte mein Mann mich, welches der höchste Berg war, auf dem ich je gewesen bin. Wir mußten während der jährlichen Sommerferien ja ständig auf irgend so ein Ungetüm kraxeln, und letzte Woche hab ich in Wien noch rumgetönt, wie ätzend ich das immer gefunden hab und daß ich den Anblick von einem Berg herunter ins Tal auf Postkarten genauso gut genießen kann, des muaß i nimmer live haben :mrgreen:

Wie auch immer: ich erinnere mich nicht mehr so genau. Ich weiß noch, daß ich mit etwa 10 Jahren hoch oben auf der Zugspitze war, die letzten Meter waren ziemlich geröllige Stufen, hangabwärts waren dicke Taue an Pfosten, an denen man sich einhalten konnte. Und ich weiß noch, daß ich es nicht spektakulär fand, in diesem engen Windschutz am Gipfelkreuz zu stehen und den Ausblick ins Tal zu suchen, der von einer dicken, weißen Wolkenschicht tief unten versteckt wurde.

Es gab viele solche Bergwanderungen, in Italien, in den Dolomiten, in den Bayerischen Alpen und auch einmal in der Gegend um Davos in der Schweiz... immer hab ich geflucht und mich gefragt, warum die Erwachsenen es für so wichtig hielten, uns Kinder auf krätzigen Gesteinshaufen raufzuscheuchen... :mrgreen:

Und doch: im Rückblick, jetzt, werd ich doch sentimental und erwische mich dabei, wie ich das Kuhglockengeläut wieder in den Ohren hab, wie eine der Praktikantinnen, die mit uns in den Schweizer Bergen auf einer Almwiese Rast machte und mit geschlossenen Augen die Sonne genießen wollte, laut aufgeschrieen hat, weil eine der Kühe sich fast lautlos angepirscht hatte und der jungen Frau gemächlich wiederkäuend auf den nackerten Bauch gespeichelt hat :hurra:

Sentimental werd ich auch beim Blick aus dem Fenster, wenn ich den Flugkünsten der Bergdohlen zuschaue... ich erzähl euch, wie die Ferienlager meiner Kindheit organisiert waren, ja? Die waren im Rückblick nämlich echt sensationell!

Wir waren zwar „Spendenempfänger“, hatten mit dem monatlichen Wirtschaftsgeld sparsam zu haushalten und jedes Fuffzgerl mußte per Beleg im Haushaltsbuch aufgeschrieben werden, aber eigentlich waren wir doch materiell gesehen im Gegensatz zu den Dorfbewohnern in der Umgebung wirklich privilegiert. So hatte bereits Ende der 60er Jahre jedes Kind in der Einrichtung ein eigenes Fahrrad, für das es zuständig war – ich weiß noch, so ab dem 7. oder 8. Lebensjahr hatte bei uns jeder, egal ob Bub oder Mädel, die Verantwortung dafür, daß das Radl auch fahrtüchtig und sauber war: Reifen flicken, Kette einrichten, die Glühbirnen wechseln und den Dynamo von den Lampen richten, wenn was nicht ging – das hab ich ebenso früh gelernt wie das Feuermachen ohne Anzünder oder Grillkohle. :cool:

Wir lebten im Schwäbischen, in einer Gegend, die wohl so eine Art Grenzgebiet zwischen den früheren Besatzungsmächten war: eine englische, eine französische und eine amerikanische Kaserne lagen alle in unserer Nähe, und die Soldaten überboten sich darin, uns mit Sommerfesten, Spenden und vielen Leckereien aus olivgrünen Dosen zu verwöhnen. Manchmal kamen die Amerikaner und haben bei uns auf dem Sportplatz Gulaschkanonen aufgebaut, Unmengen von diesen weißen Schaumdingern – Marshmallows – spendiert, bis uns schlecht wurde, haben uns Cola und Poppkorn und für jedes Kind echt amerikanische Boots gespendet... meine habe ich lange getragen, bis ich wenige Jahre später – da schon auf Trebe – in einer kalten Nacht mit den Füßen im Lagerfeuer eingeschlafen und mit sehr warmen Füßen und sehr dünnen Sohlen wieder aufgewacht bin... aber das ist eine andere Geschichte :mrgreen:

Wir waren also verwöhnt, uns ging es da besser als den Kindern aus dem Dorf, die zumeist aus Bauersfamilien stammten und die ich zwar nicht um ihren Stallgeruch, wohl aber um die vielen Hühner, Kälber und nach Kuhdung schmeckenden Eiszapfen im Winter vor den Stallfenstern beneidet hab.

Ich schweife ab, ich wollte ja von den Ferienlagern erzählen. :oops:

Die waren grandios, wirklich! Sie waren so organisiert, daß während der großen Ferien im Sommer die Pflegemütter Urlaub ohne Kinder machen konnten. Wir Kinder wurden – nach Buben und Mädchen getrennt – in Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe wurde von zwei Praktikantinnen bzw. bei den Buben von zwei Zivildienstleistenden geleitet. Meistens fuhren wir in ein großes Ferienlager in Italien, weiß nicht mehr wo der Ort genau lag – er hieß Caldonazzo – und dorthin kamen viele Gruppen aus allen möglichen europäischen Ländern. Die Mädchen wurden in einem großen Hotel und vielen umliegenden Bungalows etwa 20 min. entfernt vom See untergebracht, die Buben durften in großen Zelten direkt am See hausen... fand ich sehr ungerecht! Unweit des Ferienlagers waren dann schon sehr hohe Berge, einer davon – der Monte Pizzo (ob der wirklich so hieß?) stand manchmal in Flammen, wenn der Sommer heiß war und riesige Waldflächen tagelang glosten. Das war gruselig, tagsüber sah das grau und rauchig aus wie ein Vulkan, nachts leuchtete der halbe Berg manchmal blutrot.

Es waren große Ferienlager, und zur damaligen Zeit konnten sich kinderreiche Familien diesen Luxus, wie wir ihn da genossen, nicht unbedingt leisten. Allerdings erforderte so ein Ferienlager ganz schön viel Planung und Vorbereitung... in unserer Familie waren wir 7 Kinder, deren Kleidungsstücke – vom Schlüpfer über die Socken bis zum Anorak alle mit einer Stoffnummer benäht werden mußten (ich kann auch nähen :mrgreen:) - es wurden Inventurlisten gemacht, jedes Kind hatte einen großen Wanderrucksack (so in der Größe wie Bundeswehrrucksäcke), einen Schlafsack für die Buben bzw. einen dünnen leinenen Schlupfsack für die Mädeln, in die wir geschlüpft sind, damit die kratzigen Armee-Wolldecken nicht zu unangenehm auf der Haut lagen. Jedes Kind hatte so eine weiße Plastik-Getränkeflasche, in die für jede Wanderung lauwarmer, ungesüßter Hagebuttentee eingefüllt wurde – örks. :mrgreen: Diese Flaschen kriegte man nur sauber, indem man groben Sand oder Kiesel mit Wasser eingefüllt und sie kräftig geschüttelt hat. Vergaß man das, schmeckte der Tee modrig. :confused:

Die Reise nach Italien war immer eine Riesenaktion, ich weiß nicht, ob es ein oder zwei Reisebusse gab (Setra-Busse... gibt’s die heute noch? Sehr luxuriös! :cool:), bis das Gepäck von rund 50 – 60 Kindern und Betreuern verstaut war, Ermahnungen von den Müttern, regelmäßig zu schreiben, die Platzsuche im Bus usw. erledigt waren, verging einige Zeit. Es ging immer recht früh los, und die Fahrt bis zum Urlaubsort dauerte fast den ganzen Tag. Am aufregendsten fand ich immer die Durchfahrt durch München, wußte ich doch, daß ich ursprünglich „irgendwo dort“ herkam. Da gab es immer viel zu sehen, manchmal fuhr unser Bus direkt durch die Stadt, und ich drückte mir dann die Nase an den Scheiben platt, freute mich an den exotischen Leuten dort – solchen in Dirndln und Lederhosen, ich erinnerte mich daran, daß ich als Zwergerl auch sowas getragen hatte, als wir in die Einrichtung gekommen sind.

Einmal hatte unser Reisebus – war's in Österreich oder schon in Italien? - einen Unfall. Weiß nicht, wie der zustandekam, war vielleicht ein bißchen dramatisch, jedenfalls sind wir Kinder durch den Bus geflogen, weil der Bus von der Straße abgekommen und in einen Straßengraben gestürzt war. Aber wie Kinder halt so sind: der Schrecken war für uns schneller überstanden als für die Erwachsenen und wir fanden es abenteuerlich und spannend, wie alle möglichen Hilfskräfte mit Blaulicht, Tee und warmen Decken um uns herumwuselten. Zumindest am Anfang, nach einer Weile störten sie mich, weil sie mir die Frösche, die ich im Straßengraben aufgestöbert hatte, immer verscheuchten. An diesem Tag sind wir erst im Dunkeln im Ferienlager angekommen.

Ich merke, die Geschichte wird viel zu lang, und ich bin immer noch nicht im Ferienlager angekommen. :oops:


Macht nichts, ich werde weiter erzählen, im Moment hab ich hier gerade auch ein bißchen Ferienlagerstimmung, weil die netten Leute hier im Jägerstüberl mittlerweile den dritten „Dönergrill“ versuchen in Betrieb zu nehmen, während ich hier mit übergeworfenem Mantel, Eiszapfenfüßen und klammen Fingern weitertippsle :mrgreen:


Wenn wir im Ferienlager ankamen, wurden wir gruppenweise aufgeteilt, wir Mädels in die Bungalows, die Buben fuhren weiter an den See, wo schöne, große 8-Mann-Zelte standen. Wie ich die beneidete!

Die Bungalows waren jugendherbergsmäßig eingerichtet: wir hatten Stockbetten, Kasten für Kleinkram, soweit ich mich erinnere, lebten wir aus dem Rucksack. Wir hatten dann alle unser Taschengeld in Lire, und ich weiß noch, wie reich ich mich dann immer fühlte, weil es waren immer ein paar Hundert Lire, wo das deutsche Taschengeld doch nur so wenig Mark ausgemacht hat. :cool:

Es gab viele Bungalows, und es gab viele Kinder aus den anderen Ländern. Gegessen wurde draußen an überdachten Tischen. Ich liebte am meisten die Frühstücke, weil die Brötchen so riesig waren – mindestens 3 x so groß wie die zu Hause, innen drin hohl mit einem Teigknubbel, den ich immer rausfrikkelte und aß, so daß nur noch die knusprige Hülle übrig blieb. Und den Kakao gab's nicht in Tassen, sondern in so einer Art henkelloser Müslischalen aus Plastik... schmeckte eklig, aber ich fand's schick :cool:

Nach der Ankunft wurde erstmal ausgepackt, dann war Briefeschreiben angesagt: jedes Kind hatte eine abgezählte Anzahl von linierten Briefbögen dabei sowie Briefumschläge und durchsichtige Kugelschreiber. Nichts Besonderes, außer für mich, weil: den Duft von Papier und allem, was irgendwie mit Schreibwaren zu tun hatte, hab ich immer geliebt, ich bin heute noch bissl süchtig danach und könnte mich stundenlang in Schreibwarengeschäften tummeln... :oops:

Jeden Tag waren Ausflüge geplant, oft auf einen Berg, dann ging's schon sehr früh los, weil: auf Gipfeln oder Berghütten muß man immer vor Mittag ankommen. Es waren große Touren, oft über die Baumgrenze hinaus, es waren Touren dabei, wo bereits um 9 oder 10 Uhr die Oberschenkel brannten wie Feuer, die Füße in den Bergstiefeln erste Blasen hatten, aber Rast wurde immer nur für ein paar Minuten gemacht, weil: wer lange rastet, wird müde, die große Rast mit Jause (jaja, so hieß das! :mrgreen:) wurde erst am Zielort gemacht. Die Jausen waren immer das Beste für mich – ich oller Fresssack war da besonders glücklich, weil: die Brote waren immer mit Wurst und Käse belegt, ich war nie so ein Süßesser, außerdem gab's italienische Tomaten, die ich nicht besonders mochte, aber manchmal hatte ich das Glück und fand jemanden, der mir dafür eine Stulle eintauschte. :cool:

So sehr ich die Aufstiege auch haßte: oben, nach dem ersten Ausruhen, war's immer klasse. Man konnte runterschauen, manchmal sah man bis ins Tal, oft auch nur bis zur Wolkenschicht, die alles versteckte, die Wege waren manchmal sehr schmal und dann konnte man einen steilen Geröllhang nach unten in die Wolken verschwinden sehen. Einmal gab's einen heftigen Anschiß, weiß ich ein Kieselsteinchen nach unten geworfen hatte, und mir wurde erklärt, daß das kleine Steinchen vielleicht schon zu einer großen Gesteinslawine angewachsen sein würde, bis es unten im Tal ankam. An dem Tag war ich sehr erleichtert, als wir am Ort im Tal ankamen und ich sehen konnte, daß es nicht unter einer Geröll-Lawine verschüttet war.

Als wir vorhin hier auf dem Schneeberg ankamen, habe ich eine Kindheitserinnerung wiedergefunden: Regencapes! So große, ponchoartige, weite Umhänge mit Kapuze, dünn und durchsichtig... solche hatten wir immer in den Rucksäcken dabei, und manchmal haben wir die auf dem Berg auch gebraucht, das Wetter war schon ziemlich oft unbeständig.

So anstrengend ich auch die Aufstiege fand: den Abstieg hab ich immer gefürchtet. Ich hatte zwar keine Höhenangst, der Blick in die Tiefen war für mich immer aufregend-spannend: das Heruntergehen vom Berg war schmerzhaft, die Oberschenkel schrieen förmlich „AUA!“ :mrgreen:

Wir hatten dann ein Lied, das wir immer und immer wieder sangen, um uns den Abstieg zu verkürzen (und vermutlich, um den Praktikantinnen das Gejammer über Auas zu ersparen), das ging so:

„Wenn ich auf Wanderschaft geh, ja geh,
dann tut mir der Zeh so weh!
Ja der Zeh tut mir weh
wenn ich auf Wanderschaft geh!“

Das Lied war lang, weil: es tat ja nicht nur der Zeh weh, sondern auch die Waden wie Rouladen, und der Schenkel wie zwei Henkel und der Po wie ein Floh usw. bis hinauf zu den Ohren – am Ende hatte das Lied endlos lange Refrains, wir waren atemlos, aber die Wehwehchen haben wir auf diese Weise zugunsten der Reime immer vergessen :mrgreen:

Damit will ich für heute aufhören, weiß ja nicht mal, ob euch diese Gschichtln interessieren... es hat Spaß gemacht, mich an diese im Rückblick eigentlich doch tollen Ferien zu erinnern, und ich hab noch so einige davon im Gedächtnisspeicher... ned alles war früher besser, aber so im Rückblick merk ich doch, daß immer wieder ein paar Stücke „heile“ Welt durchblitzen.

Vielleicht erzähl ich euch ein andermal, wie ich von wilden Bienen gestochen worden bin und einen menschlichen Schädelknochen gefunden hab, den ich leider nicht behalten durfte, den haben mir die italienischen Gendarmen weggenommen... diese Banditen! :cool:
 
Das war ein furchtbares Gefühl, diesen Verlust kann ich nicht beschreiben.

Nach all den Verlusten, die Du bis dahin schon erlitten hattest, war dieser vermutlich auch deshalb so besonders brutal, weil Du ihn in dem Alter als bewusst denkendes und fühlendes Wesen erlebt hast.

Weil da sonst niemand war, auf den Du Dein ganzes kindliches Urvertrauen setzen konntest, hast Du Dir eine Figur geschaffen – sicher auch mit Hilfe der religiösen Erziehung durch diese ‚Mutti’ (ich bring es kaum fertig, sie so zu nennen, denn m.E. ist sie das Schlimmste, was Dir in Deinem Leben zugestoßen ist, aber davon mehr an anderer Stelle.) - die Dir all das ersetzen konnte, was ein Kind, ein Mensch, braucht, um überlebensfähig zu sein: Wärme, Trost, Liebe, Verfügbarkeit … alles eben, nur keine Körperlichkeit.

Dass dieses Ungeheuer Dich dann ungestraft auslachen und verhöhnen durfte, musst Du als einen unfassbaren Verrat empfunden haben ..

So stelle ich mir das vor und ich kann Dich gut verstehen. Weißt Du Fritzie, ich bezeichne mich als gläubigen Menschen (obwohl meine reformierte Kirche bei diesem Bekenntnis vermutlich mehr als nur leise widersprechen würde), aber wo Gott ist – gerade wenn es um das Leid von unschuldigen Kindern geht – das frage ich mich wohl auch bis ans Ende meiner Tage …. Die uralte Theodizee-Frage, der konsequent nachzugehen meine philosophischen Kenntnisse leider nicht mal annähernd reichen.


Aber ich glaub, das wäre genauso verkehrt wie der Gedanke, mich könnten die schönen Erlebnisse von euch irgendwie runterziehen.

Das kann passieren, wenn man versucht, sich gedanklich und emotional in einen anderen Menschen hinein zu versetzen. Umso froher und erleichterter bin ich, dass genau das Gegenteil zutrifft. :)

Damit will ich für heute aufhören, weiß ja nicht mal, ob euch diese Gschichtln interessieren...

Na und ob, mach weiter bitte … ich bin ganz Ohr :) Außerdem hat es noch den schönen Nebeneffekt, dass sich hier mal wieder ein bisschen was bewegt.;)

Vielleicht liest Du es nun nicht mehr, aber ich wünsche Dir und Deinem Mann eine gute Heimreise und hoffe, dass die Rückkehr in den Alltag nicht allzu stürmisch sein möge – bis auf die Begrüßung durch Eure Lieblinge natürlich.
 
...mach weiter bitte … ich bin ganz Ohr

Ich schliesse mich meinem Schwesterherz an :) .. danke für Deine zwei Erzählungen, die Du so schön bunt geschildert hast, als wäre man dabei gewesen ...

Mehr noch: ... leider kenne ich Dich ja (noch) nicht persönlich, habe Dir aber schon mal gestanden, dass mich Deine Postings, in welchen Threads auch immer, enorm anziehen, weil sie von Intelligenz und Eloquenz geprägt sind und den Leser zum Nachdenken animieren und in den Bann ziehen - auch mag ich besonders Deine spezielle humoristische Ader ...

Und da finde ich es einfach urschön, dass Du uns hier erlaubst, durch das eine oder andere Türchen eine fritzie zu entdecken, deren Gefühlswelt man wohl manchmal dunkel vermuten kann - aber diese Ahnungen sind nichts im Vergleich dazu, wie Du Dich selbst öffnest und der virtuellen fritzie durch die eine oder andere verschmitzte, lächelnde oder vielleicht auch bissi wehmütige Anmerkung äusserst lebendigen Atem verleihst...

Danke dafür ... :)
 
Wieder zu Hause angekommen, Fotos geguckt, die gefüllten Zucchinis von Schwiegervati (Ernte aus meinem Garten! :hurra:) waren sehr fein... jetzt sind die Schwiegerleute und mein Mann, der die 10-stündige Heimfahrt am Steuer geleistet hat, während ich die halbe Fahrzeit verschlafen konnte :engel: und die Hunde mit Betthupferl versorgt auch schon schlafen und ich kann die Stille nutzen und noch bissl erzählen.

Die Begrüßung durch unsere Hunde war wie immer im wahrsten Sinn umwerfend... ich bild mir ja gerne ein, daß sie nach längerer Abwesenheit besonders stürmisch ausfällt, aber ich glaub, wenn wir nach 5-minütiger Bäckerrunde zurückkommen, ist der Jubel immer genauso groß. :hurra:

Vorhin beim Bildergucken tauchten doch noch ein paar Fotos von Kühen auf, denen mein Mann auf seinem Rundgang auf dem Muckenkogel (der ist in der Nähe von St. Pölten) und auf seinem Aufstieg zum Schneeberggipfel begegnet ist. Schwiegermutti, die früher selbst sehr gerne auf Bergen herumgestiefelt ist, wußte gleich einige Anekdoten zu erzählen, wie viel Angst, sooo viel Angst sie immer vor den Kühen gehabt hat :mrgreen: und mir ist eingefallen, daß ich zu Tieren von klein auf immer ein besonderes Verhältnis hatte. Nie hat mich ein Tier enttäuscht, geängstigt oder ist mir je "hinterhältig" begegnet - mit Ausnahme von Spinnen, die ich für ziemlich charakterlose Viecher mit unappetitlichen Eßmanieren halte.

Tiere sind leicht zu 'lesen', und im Lauf der Jahre haben viele von ihnen ein Stück meines Wegs begleitet. Das ging schon früh los, in den Ferienlagern gab es immer ein dickes, mürrisches Schaf, viele Katzen und eine Ziege, auf der wir Kinder oft zu reiten versucht haben - sehr zu ihrem Ärger, den sie uns immer vorspielte, indem sie mit lautem Gemecker losrannte und - falls wir nicht da schon von ihrem knochigen Rücken gerutscht sind - abrupt stehen blieb, so daß wir in hohem Bogen heruntergefallen sind. Gefallen haben muß ihr unsere Aufdringlichkeit aber doch, weil immer, wenn sie uns kommen sah, kam sie meckernd und leichtfüßig auf uns zu und stupste uns nach allerhand Leckereien an, die wir vom Frühstück, von den Jausen oder von Bäumen gemopst immer für sie dabeihatten.

Werd nie den Tag vergessen, an dem ich früher als sonst aufgewacht aus dem Bungalow geschlichen und auf dem Feriengelände herumgestromert bin, ungesehen von einem der Bewirtschafter des Geländes... an jenem Morgen hat er der Ziege mit einem großen Hammer vor die Stirn geschlagen und ihr dann sorgfältig die Kehle durchgeschnitten, um sie ausbluten zu lassen. Wir sind zwar auf dem Land, umgeben von Bauernhöfen, aufgewachsen, ich hatte schon miterlebt, wie Hühner geschlachtet werden und wußte, daß der samstägliche Braten aus dem Fleisch von Tieren bestand, aber 'unsere' Ziege so stumm enden zu sehen hat mir doch einen heftigen Stich gegeben. Als wir im Folgejahr wieder im Ferienlager waren, gab es eine neue Ziege. Aber mit der haben wir keine Reiterspiele veranstaltet, es war halt nicht unsere.

In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es nur eine Grundschule, in die wir Kinder die ersten 4 Klassen besuchten. Der Schulweg führte vorbei an Häusern und Höfen, und jeden Tag mußte ich an einem Haus mit Garten vorbei, hinter dessen Zaun ein großer Dobermann wartete und immer heftig und böse bellte, sobald wir uns dem Grundstück näherten. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, eines Tages blieb ich dort stehen und hab mit dem Hund geredet und ihm die Ohren gezaust. Er ließ sich das gefallen, und die Sympathie zwischen uns wuchs schnell. Von da an habe ich jeden Tag bei ihm am Zaun Halt gemacht, hab mit ihm geredet, ihn gestreichelt und er hat mir dafür immer die Pfoten über meinen Arm gelegt, der auf dem Gartentor ruhte, damit ich noch ein bißchen länger bliebe. Das ging so lange, bis eines Tages sein Besitzer bei uns zu Hause auftauchte und sehr wütend war, weil ich ihm seinen scharfen Wachhund verdorben hätte. Er verlangte, daß wir den Hund zu uns nähmen... einen kleinen Moment hoffte ich, daß Hasso zu mir käme, aber natürlich umsonst. Eines Tages war Hasso dann verschwunden... manchmal, wenn ich heute unsere Cleo an den Ohren kraule und nach einer Weile damit aufhöre, legt sie mir wie Hasso damals eine Pfote auf's Knie und verlangt nach weiteren Streicheleinheiten. :)

Ähnliches wie mit Hasso habe ich später als Jugendliche in der Nähe von Augsburg erlebt, wo ich manchmal im Umland herumgestromert bin. Da gab es so ein einsames Gehöft, auf dem zwei große, schwere Rottweiler an einer Kette lagen und immer anschlugen, wenn sich jemand näherte. Als ich sie entdeckt hatte, vergewisserte ich mich, daß mich niemand beobachten konnte, bevor ich zu den beiden ging und mich vor sie hinhockte. Sie schienen mich nicht für gefährlich zu halten, jedenfalls kamen wir schnell miteinander ins Gespräch, und ich hab noch so manche Nachmittage mit ihnen verbracht, kuschelnd und balgend und immer heimlich, damit sie keinen Ärger bekämen.

Unsere Paula ist zwar "nur" ein Zwergpudel - ein ängstliches Dämchen noch dazu - aber ihre black-and-tan-Färbung erinnert mit manchmal an meine ersten Hundefreunde. :)

Eigentlich hatte ich immer geglaubt, wir dürften in der Einrichtung, in der ich aufgewachsen bin, keine Tiere haben. Als nach einem Ferienlager während einer Rast zwei Kinder von einem Bauern zwei junge Kaninchen geschenkt bekamen und diese mit nach Hause nahmen, war ich sehr neidisch, besonders auf das Kind, dessen Kaninchen ein hängendes Ohr hatte. Heute weiß ich, daß es vermutlich ein "Widdermischling" war - Widderkaninchen sind solche, die man gut an ihren seitlich herabhängenden Ohren erkennen kann. Wie auch immer: in dieses Kaninchen hab ich mich auf den ersten Blick verliebt, und ich war schwer in Versuchung, mir vom Bauern ein ebenso hübsches zu erbitten, er hatte mehrere davon. Aber ich war sicher, daß ich es nicht würde behalten dürfen.

Umso erfreuter war ich, als eines Tages ein Mann mit einem Bollerwagen durch unser Dorf zog, auf dem er in kleinen Käfigen lauter Meerschweinchen hatte, an den Häusern klingelte und fragte, ob wir welche haben wollten. Und wir durften! Das war aufregend und toll! Bald hatte jedes von uns Kindern sich eines ausgesucht, es waren damals noch diese glattfelligen, einfachen Meerschweinchen mit sehr hübschen, unterschiedlichen Fellfarben, die im Gegensatz zu den heutigen Zuchttieren 10 Jahre und länger lebten.

Was für eine Sensation, ein Tier, das allein mir gehörte! Wir bekamen bald passende Käfige dazu, und mit der strengen Anweisung, daß jeder von uns für sein Tier zu sorgen hätte, sonst würde es wieder weggegeben, zogen die Tiere bei uns in den Keller, wo es reichlich Platz für Heu, Sägespäne und Futter gab. Die Sägespäne holten wir uns mit einem Bollerwagen aus dem Sägewerk vom Ort, wo wir unsere großen Waschpulvertonnen immer großzügig und kostenlos füllen durften. Im Sommer gab es immer reichlich Gras, in den kälteren Jahreszeiten bekamen wir von den Bauern aus dem Dorf immer Heu und Zuckerrüben geschenkt, das zusätzliche Körnerfutter kauften wir von unserem Taschengeld im Zoohandel in der nahen Kreisstadt.

Wie's damals so war, wußten wir von der artgerechten Haltung solcher Tiere nur wenig, jedes saß in einem eigenen Käfig, nur im Sommer kamen sie gelegentlich zusammen in ein großes Gittergehege nach draußen auf die Wiese. Zwar wußten wir Kinder schon sehr schnell, die Meerschweinchen nach einem geübten Druckgriff am Unterbauch nach Männlein und Weiblein zu unterscheiden, aber was das steifbeinige Gurren der Männchen und das kurze Aufbocken auf die Weibchen nach sich ziehen würde... nun, das erfuhren wir bald, als eines der Weiberl bald dicker und dicker wurde und eines Tages vier haarige, winzige Junge zur Welt brachte, die binnen kurzer Zeit mit offenen Knopfaugen und trockenem, flaumigen Fell im Käfig herumfiepten. :)

Es kam noch ein totes, kleines Junges als Nachzügler auf die Welt, und ich erinnere mich, mit welcher Mischung aus Faszination und Schrecken wir zusahen, wie die Muttersau dieses Junge und die Nachgeburt aufgefressen hat. Ich weiß nicht mehr, wer uns erklärt hat, daß das in der Natur so sein müsse, weil die Mutter ihren Jungen so viele wertvolle Nährstoffe mit ihrer Milch abgeben würde, daß sie sich diese auch aus der blutigen Mahlzeit wieder zurückholen müsse.

Weil die Muttersau mein Meerschweinchen war, durfte ich mir aussuchen, welches von den Jungen ich behalten wollte, die anderen drei wurden an die anderen verteilt. Ich suchte mir das hübscheste aus: ein kohlrabenschwarzes mit einem hellbraunen Strich quer über den Rücken. Es bekam den Namen "Frechdachs", und es war ein zutraulicher, lebhafter Flitzer, der immer laut quietschend angerannt kam, wenn man ihn rief.

Wie's so kommt: es dauerte nicht lang, die Jungtiere waren noch nicht ganz ausgewachsen, da habe ich "Frechdachs" eingetauscht... das kam so: eines Tages hatte eines der Meerschweinchen, es gehöre meiner jüngeren Pflegeschwester, auf irgendwas Hartes gebissen und dabei die beiden oberen Nagezähne eingebüßt. Das haben wir bemerkt, weil es nicht mehr fraß, es konnte die harten Halme und Körner nicht mehr knabbern. Irgendwie hatte ich vermutlich schon damals eine besondere Schwäche für Unvollkommenheiten, jedenfalls bat ich meine Schwester, sie möge mir Susi im Tausch gegen Frechdachs überlassen, ich wollte mich um sie kümmern.

Von da an schnippelte und raspelte ich ihr täglich Löwenzahn, Äpfel, alles Mögliche klein und fütterte sie mit den Fingern, und es funktionierte: die langweilige, hellbraun-weiße Susi wurde bald wieder kräftiger und lebhaft und zu meinem Erstaunen wuchsen ihre Nagezähne wieder nach, so daß sie nach einiger Zeit wieder selbst fressen konnte. :hurra:

So hab ich gelernt, daß die Schneidezähne von Nagern immer weiter wachsen und das Knabbern für sie notwendig ist, damit die Zähne nicht bis in die Kiefer einwachsen.

Obwohl wir Kinder jedes selbst dafür zuständig waren, die Käfige unserer Tiere zu reinigen, hatten wir bald so eine Art wechselnden "Käfigdienst" an den Wochenenden, wo nur eines von uns alle Käfige säuberte. Als ich einmal an der Reihe war, setzte ich wie üblich das Tier, dessen Käfig ich saubermachen wollte, derweil zu einem anderen in den Käfig - und war erschrocken, als dort plötzlich eine lautstarke, heftige Beißerei zwischen den beiden losging. Ohne zu überlegen griff ich in den Käfig, um die beiden zu trennen, bevor sie sich ernsthaft verletzten - und zack - erstaunt hob ich meine Hand hoch und einer der Streithähne hing ganz starr von meiner blutenden Hand herunter, bis die Bißstelle gerissen ist und das Kerlchen herunterfiel. Zum Glück in einen Heuhaufen, sonst wäre es sicher verletzt worden. Der Biß tat nicht weh, ich war eher erstaunt als erschreckt, aber die Bluterei alarmierte die Praktikantin, die an dem Wochenende unsere Pflegemutter vertrat (die war auf Kur, glaube ich), und man schaffte mich ins nächstgelegene Krankenhaus, um die Wunde nähen zu lassen. War nichts Großes, aber ich mußte dem Arzt dort erklären, wie diese Wunde zustandegekommen war, und seine Antwort hab ich bis heute nicht vergessen: "Merke dir etwas, Mädchen: wenn zwei Männer sich streiten, sollten Frauen sich nicht einmischen!" :lehrer:

Die Narbe ist zwar verblaßt, aber ich trag sie heute noch mit gewissem Stolz und der Ermahnung des Arztes im Gedächtnis. :mrgreen:

Genug gequasselt für heute... es gab im Lauf der Jahre viele tierische Wegbegleiter, und alle hatten sie ihre Eigenarten, ihre besonderen Charaktere, manche waren mir besonders nah, andere waren einfach "Mitbewohner"... ich gehöre zwar nicht zu den Menschen, die mit ihren Tieren ständig schmusen müssen oder sie im Bett schlafen lassen oder so, aber wertvoll waren sie mir alle auf ihre Art, und ich hab viel von ihnen gelernt.
 
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Bissl müd und nachdenklich bin ich, und obwohl ich letzte Nacht gut und viel schlafen konnte, werd ich mich nachher nochmal auf's Ohr legen, weil ich die nächsten beiden Tage im Betrieb viel zu tun hab, wird also wieder Bürohockerei bis in die Nacht geben. Es fehlen momentan 3 Leute... da hat die Frau vom Chef ziemlich ungeschickt geplant, fürcht' ich :oops:

Weiß nicht, ob das in dieses Stüberl hier paßt, es strömen Erinnerungen herein, aber auch die eine oder andere Bemerkung wirkt fort. So zum Beispiel Mockingbirds Bemerkung, daß meine Pflegemutter das Schlimmste sei, was mir hat passieren können... so dachte ich lange Zeit auch, aber ich empfinde das heut nicht mehr so. Natürlich gibt's noch ein paar Dinge, die zwicken, aber immer öfter kommt mir auch der Gedanke, daß ich heute nicht die wäre, die ich bin, wenn sie mir nicht begegnet wäre. Eigentlich bin ich ziemlich zufrieden so, wie ich jetzt bin, und es gibt so vieles, was sich mir dadurch auch erschlossen hat, das mir heute wertvoll ist und sich gut anfühlt.

Den Begriff "Theodizee" kannte ich bis gestern noch nicht, hab aber nachgeschlagen und festgestellt, daß ich oft und intensiv über den Zusammenhang von Religion, der Möglichkeit eines liebenden Gottes und Leid nachgedacht hab, besonders auch in der letzten Zeit wieder.

Weiß gar nicht, ob das hierher überhaupt paßt, berührt doch eher theologische Themen, aber mir widerstrebt im Moment, mit diesen Gedanken in einen passenderen Thread umzuziehen, weil's doch eher unsortierte Gedanken und Schlußfolgerungen betrifft, die eigentlich in mehrere Themenbereiche passen würden.

Ich erinnere mich mich an eine Kollegin vor einigen Jahren, die mir damals, als ihre Mutter anfing krank zu werden und erste Anzeichen von Demenz zu zeigen, zu mir sagte, ich solle froh sein, daß meine Mutter so früh gestorben sei, so bliebe mir der Kummer und Streß einer pflegebedürftigen Mutter erspart. Hat mich damals sehr gekränkt und empört. Mittlerweile sehe ich das gelassener, weil: wir können uns eh nicht aussuchen, mit welchem Leid wir im Lauf eines Lebens konfrontiert werden, auch nicht, in welchem Lebensabschnitt man Dinge zu bewältigen hat. Leben ist nicht statisch, auch Biografien verlaufen nicht statisch, nicht mal die eigenen Erinnerungen sind statisch, sie sind ständigen Wandeln unterworfen, und wenn ich auf meine Kinderzeit zurückschaue, dann sehe ich Dinge, die vor einigen Jahren fast ausschließlich traurig und verzweifelt wirkten, heute aus anderen Blickwinkeln und mit anderen Empfindungen, und es sind immer mehr positive Erinnerungen und Gefühle dabei. Das kommt auch durch den Austausch mit euch, durch eure Eindrücke, durch meine eigenen Erzählungen, das ist aber auch ein Prozeß, den ich schon seit vielen Jahren wahrnehme und über den ich sehr froh bin.

Ich hab mir ja den Benutzertitel "undankbarer Balg" ausgesucht, der für mich eine ganz eigene Bedeutung hat. Er bezieht sich auf "Wohltätigkeiten" anderer, die ich so oft ungefragt und immer mit der Forderung nach Dankbarkeit übergebraten gekriegt hab, ob ich wollte oder nicht. Immer häufiger empfinde ich inzwischen echte Dankbarkeit, so eine tiefe, aus eigenem Bedürfnis heraus. Die bezieht sich immer auf Dinge, die ziemlich schwierig zu benennen sind... Verständnis, Zeit, die sich jemand nimmt, um sich mit mir auszutauschen, Erzählungen wie die euren, die so echt, so frei von Koketterie sind und bei denen ich so ein schönes Gefühl kriege, daß es Wärme und Fürsorge füreinander nicht nur in Groschenromanen und Märchen gibt.

Diese Frage, wie es ein Schöpfer zulassen kann, daß seine Geschöpfe oft so unvorstellbares Leid ertragen müssen, begegnet vermutlich fast allen, die an eine höhere Macht glauben, und wie oft hab ich diese Schlußfolgerung, es könne keinen Gott geben, weil er so viel Leid zuläßt, oder es müsse ein bösartiger Gott sein oder was es so alles gibt... das ist ja so naheliegend, so hab ich früher auch argumentiert und gedacht. Auch das verändert sich, wird immer "runder", fühlt sich immer friedlicher an. Weil mir immer bewußter geworden ist, daß die Frage nach dem WARUM, wie sie sich einem gerade in jungen Jahren so intensiv aufdrängt und oft so verzweifelt gestellt wird, eigentlich von einem wegführt. Es sagt sich ja schnell und so leicht, daß die christliche Lehre einen auf's Jenseits vertröstet, damit die Menschen im Diesseits nicht aufbegehren gegen Unterdrückung und Manipulation, ihr Leid ertragen ohne zu murren, weil ihnen ja im Jenseits die Belohnung in Form ewiger Glückseligkeit im Paradies versprochen wird. Ähnliches findet sich in nahezu allen Religionen, über die ich bislang gelesen hab, ähnliches findet sich auch in Märchen, wenn Ängste und böse Drachen überwunden werden müssen, damit ein unbeschwertes Leben "bis ans selige Ende" gelebt werden kann usw.

Gar nicht so leicht, das aufzuschreiben... ich glaub, irgendwann hat sich lediglich mein Blickwinkel verändert. Es spielt nicht mehr so sehr das "Warum" eine Frage für mich, sondern viel mehr die Frage: "Was bewirkt es"? Alles, was man erlebt, fühlt, tut oder auch erleidet, bewirkt etwas in einem. Und aus Leid muß nicht immer neues Leid entstehen. Klingt easy, ne? :mrgreen:

Ich halte nicht so viel von dem Gedanken, daß Leben leidvoll sein muß, wär ja auch Unfug. Aber ich stelle immer wieder fest, daß Leid auch eine gehörige Portion Gewinn in sich tragen kann, wenn man es schafft, es nicht zu bekämpfen, sondern anzunehmen und „auszustehen“. Ging und geht mir zumindest so. So oft hab ich mich gefragt (und getobt, gewütet oder geheult), was ich tun müßte, damit das Leben nicht mehr nur weh tut. Kummer und Schmerzen will keiner, aber Leben beinhaltet nun mal auch das, ob wir wollen oder nicht. Das zulassen, wahrnehmen statt als „strammer Max“ immer möglichst alles, was weh tun, abzuschmettern, hat mir sehr dabei geholfen, immer mehr bei mir selbst anzukommen.

Naja. Sagt sich so leicht: „Du mußt es nur zulassen“, „man muß auch loslassen können“, „akzeptiere deinen Schmerz“ und was es so alles an Weisheiten gibt. :mrgreen:

Waren für mich immer die am schwersten zu lernenden Dinge. Etwas hinnehmen, dem Schmerz nachgeben, statt ihm durch Arbeit, Härte, Kämpfe auszuweichen, Dinge tatsächlich und bewußt durchleiden fand ich irrsinnig schwer. Und doch irgendwann dann einfach, das ist so ein Gefühl, wie wenn man sich sagt: „Ok, ich geb auf, ich wehre mich nicht mehr“ - und dann weint man und fühlt sich klein und schwach, und dann wird man irgendwie plötzlich ruhig und fühlt sich irgendwie friedlich und durchlässig und spürt eine neue Art von Stärke, so eine, die einem sagt: Es kann nichts Schlimmes mehr passieren.

Ach, das ist komisch, weil: passiv fühlt sich das nicht an. Ich glaub, das ist die eigentliche Botschaft, ob die jetzt in der Bibel oder sonstwo zu finden ist. Nicht: Lebe und leide, sondern eher: wenn du das Leiden annimmst, kannst du's auch überwinden und wirst dadurch reich. So ungefähr, Nähkasterl-Philosophie halt. :lol:


Meine nächsten Geschichten werden wieder sicher wieder weniger esoterisch. :oops:
 
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Aber ich stelle immer wieder fest, daß Leid auch eine gehörige Portion Gewinn in sich tragen kann, wenn man es schafft, es nicht zu bekämpfen, sondern anzunehmen und „auszustehen“.
Mein Großvater hat immer gesagt: wie's kommt, ist es richtig.
Wenn das Leben nicht so läuft, wie man es sich wünscht oder vorstellt, wenn aus dem erhofften Glück eine Enttäuschung oder auch ein Leid geworden ist, dann soll man nicht herumsudern, sondern man soll es annehmen, soll sich damit auseinander setzen.

Jede Erfahrung ist ein Baustein für unser weiteres Leben, und oft sind die bitteren Erfahrungen gerade jene Steine, welche ein festes und sicheres Fundament für unsere Zukunft sein können. Wenn wir sie als solche erkennen und annehmen.

Ich freue mich auf weitere Beiträge von Dir, lass' uns nicht zu lange warten! :)
 
Danke dir, Steirerbua. :bussal: <-- gut aufheben bitte, bin ziemlich geizig mit sowas. :mrgreen:


Muß grad mal wieder bissl grinsen, weil: der Hauptgrund, warum ich mich (neben der Größe dieses Forums) im EF angemeldet hab war der, daß Österreich so schön weit weg von Berlin ist, ich dachte, das wär die beste Garantie, daß mir nicht eines Tages alle möglichen Leute mit Kennenlernen und Kontakten auf den Pelz rücken. :engel:

War schlau von mir eingefädelt, jetzt kenn ich hier schon allerhand Leute, und einige davon ziemlich gut und sogar persönlich und möcht denen auf den Pelz rücken hab bissl Fernweh nach Österreich. :oops:

Fernweh war immer ein "großes Thema", hab ja schon verschiedentlich erwähnt, daß ich öfter mal ausgebüxt bzw. "auf Trebe" war. War manchmal ziemlich lustig, ned nur "arm und auf der Straße". :cool:


Davon möcht ich heute erzählen.

Das "Ausbüxen" hab ich schon früh angefangen, hab ja schon mal erzählt, daß ich morgens bei Sonnenaufgang zusammen mit meiner jüngeren Pflegeschwester gelegentlich aus dem Schlafzimmerfenster geklettert bin, um mit ihr zusammen das Dorf zu erkunden, Obst und Maiskolben zu klauen usw. bis wir erwischt worden sind. Das war noch nicht "richtig" ausgebüxt, aber so einen ersten Vorgeschmack von Freiheit und weite Welt hatte ich da schon.

Das erste Mal dann "richtig" weggelaufen - wir nannten das Abhauen - bin ich dann in Italien, vom Ferienlager aus. Naja, war noch ziemlich unprofessionell, weiß gar nimmer, wie alt ich damals war, sicher nicht älter als 11 oder 12. Ich bin zusammen mit zwei anderen Mädels, an die ich mich allerdings kaum noch erinnern kann, ausgebüxt, weil uns irgendwas ganz fürchterlich schrecklich ungerecht vorgekommen ist. Muß so "schrecklich" gewesen sein, daß ich auch das vergessen hab :lol: - wahrscheinlich hatten wir keine Lust auf 'ne Bergtour oder hatten uns über eine Betreuerin geärgert, irgendwas in der Art wird's wohl gewesen sein. Wir haben uns jedenfalls heimlich mitsamt unseren Rucksäcken und dicken Strickjacken (fanden wir sehr vernünftig geplant!) davongeschlichen und kamen uns wahnsinnig abenteuerlich vor, wie wir zu dritt bei schönstem Wetter durch die Landschaft von Trentino gestiefelt sind. An Wegzehrung hatten wir nicht gedacht, immerhin hatten wir aber ein paar Lire dabei und gedachten, uns davon bei erstbester Gelegenheit Gelato zu kaufen, sobald wir einen Ort fänden.

Naja, wir fanden keinen. :mrgreen: Dafür kamen wir an elendsgroßen Plantagen voller Apfelbäume vorbei, stopften unsere Rucksäcke und Bäuche voll mit unreifen Granny Smith-Äpfeln - das sind diese hartschaligen, glänzenden, grünen Äpfel, die eh schon ziemlich säuerlich schmecken, aber wir haben uns eingeredet, daß wir davon wochenlang würden leben können. Das "wochenlang" hat sich allerdings mit zunehmender Hitze und den jetzt schweren Rucksäcken ziemlich schnell relativiert...

Keine von uns hatte eine Uhr dabei, aber wir waren ja wildniserprobt und wußten uns die Uhrzeit auch so zu bestimmen. Das geht nämlich folgendermaßen: man mache die linke Hand flach und fahre mit dem rechten Zeigefinger im Uhrzeigersinn über die Handfläche und sage dazu folgenden Spruch auf:

"Viertel, Halbe, Dreiviertel, Ganz,
Ührlein, Ührlein, dreh' dein' Schwanz.
Hast du deinen Schwanz gedreht
zeig mir, wo der Zeiger steht!"

Und wenn man den Zeigefinger am Ende des Verses still hielt, zeigte er zuverlässig genau die richtige Uhrzeit an. :cool:

Ich glaub, wir waren schon bis zum späten Nachmittag so gewandert und keine von uns wollte zugeben, daß "Abhauen" eigentlich ziemlich langweilig war, weil außer Plantagen nicht viel Aufregendes passierte, bis uns ein paar Carabinieri eingesammelt, in ihren Bus verfrachtet und ins Ferienlager zurückgebracht haben.

So viel zum ersten großen "Abhauen" in Italien.

Unsere "Uhr" war übrigens vorgegangen, als wir im Ferienlager wieder ankamen, war grad Mittagessen vorbei. Wir hatten allerdings da keinen Hunger mehr, die unreifen Äpfel... :lol:


Als ich 1 Woche nach meinem 14. Geburtstag in eine Jugendwohngemeinschaft für Mädchen nach Augsburg kam, wurd's allmählich ernster mit dem "groß sein". Das war eine Einrichtung für ungefähr 15 Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren, die ebenfalls zu der Organisation gehörte, in der ich aufgewachsen bin. Ich war froh und sehr erleichtert, dort hinzudürfen, aber die Eingewöhnung war doch erstmal - na. Also mußte erstmal geschafft werden. Diese Mädchen-WG bestand aus einer gesamten Hochhaus-Etage mit mehreren Wohnungen, die offen waren und zum eigentlichen "Treppenhausgang" führten, der mit Teppichen und allerhand Möbeln ausgestattet war, so daß das Ganze wie eine riesige Wohnung mit mehreren Wohneinheiten wirkten. Es gab dort eine Leiterin - die war bestimmt 1,90 groß und sehr voluminös, eine Frau "von", die unter anderem wohl auch eine Opernsängerinnen-Ausbildung genossen hatte, jedenfalls waren ihre Singstunden im ganzen Viertel legendär. :cool: Außerdem gab es noch eine Erzieherin, die sehr klein und streng war sowie eine Haushälterin, eine ältere, bodenständige Frau, die wir alle sehr mochten, weil die uns nie verpfiffen hat, wenn sie uns auf dem Balkon beim heimlich Rauchen erwischt hat, die außerdem göttlich kochen konnte und die abends immer nach Hause fuhr, während die anderen beiden Frauen mit in dieser WG wohnten.

In dieser Mädchen-Etage, wie wir das nannten, gab's so viele Freiheiten... ehrlich, das war toll, aber vielleicht war ich damit auch bissl überfordert. Wir wurden wenig kontrolliert oder sanktioniert, es gab feste Regeln wie Essenszeiten, Schlafzeiten, das Fernsehprogramm wurde wöchentlich von einem anderen Mädel in Absprache mit der Leiterin bestimmt, wir durften nach den gesetzlich festgelegten Jugendschutzzeiten ausgehen und im Eingangsbereich lag ein "Ausgehbuch", in das wir immer einzutragen hatten, wohin wir wollten und wann wir zurückgekommen sind. Alles sehr frei. Die Leiterin hatte bald einen Narren an mir gefressen, eines der ersten Dinge, die sie mit mir machte, war, dafür zu sorgen, daß ich statt der merkwürdigen karierten Männerhosen und Pullover, die ich hatte, eine neue Ausstattung an Kleidern bekam, weil - na, wie Mädels halt so sind: eine Neue, die ausstaffiert wie ein Clown in Männerklamotten wurde ziemlich veräppelt, noch dazu eine, die als "Oberschlaue" auf's Gymnasium ging statt wie die anderen eine Lehre zu machen.

Die jüngeren Mädels wohnten immer zu Zweit in einem Zimmer, erst später bekam man je nach Dauer des Aufenthalts dort ein Einzelzimmer. Meines teilte ich mir mit Gabi (sie hieß nicht wirklich so), ein zwei Jahre älteres, bildhübsches Mädel, das gefärbte blonde Haare hatte und mich in die ersten Schminktipps eingeweiht hat. Meiner künstlerischen Ader entsprechend konnte ich mich bald sehr aufwändig und farbenprächtig schminken und hätte damit jedem echten Clown alle Ehre gemacht. :mrgreen: Gabi und ich verstanden uns sehr gut, wir konnten gut rumblödeln und sie hat mich nicht so wie die anderen Mädels verarscht. Ich erinnere mich noch gut, wie wir oft mit unseren Kassettenrekordern "Pornokasetten" aufgenommen haben: ein Gestöhne und Geächze vom Feinsten! :cool: (wofür das Gestöhne allerdings gut sein sollte hab ich nicht begriffen). Einmal wurden wir dabei von Frau von W. erwischt und sie war empört, scheuchte uns auseinander und war ganz aufgebracht, meinte immer: "Wenn ihr wüßtet, das ist gefährlich!" - was genau gefährlich sein sollte, hat sie uns allerdings nicht erklärt.

Es gefiel mir echt gut dort, ich fühlte mich frei und irgendwie auch gemocht wie noch nie, die Triezereien von den anderen Mädels haben mich nicht so wirklich verletzt, trotzdem reifte zwischen Gabi und mir nach wenigen Monaten der Entschluß, von dort abzuhauen. Wieso? Frag ich mich bis heute manchmal, vielleicht isses wirklich so, daß wenn es einem zu gut geht, die jugendliche Dummheit sich ungehindert Bahn bricht. Vielleicht wollten wir einfach nur "Heldinnen" sein, denn es war immer wieder mal unter der Hand von Mädchen zu erfahren, die "abgehauen" waren und von denen mit einer Art Heldenverehrung gesprochen wurde, die ich außerordentlich reizvoll fand. Außerdem brach sich immer stärker auch so eine Art Fernweh und der Wunsch nach Abenteuern Bahn - ich glaubte damals noch, das läge an meinem "Zigeunerblut" (daß mein Vater gar kein Zigeuner gewesen ist, sondern nur so genannt worden ist, weil er aus Jugoslawien stammte, wußte ich damals noch nicht. Ich fand "Zigeuner" irgendwie romantisch :mrgreen:) und wollte diesem "Ruf" folgen.

Wie auch immer: Gabi und ich schmiedeten Pläne, sie hatte schon Erfahrungen, erklärte, daß die Polizei uns suchen würde, sobald man bemerken würde, daß wir abgängig wären, deshalb beschlossen wir, dafür zu sorgen, daß das nicht allzu schnell auffiel. An unsere Pässe war nicht zu kommen, die lagen bei der Leiterin, aber Taschengeld hatten wir immerhin ein bißchen. Um der Polizei ein Schnippchen zu schlagen, krikelten wir ganz geheime Notizzettelchen, auf denen "Hamburg" und "Hafen" und allerhand Geheimzeichen waren, falteten die ganz klein und steckten sie in Jackentaschen, die wir in unseren Schränken hängen ließen, damit die Erzieherinnen sie dort fänden und die Polizei auf die falsche Fährte schicken würden. Ganz schön abgebrüht, was? :engel:

Und eines schönen Morgens Ende November war es dann soweit: bei strahlendem Sonnenschein verließen wir zusammen das Haus, um zur Schule bzw. zur Lehrstelle zu fahren, in unseren Taschen statt Büchern ein paar Klamotten, bissl Geld und unsere Pausenbrote - und fuhren mit dem an den Augsburger Stadtrand, wo Gabi die Autobahnausfahrt wußte. Mein erstes richtiges, großes Abenteuer! :hurra:
 
Wir wußten zwar, wie wir nach Gersthofen zur Autobahnausfahrt kommen würden, aber wir brauchten trotzdem fast den ganzen Vormittag dorthin - vor lauter Freiheitsgefühl, Rumblödeln und Pläneschmieden waren wir nicht gerade sehr zielstrebig. Trotzdem kamen wir irgendwann dort an, und Gabis Erfahrungen kamen zum Einsatz: sie wußte nämlich, daß es besser wäre, mit einem großen LKW zu trampen statt mit normalen PKWs, weil LKWs auch über die Grenzen ins Ausland fahren konnten, ohne kontrolliert zu werden. :cool:

Das Trampen war gar nicht so einfach, weil: Gabi war ein hübsches Mädel, für das sich sicher schnell jemand angehalten hätte, aber ich hatte mich nach meinen ersten Mädel-Allüren wieder in mein schlumpiges Outfit zurückgezogen: zuppelige Haare, die ich mir meistens ins Gesicht fallen ließ und wie sie auch viele Jungs so getragen haben, Hosen und darüber ein alter, olivgrüner Männer-Parka, der mir bis an die Knie reichte und dessen Ärmel mir ca. einen halben Meter zu lang waren. Das Teil liebte ich, in dem war meine damals schon recht ausgeprägte Figur nicht zu erkennen und auf den ersten Blick wurde ich meist für einen Jungen gehalten. Wir kamen schnell überein, daß Gabi trampte und ich mich ein paar Meter im Hintergrund hielt, und nach mehreren Fehlversuchen hielt tatsächlich ein Wagen: zwar kein LKW, aber eine Frau in mittleren Jahren, die - nachdem sie gesehen hatte, daß ich kein Bub war - uns bis Schongau mitnahm, ohne uns allzu viele Fragen zu stellen, wahrscheinlich war sie einfach froh um Unterhaltung. Wir wußten zwar nicht, was wir in Schongau sollten, dachten uns aber, daß das näher bei Italien liegt als Augsburg und waren begeistert über unser Fortkommen.

Weiß nicht mehr, wie wir den Rest des Tages verbrachten, unsere Pausenbrote waren schon aufgebraucht, wir tummelten uns bissl in dem Ort und überlegten, wo wir die Nacht verbringen wollten. Es war ja November, und erste leise Zweifel, ob die Jahreszeit für's Abhauen wirklich geschickt gewählt war, machten sich schon breit, es wurde recht früh dunkel und damit auch ziemlich kalt. Eine Weile stromerten wir in der Gegend herum, bissl Elan dürfte uns dabei auch abgekommen sein, schließlich landeten wir bei einem etwas abgelegenen, stillgelegten Bahngebäude (oder war's ein Lagerhaus? Egal - es gab dort verrostete Gleise), eine etwas kiesige Grube von mehreren Metern und - heissa! - jede Menge altes Holz. Feuermachen hatte ich ja schon früh gelernt, und es hat nicht lange gedauert, da hatten wir's zumindest auf der dem Feuer zugewandten Seite warm, während uns die Kälte doch ganz schön durch die Jacken den Rücken hochkroch.

Wir beschlossen, die Nacht dort zu verbringen und abwechselnd zu schlafen, damit das Feuer anbliebe, uns nichts passieren würde und außerdem - wie sich das für Abenteurer auf der Flucht gehört - um Wache zu halten... Ich glaub, es hat keine Stunde gedauert, bis wir beide tief eingepennt waren. :oops:

Irgendwann in der Nacht bin ich dann aufgewacht, weil ich fror, allerdings waren meine Füße sehr sehr warm, sie lagen bissl in der Glut, ein gutes Stück von den Sohlen war abgeschmolzen. Amerikanische Boots - ich hab's erzählt - waren damals echte Qualitätsdinger. :mrgreen:

Eine Weile haben wir noch da gesessen, das Feuer wieder angefacht, haben erzählt von allen möglichen Zukunftssehnsüchten - so Villa am Pool in Italien mit Bediensteten und immer schönem Wetter und solchen Dingen, aber irgendwann wurde uns langweilig und wir zuckelten wieder los in den Ort, wo wir zu unserer Freude sahen, wie ein Bäcker-Lieferwagen Frühstücksbrötchen auslieferte... wir warteten, bis der weitergefahren war, und klauten uns vor zwei oder drei Häusern die Tüten mit den Brötchen und waren wieder ziemlich schnell guter Laune. :oops:

Es war noch nicht ganz hell, als wir wieder einen PKW anhalten konnten. Diesmal war der Fahrer ein Mann, was uns erst zögern ließ, aber wir waren zu verfroren, um die Gelegenheit nicht zu nutzen. Der Typ wollte nach Kempten und bot uns an, uns in der Nähe der österreichischen Grenze in Pfronten abzusetzen. Er machte einen freundlichen Eindruck - er war Ende 30, rotgesichtig und sah aus wie ich mir einen freundlichen, dicken Bierbrauer vorstellte. Er war hingerissen von Gabi, erzählte, daß seine Tochter auch so heiße und ebenfalls 16 Jahre alt wäre, und er schien zu ahnen, daß wir ausgebüxt waren, denn er bot uns an, bei ihm unterzuschlüpfen, so im Winter als Mädel allein auf der Straße wäre doch nix für uns. Aber Gabi und ich waren entschlossen: wir wollten nach Italien, deshalb lehnten wir ab, bedankten uns artig für's Mitnehmen und freuten uns, als er uns bissl Geld und seine Visitenkarte mit Telefonnummer und Adresse gab, wir sollten uns melden, falls wir es uns anders überlegen würden.

Es war noch Vormittag, als wir dort angekommen sind, und wir wußten, daß es bis Vils in Österreich nicht mehr weit wäre. Wegen der Grenze - wir hatten ja keine Ausweise - beschlossen wir, uns durch den Wald nach Österreich einzuschleichen. Zuerst gingen wir auf einem gut angelegten Wanderweg, aber uns begegneten dann zwei Männer in Uniform, die meinten, wir sollten beizeiten umkehren, weil ein Stück weiter schon Österreich anfinge. Wurde uns zu "heiß" - wir hatten keine richtige Vorstellung, wie eine Grenze genau aussah, also warteten wir, bis die beiden Männer verschwunden waren und schlugen uns dann in den Wald, um nicht gesehen zu werden. Bald stießen wir an einen Fluß (ich glaub, der heißt auch Vils?) - jedenfalls versperrte der uns den Weg nach Österreich und wir waren ratlos. Zwar war's wieder ein sonniger und relativ warmer Tag für November, aber der Fluß sah nach ziemlicher Strömung aus und wir hatten doch einiges an Gewicht in unseren Schulrucksäcken drin... nach einigem Hin- und Her entschieden wir uns aber trotzdem, den Versuch zu wagen, durch den Fluß auf die andere Seite zu kommen. Um uns das Ganze zu erleichtern, räumten wir die Rucksäcke aus, stopften die meisten mitgenommenen Kleidungsstücke in eine Jogginghose und verbuddelten das Teil unter Laub und Geäst.

Das war vielleicht 'ne Scheiße! Echt, wer mal so richtig schreien will vor Schmerzen, sollte mal so eine halbnackerte Flußüberquerung im Winter versuchen. :mrgreen:

Der Fluß war wirklich reißend, wir wären ein paar Mal fast umgerissen worden, zumal der Grund rutschig war, ein Glück, daß wir kräftige Stöcke mitgenommen hatten, um uns damit abstützen zu können... ich überleg schon immer, ob wir wirklich bis zur anderen Seite gekommen sind oder wieder umgekehrt sind, ich weiß es echt nicht mehr. Aber irgendwann waren wir aus dem Wasser draußen, waren dermaßen angefroren, daß wir Schwierigkeiten hatten, wieder in die Klamotten zu schlüpfen - und wie mir danach von den Zehen aufwärts bis zum Bauchnabel (so tief waren wir im Wasser gewesen) die Haut gebrannt hat wie Feuer. Also nicht empfehlenswert.

Wie wir die Grenze dann wirklich überquert haben - also wir haben's gar nicht mitgekriegt, war ja einfach nur ein Wandern durch den Wald. Wir waren bissl kleinlaut wegen dieser Flußaktion, aber als wir dann Reutte erreichten, stieg unsere Laune wieder. Wir kauften uns bissl was zum Essen, das ging sogar mit den D-Mark, allerdings fiel uns danach auf, daß man sich vielleicht merken würde, daß da zwei Mädels mit deutschem Geld bezahlt hatten, deshalb guckten wir, daß wir schnellstmöglich weiterkamen. Fanden sogar diesmal einen LKW, der uns bis Innsbruck mitgenommen hat. Das war mal ein geiles Gefühl! :mrgreen:

Ist von euch schon mal jemand in so einem 30-Tonner mitgefahren? War gar nicht so einfach, in die Fahrkabine raufzuklettern, und wie Gabi mir schon erzählt hatte, gab's da drin hinter den beiden Sitzen so Schlafkojen mit zwei übereinanderliegenden Schlafplätzen hinter einem Vorhang. Schade, daß der LKW nicht weiter bis Italien fuhr, aber ich fand's irrsinnig aufregend, so weit oben vom Führerhaus nach unten auf die Straße und den PKWs auf's Dach zu gucken. :hurra:

Wie lange die Fahrt bis Innsbruck gedauert hat weiß ich nicht mehr, aber es war toll, warm und der LKW-Fahrer teilte seine Brotzeit mit uns. Es war außerdem lustig, der Fahrer war so ein Dampfplauderer, der besonders mit Gabi ziemlich rumgeschäkert hat. Man möcht's nicht glauben, aber ich war trotz meiner Erlebnisse ein ziemlich naives Gör, jedenfalls: als wir bei Innsbruck angekommen waren hab ich nicht so wirklich kapiert, warum ich eine Weile aussteigen und in einem Café auf Gabi warten mußte, während sie im LKW geblieben ist. Als ich sie abholte, stieg der Fahrer mit aus und drückte mir einen nassen Kuß auf den Mund, der mich ziemlich überrumpelt hat. Außer "Ihh, is ja naß" fiel mir allerdings nichts dazu ein und Ferdl (so hieß der) lachte bloß, sagte irgendwas von "Kind" und verabschiedete sich dann.

Himmel, die Geschichte wird länger als ich dachte, und wir sind immer noch nicht in Italien... ich werd ein andermal weiter erzählen, wir haben's jedenfalls tatsächlich bis Italien geschafft, haben davor eine Nacht in Innsbruck auf einem abgestellten kleinen LKW-Anhänger zwischen eingeschweißten Teppich-Rollen verbracht (kein Übernachtungstipp, in Folie eingeschweißte Teppiche wärmen nicht besonders gut, haben dort noch vor Sonnenaufgang in einem Schrebergarten zwei einsame Wirsing-Kohlköpfe geklaut (kein Privianttipp - roher Kohl ist ungenießbar) und haben festgestellt, daß in Italien an fast allen Fernstraßen Schilder mit "No Autostop" standen, daß ungewaschene Mädels nach ein paar Tagen stinken wie Iltisse (kein Kosmetiktipp - Schweiß und Deospray in Kombination steigert von Iltis auf Skunk, echt!) und sind immerhin bis Modena gekommen, wo wir beschlossen, mit einem anderen LKW wieder zurück nach Deutschland zu fahren, wo wir hofften, bei dem netten Kemptener, der uns bis Pfronten mitgenommen hatten, unterkriechen zu können.

Für heute mal wieder genug, die Rückreise mit einem 30-Tonner voller Ketchup über den Brenner bei Glatteis erzähl ich beim nächsten Mal. :mrgreen:

Auf dem angehängten Foto bin ich mit einigen Klassenkameraden zu sehen, so hab ich damals ausgesehen, allerdings "ordentlich" und ohne meinen geliebten Parka:

Anhang anzeigen 604764
 
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Wie wir in den LKW nach Italien gekommen sind, ob der Fahrer auch Ferdl hieß, ob das derselbe Ferdl oder ein anderer war oder ob - wie in meiner Erinnerung - LKW-Fahrer alle Österreicher sind, die Ferdl heißen - ich weiß es nicht mehr. :lol:

Jedenfalls: Gabi und ich hatten also wieder unseren Platz im LKW-Führerhaus gefunden, genossen die Fahrt aus dem winterlichen Österreich über den Brenner - hinter dem Vorhang der Schlafkabine versteckt - ins sonnige und noch einigermaßen warme Italien, waren bester Laune und bestens versorgt mit Brotzeit und Getränken, einmal hatten wir sogar die Gelegenheit, in einer für Fernfahrer eingerichteten Station zu duschen, eine Wohltat!

Ferdl, unser ziemlich kerniger, immer lustiger Fahrer, schien unsere Gesellschaft zu genießen, zu mir war er immer nett und humorig, Gabi mochte er sehr. Ich denk heute so im Rückblick, daß ich's ihr zu danken hab, daß ich während dieser ersten größeren Trebe noch ein bissl Kind sein durfte - ich verstand die zweideutigen Schäkereien und Signale zwischen den beiden nicht und sie hat mich nie darüber aufgeklärt, auf welche Weise sie unsere Mitfahrgelegenheit mit Ferdl entgolten hat.

An diese Fahrt nach Modena erinnere ich mich nur noch in einzelnen Bildern - ich sehe sonnige Landschaft, verfallene Gebäude, einsame Ortschaften jenseits der Touristengegenden, erinnere mich an ein Spaghetti-Essen in einer sehr einfachen Cafeteria, wo die langen Nudeln in rötlichem Fett mit Knoblauchgeschmack schwammen und man uns Mädeln zeigte, daß man die "richtig" ohne den feinen Löffel am Tellerrand auf die Gabel aufwickelte und den Überhang einfach abbiß. Diese Fahrt war voller "große weite Welt", starken schwarzen, sehr süßen Kaffee in winzigen Täßchen und einem orangefarbenen bitteren Getränk, das wohl irgendwas Wermuthaltiges war und mir nicht schmeckte.

Von mir aus hätte es ewig so weitergehen können, aber weiter als bis Modena ging's nicht - dort hatte Ferdl seine Ladung abzuliefern und nach einem halben Tag Umladen die neue Fracht - Ketchup! - nach Deutschland zu liefern. Wir freuten uns, mit ihm weiter mitfahren zu dürfen, und auch wenn ich nicht so richtig verstand, warum Gabi plötzlich nicht mehr in Italien bleiben wollte, so war ich doch ganz zufrieden damit, ein nächstes konkretes Ziel zu haben, nämlich: diesen Kemptener, dessen Visitenkarte wir noch hatten, anzurufen und um Unterschlupf zu bitten, sobald wir wieder in Deutschland waren.

Die Fahrt nach Deutschland verlief etwas verhaltener als unsere Reise nach Italien, wir waren übermüdet und Gabi schien ein bißchen in sich gekehrter. Ferdl versuchte für Stimmung zu sorgen und trank schon während der Fahrt zum Brennerpaß eine ganze Menge Cinzano, was ihn ziemlich redselig und laut werden ließ und die Fahrt über die mittlerweile ziemlich vereisten, schneeigen Straßen manchmal etwas abenteuerlich werden ließ. An der Grenze - für die LKWs gab's immer eine eigene Abfertigung - mußten wir eine ganze Weile stehen, was Gabi und mich in unserem Versteck hinter dem Vorhang etwas beunruhigte, aber dann war's geschafft und wir konnten weiterfahren, zurück in das mittlerweile verschneite Deutschland. Einmal wäre der LKW fast abgerutscht, es war auf einer ziemlich steilen, vereisten, kurvigen Straße, wo die Anhänger plötzlich schlingerten und wir langsam rückwärts rutschten. Ferdl schrie und fluchte und brachte den LKW zum Heulen, und obwohl ich nicht so richtig verstand, was da los war: Angst hatte ich da ganz schön. :mrgreen:

Der Rest der Fahrt verlief ruhig, Gabi und ich schliefen abwechselnd in den Kojen, Ferdl wurde immer mürrischer und betrunkener, und wir waren schließlich erleichtert, als er uns noch im Dunkeln nach durchfahrener Nacht sagte: "Mittenwald, hier lasse ich euch raus". Er versorgte uns noch mit einer neuen, vollen Flasche Cinzano, wünschte uns alles Gute und fuhr dann davon, während wir an einer verschneiten, einsamen Landstraße irgendwo oberhalb von Mittenwald standen. Saukalt war uns, und weil wir irgendwo mal gehört hatten, daß Alkohol warm macht, fingen wir an, den eiskalten Cinzano zu trinken. Weiß nicht, wie lange wir gebraucht haben, irgendwann war die Flasche jedenfalls leer und wir voll wie die Haubitzen. :mrgreen:

Gefroren hat uns nicht mehr, oder jedenfalls anders als vorher: das Frösteln war nicht mehr schlimm, weil's im Bauch warm war... wir taumelten eine ganze Weile so die Straße entlang, wollten Mittenwald bald erreichen und von dort aus unseren Kemptener anrufen, aber der Weg war länger als gedacht und wir fingen wieder an zu frieren. Glücklicherweise kamen wir an einer etwas abschüssig gelegenen Wiese vorbei, auf der ein großer, stabiler Heuschober stand. War nicht so leicht, den zu knacken, aber nach einer Weile gelang es uns doch, die mit einer Kette versperrte Tür auszuhängen, in den Schober zu kriechen und uns dort eine Schlafkuhle in die Unmengen von Heu zu buddeln. Warm war's, erschöpft und blau waren wir eh, wir sind ziemlich schnell tief eingeschlafen.

Wie gefährlich das wirklich war, weiß ich zwar nicht, jedenfalls: irgendwann, draußen war's schon hell, wachte ich auf, weil durch die angelehnte Tür Schnee in mein Gesicht geweht wurde. Mir tat alles weh, die Augen tränten und ich bekam nur mühsam Luft, die Lunge brannte bei jedem Atemzug ganz fürchterlich und mein Schädel pochte, als wär ein Zug drübergerollt. Lag an dem Heustaub, glaub ich - Gabi wachte nur mühsam auf, als ich sie schüttelte, und als wir aus dem Schober rausgekrochen sind, dauerte es eine Weile, bis wir mit dem Husten aufhören konnten und wieder einigermaßen klaren Kopf hatten. Aber der Kater, den wir hatten, brummte noch gewaltig!

Wir gingen weiter die Straße in Richtung Mittenwald, passierten dabei auch eine Kaserne, in deren Hof gerade der Morgenappell stattfand, das fanden wir lustig, und schließlich kam endlich ein Auto heran, dem wir unsere Tramperdaumen entgegenhielten. Was waren wir froh, mitgenommen zu werden! Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren, wir waren jedenfalls höllisch durchgefroren, als wir endlich in der Nähe von Kempten anlangten, Peter, so hieß "unser" Kemptener, erreichten und von ihm abgeholt und zu ihm nach Hause gebracht wurden. Gabi schien ernsthaft erkältet zu sein inzwischen, sie bibberte wie Espenlaub, hatte glasige Augen und hustete immer wieder krampfhaft. Mir ging's etwas besser, aber es dauerte trotz heißer Dusche, warmen Decken und viel heißem Tee fast eine ganze Nacht, bis ich aufhören konnte zu zittern und mir wieder warm wurde. War sicher nicht das erste Mal, daß ich dachte, daß November/Dezember zum Abhauen nicht grad die geeignete Saison wären. :roll:

Dieser Peter war sehr freundlich uns gegenüber, zeigte sich besorgt, holte Aspirin für Gabi aus der Apotheke und versorgte uns mit warmer Rindsbrühe und Tee. Seine Wohnung war bissl altmodisch mit Ölofen (der gefiel mir, sowas kannte ich noch nicht, da mußte man das Öl immer in Kannen aus dem Keller holen, um den Ofen damit zu beheizen), bissl angestaubt und wirkte so, wie vereinsamte Männerwohnungen oft wirken, wenn Frau und Kinder verschwunden sind. Er hatte uns davon erzählt, daß er eine Tochter hätte, die auch Gabi hieß und daß diese Tochter bei seiner Frau lebte. Wovon er lebte weiß ich nicht - tagsüber ging er zur Arbeit, abends kam er nach Hause, freute sich, wenn wir was gekocht hatten (was nicht so leicht gewesen sein kann, wir konnten nämlich nicht kochen) und führte sich liebevoll und väterlich auf.

Besonders Gabi hatte es ihm angetan, bald "durfte" sie sogar in seinem Ehebett schlafen. Ich Kindskopf hielt das für ein besonderes Zeichen von Zuneigung.

Wie auch immer: wir blieben eine Weile dort, langweilten uns tagsüber ein bißchen, was Peter damit zu lindern versuchte, daß er uns alle möglichen Groschenromane und eine Kiste voll mit Utensilien zum Herstellen von Stoffblumen besorgt hat - er meinte, wenn wir die fertigstellten, würden wir dafür sogar etwas Geld bekommen. Ob das stimmte? Egal, diese Bastelei machte uns nur kurze Zeit Spaß, und es dauerte nicht lang, da begannen wir uns zu langweilen und das Verhältnis zwischen Peter und uns wurde angespannter. Er schien nicht mehr so begeistert, daß wir bei ihm untergeschlüpft waren, immer öfter sprach er davon, daß wir beiden sicher gesucht würden und er sich strafbar mache, weil er uns bei sich aufgenommen hätte. Gabi war wieder krank geworden - glaubte ich jedenfalls - sie wurde immer blasser und bekam immer häufiger Asthmaanfälle, was zur Folge hatte, daß Peter eines Tages ankündigte, er werde wohl besser das Mädchenwohnheim in Augsburg anrufen und uns am nächsten Tag zurückbringen.

Das Ganze hatte inzwischen so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Duft der großen weiten Welt und Abenteuern, wie ich mir das vorgestellt hatte!

Als Peter nach seiner Drohung wieder mal außer Haus war, fing Gabi an zu weinen und zitterte und bekam dann wieder einen ihrer Erstickungsanfälle, und sie meinte, wir müßten dringend weg, bevor Peter uns verpfeifen würde, außerdem wäre er sowieso ein Dreckschwein. Ich naives Ding, verstanden hab ich damals immer noch nicht, was los war, aber ich hatte plötzlich so eine dumpfe Ahnung, die ich zwar nicht greifen konnte, aber es stand für mich außer Frage, daß sie Recht hatte. Wir beschlossen, uns an diesem "Verräter" zu rächen und machten uns auf die Suche nach Geld. Fündig wurden wir zunächst aber nicht, also erweiterten wir die Suche auf den Keller, wo wir immerhin einen Rucksack mit Fischereizubehör und einem scharfen Messer fanden, das eine lange, gebogene, dünne Klinge hatte und in einem Lederfutteral steckte. Draußen auf der Straße stand Peters Auto, ich stand Schmiere, während Gabi den Wagenschlüssel holte und im Auto nachsah, ob es etwas für uns Nützliches darin gab. Und sie wurde fündig, sein Portemonnaie mit ziemlich viel Geld war darin, fast 300 Mark!

Ich war ganz aufgeregt, so viel Geld! Aber Gabi war merkwürdig, angespannt, sie sah aus als wäre ihr schlecht und drängelte nur, daß wir schnell weg müßten, bevor Peter wiederkäme. Also machten wir uns auf die Beine, liefen so schnell wir konnten durch Kempten, bis wir an einer etwas abgelegenen Straße einen guten Platz zum Trampen fanden. Dort war wenig los, und wir besprachen, wie es weitergehen sollte. Gabi war immer noch merkwürdig, aber ruhiger, weinte zwischendurch bißchen und sagte, sie wolle nur noch "zurück" nach Hause zu ihrem Freund. Das hat mich überrascht, ich hatte gar nicht gewußt, daß sie einen Freund hatte, und als sie fragte, was ich als nächstes vorhätte, war ich ratlos, sie wollte mich also nicht mitnehmen. Also beschloß ich, einfach zurück ins Mädchenwohnheim zu fahren, alleine wollte ich nicht bleiben. Wir teilten das geklaute Geld auf, dann standen wir ziemlich stumm da und hielten unsere Daumen raus, um eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Bald hielt auch ein Wagen - ein richtig großer, teurer, und ein eleganter, südländisch aussehender Mann lud uns zum Einsteigen ein. Gabi setzte sich auf den Beifahrersitz, ich hinter den Fahrer, und los ging's. Der Mann quasselte und schien an Gabi Gefallen zu finden, und ich weiß nicht mehr wie: plötzlich hatte er eine Flasche Sekt oder sowas hervorgekramt und reichte sie herum.

Kam mir irgendwie komisch vor, vor allem als ich bemerkte, daß er nur so tat, als trinke er, bevor er die Flasche an Gabi weiterreichte, die reichlich davon trank und die Flasche an mich weitergab. Schmeckte eklig, das Zeug, aber Gabi schien es zu schmecken, sie wurde immer lustiger. Inzwischen stand der Wagen am Straßenrand, und mir wurde immer mulmiger, und als ich sah, daß der Mann Gabis Kopf zu sich auf den Schoß zog, fielen mir plötzlich die Aktenzeichen XY-Filme wieder ein und ich begriff auf einmal, was da passierte. Das war ein Scheiß Gefühl, ich hatte nicht geglaubt, daß sowas echt passiert... irgendwie war ich dann auf einmal ruhig und überlegte. Gabis Trick, den sie mir mal erzählt hatte, in solchen Fällen eine Zeitung anzuzünden und auf den Rücksitz zu werfen, kam nicht in Frage - ich hatte keine Zeitung und außerdem saß ich selbst auf dem Rücksitz. Aber das Messer hatte ich im geklauten Rucksack, das zog ich also raus und kam mir dabei ziemlich blöd vor. Mit dem Messer klopfte ich dem Mann auf die Schulter, weil an seinen Hals traute ich mich nicht, und sagte irgendsowas wie "Kuck mal, ich hab ein Messer", aber es reichte auch so: er drehte sich um, sah das Messer und wurde zu meinem Schrecken gleich saumäßig wütend, schrie los, daß wir kriminelle Weiber wären und sofort seinen Wagen verlassen sollten, bevor er die Polizei rufe.

Blöde Situation! Gabi wirkte irgendwie benommen und schien nicht so recht zu verstehen, was überhaupt los war, aber sie stieg aus, und ich schaute noch ganz irritiert auf mein Messer, als der Mann von außen die Tür auf meiner Seite aufriß und immer wieder brüllte, wir sollten abhauen, bevor er es sich anders überlegte.

Ich glaub, als Kriminelle war ich nicht so richtig überzeugend. :roll:

Als ich ausgestiegen war, fühlte mich wie ein begossener Pudel und schaute zu, wie der Mann davonfuhr. Und Gabi kicherte und konnte nicht mehr aufhören. Dann mußte ich auch kichern, wie zwei lachende Hühner gackerte wir da rum und es dauerte eine Weile, bis wir uns auf den Weg machten zu dem Ort, den wir ein Stück entfernt sahen und wo es gleich nach dem Ortseingang eine Telefonzelle gab. Gabi rief ihren ominösen Freund an, dann bat sie mich, noch eine Weile zu warten, und verabschiedete sich von mir und ging weg. Ich hab sie nie wieder gesehen.

Der Rest ist dann schnell erzählt, ich rief im Mädchenwohnheim an, sagte, wo ich war, und wurde nach einiger Zeit von der Leiterin des Mädchenheims abgeholt, wir waren nicht weit von Augsburg entfernt gewesen. Kein bißchen heldenhaft hab ich mich gefühlt, wußte auch nicht so recht, was ich auf die vielen Fragen und Vorwürfe antworten sollte, also blieb ich erstmal stumm. War merkwürdig, das Zurückkommen in die WG. 5 Wochen waren wir weg gewesen, und die Mädels dort schauten mich irgendwie beklommen und auch - na, irgendwie auch bewundernd an. Zu reden gab's auch erstmal nicht viel, ich war froh, erstmal ins Bad verschwinden zu können, ausgiebig im heißen Wasser zu sitzen, und irgendwann fing ich an zu heulen und wußte eigentlich nicht warum.

War komisch, es kamen dann wenig Vorwürfe, die Köchin versorgte mich mit kräftigem Abendbrot, schaute mich dabei ganz lieb an, die Leiterin war auch ziemlich milde und schickte mich erstmal ins Bett, wir würden am nächsten Tag miteinander reden, und ich muß zugeben, es war einfach ein gutes Gefühl, wieder daheim zu sein und zu wissen, daß ich im eigenen Bett lag. Gabi hat mir gefehlt, es war ungewohnt, allein im Zimmer zu liegen.

Ich wurde wegen "Schwänzen" vom Gymnasium verwiesen und kam auf die Hauptschule. So richtig bestraft wurde ich nicht, Frau von W. war freundlich, sagte, wie enttäuscht sie von mir wäre, weil wir doch immer gut miteinander ausgekommen waren und fragte mich, wie ich mir unseren Neuanfang vorstelle. Da fühlte ich mich dann nur noch jämmerlich. Ich erzählte ihr, daß wir Geld geklaut hatten und gab es ihr, wollte reinen Tisch machen, und sie versprach, das Geld diesem Peter zurück zu schicken. Zur Polizei mußte ich auch noch, um zu erzählen, wo wir während der 5 Wochen gewesen waren. Die wollten alles ganz genau wissen, vor allem über diesen Peter, und ob er mit mir oder Gabi "etwas gemacht" hätte.

Weiß nicht, warum, irgendwie dachte ich, ich müßte Gabi schützen und verneinte das.

Später gab es dann von Peter eine Anzeige wegen Diebstahls. Gab eine Gerichtsverhandlung, ich wurde zu 3 Wochen Arrest verurteilt, die ich während der Sommerferien abzusitzen hatte. War eine interessante Erfahrung, vielleicht erzähl ich irgendwann davon, jedenfalls: auch dort hat man mir die Kriminelle nicht so richtig abgenommen, nach einem Besuch in der JVA beschloß der Jugendrichter, mich vorzeitig nach Hause zu schicken.

Tja, so hab ich meine "Karriere" gestartet, ziemlich geknickt und mit dem Gefühl, alles vergeigt zu haben. Aber für die Mädels in der WG war ich von da an so eine Art "coole Sau", mit der sich alle gerne befreunden wollten und ich hab sie in dem Glauben gelassen. :oops:


Achja, ein Nachspiel gab's auch noch. Fast ein Jahr später kamen zwei Kripobeamte in das Mädchenwohnheim und befragten mich. Man hatte bei der österreichischen Grenze im Wald unsere verbuddelten Klamotten gefunden und kurz sogar befürchtet, daß das eine Leiche wäre. Sie hatten tatsächlich herausgefunden, woher die Kleidungsstücke stammten und wollten von mir bestätigt kriegen, wie genau die da in dem Wald gelandet waren. Klingt vielleicht blöd, aber das hat mir dann doch gefallen, ich kam mir bei der Vernehmung doch ein bißchen heldenhafter vor als beim Ende meiner ersten größeren Trebe. :mrgreen:
 
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Nach einiger Überlegung bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich über meine weiteren "Treben" an dieser Stelle nicht erzählen werde, paßt nicht so recht hierher.

Ob das, was ich nachfolgend erzählen will, für's Steirer-Stüberl geeignet ist, weiß ich zwar auch nicht, aber mir ist wieder so nach karierte-Deckchen-auf-Knie-Stimmung und außerdem haben mein Mann und ich kürzlich einen Tagesausflug gemacht, unter anderem für mich eine Reise in ein Stückl Vergangenheit, die ich sehr schön fand.

Hab weiter oben ja von unseren eigentlich doch luxuriösen, jährlichen Ferienlagern berichtet und daß ich das Rumkraxeln in den Bergen nicht so besonders toll fand. Ein Mal haben wir aber eine Reise gemacht, an die ich mich noch gut erinnere und die für mich was Besonderes war, nämlich zur Familie meiner Pflegemutter in die DDR.

Ich weiß nicht mehr so ganz genau, wann das war, ich dürfte so etwa 10 Jahre alt gewesen sein. Was ich damals über die DDR "wußte": daß das ein Land wäre, in dem lauter böse Polizisten und "Geheime" sind, die unsere Päckchen aufmachen, die wir rüberschickten, die Telefonate abhörten und die Menschen an den Grenzen erschießen. Die Propaganda - erzählt und auch das, was über's Fernsehen so gezeigt wurde, war der richtige Stoff, um Kindern so eine Art Mordor-Welt zu vermitteln.

Meine Pflegemutter stammte aus der "Zone", genauer: ihre gesamte Familie lebte dort, sie war als Einzige im Westen gestrandet und hat ihre Familie jedes Jahr dort besucht. Wie sie's geschafft hat, für uns alle - wir waren 7 Kinder - dorthin mitnehmen zu dürfen, frage ich mich heute, sicher waren damit einige Anträge bei der Organisation, bei den verschiedenen zuständigen Jugendämtern usw. nötig. Wie auch immer, wir fuhren während der Osterferien dort hin, und das war damals noch ein ziemlicher Akt: wenn ich Steirerbuas Beschreibungen über die Reisen in seiner Kindheit zum Bauernhof lese, dann muß ich schmunzeln, weil so ähnlich aufwändig war's bei uns auch: Gepäck, Koffer, Rucksäcke und Proviant, wir wurden zwar mit dem VW-Bus der Einrichtung in die nächste Kreisstadt gefahren, aber ab da war's dann abenteuerlich: der Zug hatte noch so eine schöne, qualmende Dampflok, die fand ich immer klasse, auch wenn's blöd war, weil wir nie die Fenster im Waggon aufmachen durften. Bis das alles erstmal verstaut war! :roll:

Wir paßten nie alle in ein Abteil, und die Fahrt ging erstmal bis Stuttgart, wo wir dann in einen "richtigen" Zug, das heißt: einen mit E-Lok - umgestiegen sind. Immer ein ziemlicher Wirbel!

Mein erster bewußter Eindruck von der DDR war an der Grenze, wo wir einen für mein Gefühl ziemlich langen Aufenthalt hatten - fühlte sich ziemlich beklommen an, weil die strengen Männer in der Uniform nicht gelächelt haben, weil die kamen, unsere Pässe nahmen, wieder gingen und weil im Nachbarabteil einer Familie offenbar ihr Gepäck gründlich durchsucht worden ist und man ihnen ein Monopoly-Spiel, das sie dabei hatten, weggenommen wurde. Wir saßen in unseren Abteilen brav wie die Klosterschüler und hofften, daß uns nichts passieren würde.

Was für eine Erleichterung, als die Uniformierten ausgestiegen waren, die Zugtüren zufielen und der Zug sich endlich wieder in Bewegung setzte!

Eines der ersten Dinge, die ich in der DDR dann sah, hat sich mir so tief eingeprägt, daß ich bis heute gern davon erzähle, nämlich: ich sah bei einem Halt vom Zugfenster aus eine Frau in einem blauen Arbeitsanzug, die Kohlen schippte. Was für eine Sensation! Ich war so begeistert, ich dachte: hier dürfen die Frauen arbeiten, so richtig wie Männer! und in dem Moment waren all meine Gruselängste vor diesem bösen Land wie weggefegt, ich wünschte mir, auch dort zu leben. :mrgreen: Kann man vielleicht nur verstehen, wenn man weiß, daß zur damaligen Zeit noch immer galt: Mädchen werden heiraten, Kinder kriegen und Mann und Haushalt versorgen, egal, was sie gelernt hatten. Das wollte ich nie, diese Vorstellung hatte mir von klein auf zutiefst mißfallen. Daß eine Frau so "kerlig" aussehen und richtig malochen durfte, schien mir wie ein Blick ins Paradies.

Was mir als nächstes auffiel: es gab in der DDR kaum Reklame. Das wirkte merkwürdig fremd, alles sah so grau in grau aus: die Häuser waren zweckmäßige Kästen, kaum Leuchtreklamen - man könnte sagen, die DDR wirkte wie ein Film in schwarz-weiß. Farbig wurd's erst, als wir am Ziel ankamen.

Die Familie meiner Pflegemutter lebte in Sachsen-Anhalt in einem kleinen Ort namens Steutz, das ist in der Nähe von Zerbst, ihr Vater hatte dort die Pfarrei, das Pfarrhaus, das direkt neben der Kirche war, war ziemlich groß, und drum herum gab's einen Zaun. Der ganze Komplex war für Kinder wie geschaffen, es liefen dort zwei Schafe herum, Hühner, die nicht immer im Gehege waren, das Haus hatte großzügige Zimmer und altmodische Betten, die ich einfach klasse fand, unter den Bettdecken versank man wie aus Bergen von Federn, so kam mir das vor. Die Schlafzimmer hatten keine Heizungen, da tat uns die Oma immer abends einen warmen Ziegelstein, eingewickelt in ein Handtuch, ans Fußende. Geheizt wurden nur die Wohnräume, da gab es so große Kohleöfen, und den Trick, wie man dafür sorgt, daß die Glut über Nacht bis zum Morgen hält, weiß ich heute noch: einfach ein Steinkohlebrikett in nasses Zeitungspapier wickeln und auf die Glut legen. :cool:


Als wir vergangene Woche so um die Kirche herumgingen - ich hab sie wiedererkannt, obwohl jetzt oben auf der Kirchturmspitze ein Wetterhahn ist, ich meine mich zu erinnern, daß da früher einfach eine Kugel war, auf diese Kugel durften wir mit einem Luftgewehr schießen - sind die Erinnerungen nur so geströmt. Für uns Kinder war's ein Paradies: wir lernten, wie man Hühner mit Würmern versorgt: den Boden erst mit dem Schlauch naß machen, dann einen metallenen Stab, der an einer Autobatterie angeschlossen war, in den Boden stecken, das trieb die Regenwürmer in Windeseile aus dem Boden, und die Hühner waren ganz gierig darauf. Abends gingen die Hühner freiwillig in ihren Stall, und der wurde immer gut verschlossen, damit der Fuchs dort nicht einbrechen konnte. Gesehen hab ich den leider nie, ich bin unter'm Beobachten am Abend durch's Fenster immer müd geworden und eingeschlafen. Dafür durften wir morgens immer in den Nestern die Eier suchen, das hat Spaß gemacht :hurra:

Anhang anzeigen 611994

Oben auf dem Kirchturm hausten ein alter Uhu und viele Tauben. Eines Nachts sind die Erwachsenen mit den Jungs (wir Mädchen durften nicht mit :mad:) hochgestiegen, haben die Tauben mit Taschenlampen geblendet, so konnten sie sie einfach nehmen, ihnen die Hälse umdrehen und am nächsten Sonntag gab's gefüllte Tauben zu Mittag. Das Rupfen durften wir Mädchen machen.

Nicht nur der Opa, auch der älteste Bruder meiner Pflegemutter war Pfarrer, der ebenfalls dort im Pfarrhaus wohnte und mehrere Kinder hatte, außerdem gab es noch einen jüngeren Bruder, den wir alle klasse fanden: er muß so Anfang, Mitte 20 gewesen sein, ein kräftiger Typ mit dunklen Locken und Vollbart, der ein Motorrad hatte - so ein großes, schwarzes Ding, das einen Höllenlärm und viel Qualm machte :mrgreen: - auf dem hat er uns abwechselnd durch die Gegend kutschiert, was bei den gepflasterten Straßen ein erschütternd zähneklapperndes Erlebnis war... dieser Onkel hatte aber noch mehr drauf, er war in der Kirche der Orgelspieler, und einmal hat er uns dort statt Kirchenliedern lauter schmissig-peppige Popmusik vorgespielt. Das fand ich toll, so 'ne Laune in der Kirche war ja sonst nicht so üblich.

Ansonsten war die Kirche dort irgendwie gruselig, weil immer irgendwie auch die halblauten Erzählungen von Spitzeln, Vorsicht, Spionen unter den Kirchgängern mitschwangen.

Die Landschaft dort in der Gegend ist besonders, flach, Felder, wohin man schaut, gelegentlich kleinere Ortschaften mit vielen dieser typischen romanischen Feldsteinkirchen, Bäume und Büsche begrenzen die Felder und bieten eine willkommene Unterbrechung in dieser ansonsten sehr weiten, irgendwie melancholisch wirkenden Landschaft. Ich hab sie jedenfalls sofort wiedererkannt. Steutz selbst liegt an der Elbe, und dort sind wir dann auch oft gewesen, haben lange Spaziergänge durch das auch damals schon ausgewiesene Vogelschutzgebiet. Einmal ist uns direkt aus dem Himmel ein halbes Huhn vor die Füße gefallen :cool: - ein Habicht hatte wohl nicht ordentlich zugepackt und seine halb gefressene Beute unterwegs verloren.

Am Elbufer wuchs so eine alte Wasserweide, ein großer Ast hing weit über das Wasser, daran hing ein Tau, an dem wir Kinder uns vom Ufer aus unter lautem Tarzan-Gebrüll in den Fluß schwingen ließen, um uns dort mit Karacho ins Wasser schleudern zu lassen... das war erst der Hit!

Unser Taschengeld war dort viel Wert. Ich weiß nicht, wie die Tauschvorschriften waren, soweit ich weiß, mußte die Mutter für jeden Tag 25 DM in DDR-Geld umtauschen und verbrauchen, ob für uns Kinder derselbe Betrag an Devisen eingetauscht werden mußte weiß ich nicht. Wie auch immer: wir hatten genug, um uns für 5 oder 10 Pfennige ein Eis zu kaufen, das so cremig-vanillig war, das hat ein mobiler Verkäufer immer in so halben, weichen Waffeln verkauft, wir haben das geliebt! Es war ganz ungewohnt, daß wir dort angehalten wurden, unser Taschengeld auch aufzubrauchen, sonst waren wir's gewohnt, jedes Zehnerl, das wir ausgeben wollten, gründlich zu durchdenken, bevor es ausgegeben werden durfte. Dort in der DDR war's anders: einmal sind wir in Zerbst im Spielwarengeschäft gewesen, um dort unser Geld 'sinnvoll' auszugeben - ich hab mir einen hellbeigen Teddybär gekauft, der einen weißen Bauch hatte und innen mit Holzwolle gefüllt war. Ich erinnere mich noch, wie empört ich war, weil es den gleichen Teddy auch in Hellblau gegeben hat, ich dachte, man wüßte in der DDR wohl über diese Tiere nicht besonders gut Bescheid. :mrgreen:

Aber den größten Teil meines Taschengeldes hab ich für Bücher ausgegeben: die waren unglaublich preiswert, und vor allem gab es in der DDR Kinder- und Jugendbücher in einer Auswahl, die ich grandios fand: dünnes Papier zwar, die Umschläge meist einfache Zeichnungen auf Pappe, aber Schätze, mit denen ich meinen Rucksack so gut gefüllt hab, daß ich Mühe hatte, ihn alleine zu tragen. Meine größte Angst bei der Heimreise bestand darin, daß mir die bösen Männern in Uniform meine Bücher an der Grenze wegnehmen könnten, daß diese Gefahr bei der Ausreise aus der DDR nicht bestand, hab ich damals noch nicht gewußt.

Es ist schon seltsam: diese Ferien waren die schönsten von allen, die ich als Kind genossen hab, das Leben in diesem kleinen Dorf war so übersichtlich, ich mochte es so, mit Hühnern und den beiden Schafen jeden Tag direkten Kontakt zu haben, es war alles so unbeschwert trotz dieser Munkeleien über Spitzel und Verrat, in dem Dorf konnten wir Kinder ungehindert überall rumrennen, alle waren zu uns freundlich... ich wäre gerne dort geblieben, mir hat's gefallen, ich konnte das mit den Gruselgeschichten nicht in Einklang bringen.

Den Ort selbst hab ich bei unserem Besuch letztens übrigens nicht mehr erkannt. Alles "in Farbe", adrett und gepflegt, und ich hab die kleine Hoffnung, dort vielleicht auf einen alten Menschen, der sich an jene Zeit vor 40 Jahren noch erinnern könnte, schnell aufgegeben.

Wer weiß, wofür das gut war. Die Kirche sieht heute kleiner aus, als sie's damals war.
 
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Nach einiger Überlegung bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich über meine weiteren "Treben" an dieser Stelle nicht erzählen werde, paßt nicht so recht hierher.

Ach was, Fritzie .... die spärlichen bis ausbleibenden Kommentare zu Deinen geschilderten Erlebnissen haben Dich wohl zu diesem Entschluss kommen lassen. Aber ich denke, so ist das nicht zu sehen.
Der Steirer hat ja seinerzeit - wenn ich mich recht erinnere - diesen Thread erstellt, um dem Antonius und seinen Erinnerungen an frühere Zeiten eine Plattform zu geben, da er diese ungeordnet und unsortiert überall dort postete, wo es ihm gerade in den Kopf kam.
Er, der Antonius, hat das dann nicht oder nicht mehr genutzt, aber auch seine Kindheit hat sich grundlegend von unseren "wohlbehüteten" Familienverhältnissen und den Erinnerungen daran unterschieden.
So waren dann diejenigen, die sich gerne und liebevoll an alte Zeiten erinnerten und darüber auch schreiben wollten, irgendwann mehr oder weniger unter sich ... und so ist aus diesem Thread dann ein gefällig zu lesender nostalgisch-sentimentaler "früher war alles besser"-Thread geworden. :)
Das hat sich einfach so entwickelt, ohne besonders geplant gewesen zu sein.

Ist doch logisch, dass Deine Berichte, mit einem völlig unterschiedlichen Hintergrund, auch gänzlich anders ausfallen. Ich will dem steirischen Hans, der ja hier der Hausherr ist, keinesfalls vorgreifen: Deine Erinnerungen passen m.E. genau so gut hierher, wie alle anderen ... nur weil sie anders sind und - und zumindest bei mir - gemischte Gefühle aus Neugier und Empathie, gepaart mit Nachdenklichkeit auslösen, regen sie dennoch an und holen den Leser mit aller Berechtigung auf den Boden der Tatsache zurück, dass eben nicht alles "schöne heile Welt" war und ist; und dass trotz alledem Deine Kindheitserinnerungen Dich positiv geprägt und stark gemacht haben und Du an vieles gerne zurückdenkst.

Ich freue mich jedenfalls, weiter davon zu lesen und wenn mich mal wieder der Schreibkick packt (das passiert leider nur sehr sporadisch), erzähle ich vielleicht mal davon, wie seinerzeit mein Vater uns - mit unserer Hilfe - einen eigenen Wohnwagen gebaut hat und wie wir damit Italien und Südfrankreich bereist haben... das ist mir nämlich auch erst durch Deine o.a. Berichte wieder eingefallen. :)
 
Ach was, Fritzie .... die spärlichen bis ausbleibenden Kommentare zu Deinen geschilderten Erlebnissen haben Dich wohl zu diesem Entschluss kommen lassen.


Eigentlich nicht. :)

Die späteren 'Ausreißer' wären halt nur einfach passender im Unterforum "Straßenstrich" - oder so ähnlich. Einfach andere Baustelle.
 
Wieder mal 'karierte Deckchen'-Zeit... Keine Berechtigung Bilder zu betrachten - Bild entfernt.


In der letzten Zeit denk ich wieder ziemlich viel an meine letzte „Heim-Station“, und die Erinnerungen sind überwiegend freundlicher Art. Hängt vielleicht damit zusammen, daß ich z.Zt. wieder sehr viel über „normal“ bzw. „nicht normal“ sinniere, das passiert vor allem dann, wenn ich mit Situationen konfrontiert bin, die ich nicht kenne und wo ich mich manchmal nicht fragen traue, weil es anderen vielleicht komisch vorkommt, wenn ich „normale Sachen“ nicht kenne. Andersrum isses für andere vielleicht auch interessant zu erfahren, wie so ein Leben außerhalb des Elternhauses „funktioniert“, unter „Heim“ stellen sich die meisten doch irgendwas Exotisches vor. Na, ich leg mal los.

Das Heim, in dem ich zuletzt war, gibt es nicht mehr, es ist schon vor Jahren unter ziemlichen Schlagzeilen aufgelöst worden – die Boulevardpresse berichtete damals von „Exorzismus“ und ähnlichem Zeugs, ich denke mal, es war in seiner Struktur vielleicht einfach nicht mehr zeitgemäß, vielleicht spielte auch eine Rolle, daß es von katholischen Ordensfrauen – den Schwestern vom Guten Hirten – geführt wurde und es in der heutigen Zeit immer schwieriger wird für solche Orden, Nachwuchs und damit auch genügend qualifizierte Erzieherinnen für die Mädchen zu finden. Wie auch immer: nur vermutet. Für mich jedenfalls waren die zwei Jahre dort die besten, die ich in meiner Kindheit und Jugend verbracht hab, es war auch die Zeit, die mir im Rückblick das meiste an positiven Wegweisern mit ins Leben gegeben hat.

St. Gabriel war als „Heim für gefallene Mädchen“ in der Umgebung bekannt, es war offiziell eine „heilpädagogische Einrichtung“ - das hab ich allerdings erst letztes Jahr erfahren, als mir andere Ehemalige erzählt haben, daß es nicht als „geschlossenes Heim“ galt, wie ich immer dachte. Mag vielleicht offizielle Richtlinien dazu geben, nach meinem Erleben war's ein geschlossenes Heim: abends wurden die Jalousien in den Schlafzimmern zugesperrt, um zu verhindern, daß wir ausbüxen, man konnte das Gelände nur durch eine Pforte verlassen, die nachts zugesperrt war und wo man tagsüber nicht ohne Kontrolle raus konnte. Ein- und ausgehende Briefe und Päckchen wurden von der Gruppenschwester gelesen und kontrolliert, das eine Mal, wo ich von dort ausgebüxt bin, hab ich mich durch die dichte Hecke, die das gesamte Gelände umgab, durchgedrückt – um dort dort festzustellen, daß in dieser Hecke ein Stacheldrahtzaun verborgen war. Nicht unüberwindlich, aber doch ziemlich pieksig so im Dunkeln. :engel:

Nach St. Gabriel bin ich gekommen, als ich 17 Jahre alt war, nachdem ich noch zwei Mal vom Mädchenwohnheim abgehauen bin, das letzte Mal hat mich die Polizei nach mehreren Wochen „aufgegriffen“: sie hatten mich in der Wohnung einer Bekannten, bei der ich untergeschlüpft war, aufgestöbert, artig geklingelt und mich aufgefordert, mitzukommen. Altklug, wie ich damals war, fragte ich: „Was liegt gegen mich vor?“ - :lol: - den Satz hatte ich aus irgend 'nem Krimi aufgeschnappt und kam mir sehr erwachsen vor. Fanden die Polizisten nicht, die haben mich einfach ausgegrinst und auf's Auto gedeutet. Wichtigtuer. :mad: :mrgreen:

Ich wurde erstmal zu einer Jugendamtsstelle – oder war's doch Polizei? Weiß ich nicht mehr – gebracht und dort in eine Arrestzelle gesperrt, die genauso aussah wie der Knast, in dem ich zwei Jahre zuvor mal einen Teil meiner Sommerferien abgesessen hab: weiß gekachelt, eine an der Wand festgeschraubte Pritsche mit dünner Matratze, ein Waschbecken, ein Klo und ein Spion in der Tür.

Anders als den Jugendarrest fand ich diesmal das Eingesperrtsein schlimm: niemand hatte mir gesagt, für wie lange ich dort sein sollte und wie es überhaupt mit mir weitergehen würde. Als ich dort so saß, überkam mich das heulende Elend, mir wurde bewußt, daß ich auf dem besten Weg war, „in der Gosse“ zu landen, wie mir das immer prophezeit worden war, weil ich mit meinen 17 eigentlich schon in einem Alter war, wo das Jugendamt nicht mehr so erpicht darauf war, eine ständige Trebegängerin immer wieder einzusammeln und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Schulabschluß hatte ich keinen, und die vorangegangenen Wochen hatte ich ein Leben kennengelernt, das abenteuerlich, aber alles andere als das war, von dem ich geträumt hatte: teilweise auf der Straße und für Geld, Schlafplätze, Mitfahrgelegenheiten prostituiert, dann auch in einer Kneipe untergeschlüpft, deren Wirt mir ein kleines Kammerl und Verpflegung zur Verfügung gestellt hat, wofür ich täglich von 10 bis 4 Uhr nachts gearbeitet hab – es war eine türkische Kneipe, in der ausschließlich Männer verkehrten, Frauen hatten dort – wenn überhaupt – nur mit Kopftuch und gesenkten Augen Zutritt. Dem entsprechend „begehrt“ war ich da.

Na, wie auch immer: all das ging mir so durch den Kopf in dieser Arrestzelle, auch, daß meine Träume von Ausbildung, selbstbestimmtem Leben usw. ziemlich auf der Kippe standen, und ich fand mein Leben verpfuscht und überlegte, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Gab aber nix, womit ich das hätte machen können außer meinen Brillengläsern, außerdem dachte ich, daß es ziemlich beschissen wäre, zu sterben, bevor ich rausgefunden hatte, wie sich ein glückliches Leben anfühlt.

Also heulte ich die Nacht so rum, bis mich in der Früh jemand vom Jugendamt aus der Zelle holte, mir ein Frühstück gab, mir dann ohne viel Trara ein Zugticket und einen Zettel mit den Stationen, an denen ich umsteigen mußte, in die Hand drückte und sagte: „Wir werden nicht kontrollieren, ob du unterwegs abhaust, aber wenn du's tust, werden wir dich auch nicht mehr suchen lassen. Es liegt also jetzt bei dir, ob du zurückfährst oder nicht“.

Ganz neue Töne, ehrlich gesagt hat mich das noch mehr erschreckt als davor immer die Angst, von der Polizei aufgegabelt zu werden.

Ich fuhr also zurück, bin nicht ausgebüxt und fand es ziemlich ungemütlich, nicht zu wissen, ob man mich nun aufgeben würde oder nicht.

Zurück in Augsburg in dem Mädchenwohnheim kamen auch keine Vorhaltungen, nur wieder mal die Enttäuschung der Leiterin, was mich selbst mal wieder ziemlich schofelig fühlen ließ, und die Ankündigung, man würde mit mir am nächsten Tag in die Einrichtung, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, fahren, um dort zu besprechen, was nun weiter aus mir werden sollte. Dort jedenfalls wollte man mich nicht mehr haben, von der Realschule, auf die ich mittlerweile gewechselt war, bin ich wegen Schwänzen wieder mal gefeuert worden, und es war die Rede davon, daß ich in Augsburg in ein anderes Heim kommen sollte. Als ich das hörte, wurde mir eiskalt, weil: ich hatte, bevor ich ausgebüxt war, bereits in Augsburg angefangen, ein Doppelleben zu führen: tagsüber das beliebte, pfiffige Schulmädel, nachmittags und abends aber immer häufiger in einer Bar, in der Zuhälter, Kriminelle, nur wenige Frauen, aber viele gestrandete Existenzen abhingen. Diese Bar war nur wenige Meter vom Königsplatz entfernt, und bei der Vorstellung, wieder in diese Kreise zurückzukehren und zugleich mein Schulmädeldasein wieder aufzunehmen, wurde mir ganz schlecht.

Um das zu verhindern, behauptete ich, schwanger zu sein. Ich wußte, es gab in München ein Mutter-Kind-Heim, und ich dachte mir: wenn ich erstmal in München bin und der Schwindel rauskommt, wird sich schon eine neue Möglichkeit finden, vielleicht sogar eine eigene Wohnung, ich näherte mich meiner Volljährigkeit ja schon ziemlich.

Tja – Schuß ins Knie, könnte man sagen, weil: wie erhofft, wurde tatsächlich nicht lange gefackelt, binnen kürzester Zeit wurde beschlossen, mich in dieses Mutter-Kind-Heim zu verfrachten, und erst als ich dort ankam, erfuhr ich, was für eine Einrichtung das wirklich war: St. Gabriel. Lauter Ordensfrauen dort, beim Reinkommen herrschte da schon so 'ne klösterliche Atmosphäre, ich dachte, sowas gäb's nur im Film. :mrgreen:

Wurde aber noch besser: bei der Aufnahme erklärte man mir die „Grundregeln“: die Neuen kamen erstmal in ein Dreibett-Zimmer. Die Neuen durften keine Minute allein sein, jeder Weg innerhalb des Geländes mußte mit einer Schwester oder einem der älteren Mädchen gemacht werden. Der Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen war so durchgeplant, daß keine freie Minute blieb. Enge Freundschaften – sie nannten das dort „Bappschaften“ - zwischen den Mädchen waren unerwünscht. Kein Ausgang, kein Bargeld – das Taschengeld wurde von den Schwestern verwaltet, wenn man was wollte, mußte man das von der Schwester erbitten, sie hat dann die Einkäufe vom Taschengeld erledigt. Keine Schimpfwörter – jedes Schimpfwort kostete 5 Mark, die an Misereor gespendet wurden. Keine Schläge – an den „Tarif“ dafür erinnere ich mich nicht mehr, war aber sicher auch mit Taschengeld verbunden. Und dann der Knüller: als ich fragte, ob wenigstens das Rauchen erlaubt wäre, wurde mir gesagt: „Ja, eine am Tag“. Ich Schnellmerker fragte: „Eine Schachtel?“ - fand ich zu wenig. Ne. Eine Zigarette. :shock: - die gab's am Abend nach dem Abendessen, die Schwester hat die einzeln verteilt.

Bei Übertretungen, Versäumnissen, was auch immer: Zigarettenentzug. Ebenso Fernsehen: wir durften abends gelegentlich fernsehen, wenn es ein „anständiger Film“ war – Krimis gehörten nicht unbedingt dazu. Aber Sissi. :mrgreen:

Als ich mir das alles so anhörte und mich umsah, dachte ich so bei mir: „Gut, in spätestens 2 Tagen bin ich hier weg, den Knast muß ich nicht haben“, und fing schon mal an, mich nach geeigneten Fluchtwegen umzusehen. Und dann lernte ich meine Gruppenschwester kennen: eine kleine, dunkle, quirlige Inderin mit riesigen, lachenden Kulleraugen, die mich mit in die Gruppe nahm, mir dort ihren großen Schlüsselbund in die Hand drückte und sagte: „Du wirst doch nicht weglaufen, so lange ich weg bin, ich vertraue dir!“ - und dann verschwand die einfach und ich stand da wie' begossener Pudel und dachte nur: Schöne Scheiße.

Also blieb ich halt. Für's erste jedenfalls. :mrgreen:

Ich weiß jetzt nicht mehr genau, wie viele Gruppen es in St. Gabriel gab, es werden so 10 – 12 gewesen sein, nur zwei davon bildeten das Mutter-Kind-Heim für minderjährige Mütter. Die jüngste, die ich dort kennengelernt hab (da war sie allerdings schon volljährig), hatte ihre Tochter mit 11 Jahren entbunden, das Kind hatte ihr Vater gezeugt. Es gab einige Mädels dort, die so wie ich auf der Straße gelebt hatten, mehr aber solche, deren Eltern mit ihnen nicht klargekommen waren. Je länger ich die kannte, umso mehr erfuhr ich, daß es ziemlich beschissene Eltern gibt – sorry, wenn ich das so sag, aber war wirklich so. Kaltschnäuzige, bösartige, unbelehrbare Mädels hab ich dort jedenfalls keine kennengelernt, aber ziemlich viele verzweifelte. Hat meine Traumwelt über Eltern und Kinder ziemlich zerstört.

Eines der ersten Dinge, die ich in St. Gabriel erlebte, war das „Einweisungsritual für Neue“: am Abend war Gruppenschwimmen angesagt, im Heim gab es ein kleines, schönes Schwimmbad, und gelegentlich gingen wir dort unter Aufsicht der Schwester zum Schwimmen. Ein Lichtblick! Allerdings erklärte man mir, daß wir nicht im Badeanzug oder Bikini dort rein dürften, sondern nur mit Schlafanzug oder Nachthemd. So'n Mist, ich dachte, die Katholen wären schon bissl sehr prüde, aber na gut, besser mit Nachthemd als gar nicht Schwimmen...

Glaub, so naiv, das zu glauben, ist hier außer mir niemand, oder? :oops: - diese Mistbienen haben mich tatsächlich die ganze Stunde im Schlafanzug meine Runden drehen lassen und sind selbst auch im Nachtgewand rumgepaddelt. Sr. M. hat sich scheckig gelacht. :mrgreen:

Und dann ging mein Alltag dort los. Täglich um halb 7 aufstehen, anziehen, Morgendienste – turnusmäßig mußte jede irgend was machen: Gang putzen, Wohnzimmer wischen und staubsaugen, Bad reinigen oder Küchendienst... um halb 8 gab's Frühstück. Merkwürdigkeit: vor und nach dem Essen erstmal in zwei Reihen vor dem Eßtisch aufstellen und gemeinsam laut ein Vaterunser und ein Gegrüßet seist du, Maria beten – das Vaterunser kannte ich ja, den Mariengruß nicht. Wirklich seltsam. Nach dem Frühstück Schule oder Ausbildung – für mich hieß das erstmal: Praktikum in der Krabbelstube, das hatte ich mir aussuchen dürfen und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich so kleine Hosenscheißer niedlich fand und es klang angenehmer, als ein Praktikum in der Wäscherei oder im Friseursalon. Ich war zwei Monate vor Beginn der Sommerferien nach St. Gabriel eingerückt, nach den Ferien sollte ich dann auf die Wirtschaftsschule, und weil ich eh schon zwei Jahre älter als die Klassenkameradinnen war, sollte ich bis dahin Buchhaltung, Steno und Maschinenschreiben so weit nachlernen, daß ich gleich in die 9. Klasse einsteigen könnte. Dafür wurde ich von einer anderen Gruppenschwester regelmäßig allein unterrichtet – so im Rückblick haben die sich wirklich ins Zeug geschmissen, um aus uns Mädels das Bestmögliche rauszuholen, kann ich nicht anders sagen. :)

Die Krabbelstube hat mich ziemlich ernüchtert: es war für die Kinder der Mädels aus dem Mütterheim, alle zwischen 1 – 3 Jahre. Von wegen, in dem Alter seien die noch nicht so anstrengend... :roll: - hat eins geplärrt, haben alle geplärrt, hat eins mit Essen rumgepatscht, haben alle mit Essen rumgepatscht :mrgreen: - ne, hat schon irgendwie Spaß gemacht, aber nach den paar Wochen dort war ich reif für die Rente, die waren mir eindeutig über.

Als evangelisch erzogenes Mädel war ich in St. Gabriel ziemlich oft – ähm. Ich würd's mal „folkloristisch überfordert“ nennen. Seltsame Bräuche. Die Sache mit dem Gegrüßet seist du Maria kannte ich ja schon aus dem Fernsehen, daß jemand echt sowas aufsagt hatte ich nicht gedacht. Sonntags war Kirche angesagt: ohne Frühstück. Hat mich nicht begeistert, aber ich wollte mir so'n Gottesdienst schon anschauen. Allerdings: samstag Nachmittag ging ab 16 Uhr die „Einkehrzeit“ los, das heißt: keine Schulaufgaben mehr, kein Rumgealber, keine Musik mehr, „gemessenes Betragen“, was immer das sein sollte. Höchst merkwürdig. Am ersten Sonntag bin ich also in der Früh ganz bereitwillig mit in die Kirche getrabt, und das war für mich erstmal ziemlich unterhaltsam: vorne saßen die ganzen Schwestern, nicht nur die Gruppenschwestern, sondern überhaupt das ganze Kloster. Dann die Geschichte mit dem Knien und wieder Aufstehen (sowas machen die Evangelen nicht), der Pfarrer sah ziemlich bunt aus (bei den Evangelen ist die Kleidung schwarz mit einem weißen Kragen), lauter Gebimmel und Weihrauch (riecht komisch, ich mag's nicht) – also es war schon was geboten da, ich fand's interessant.

Und nach dem Gottesdienst zurück in die Gruppe, Frühstück, mein Magen knurrte schon, aber nix dergleichen: komische Stimmung, alle standen betreten im Vorraum, manche mit gesenkten Köpfen, die süße Gruppenschwester sah streng aus und sagte nix, von den anderen sagte auch niemand was, bis Sr. M. S. fragte, ob jemand etwas zu sagen hätte. Ein Mädel – meine mir zugewiesene „Bezugsperson“ für die Eingewöhnungsphase – meldete sich, und ich dachte, ich hätte mich verhört, als sie sagte: „Ich finde es nicht in Ordnung, daß die Franziska in Hosen in die Kirche gegangen ist“. Ey, das war ja ich! Ich dachte, ich spinne, und fing an zu lachen, konnte ja nur ein Witz sein so wie der Gag mit dem Schwimmbad. Aber außer mir lachte niemand, die meinten das tatsächlich ernst. Als mir das klar wurde, bin ich gewaltig stinkig geworden, weiß nicht mehr, wie viel ich dafür an Misereor spenden mußte, aber war wohl einiges. :oops:

Hätte mir ja vorher mal jemand sagen können, daß Rockpflicht in der Kirche herrschte – ich hatte sogar einen Rock, so ein Jeans-Dings, ziemlich abgewetzt und schlunzig, immerhin ohne Hosenbeine dran. Aber egal: ich dachte, die können mich mal, ich fand mich eh schon entgegenkommend, daß ich an diesem Gottesdienst überhaupt teilgenommen hatte, und dann sowas! Bin dann wütend ins Zimmer abgerauscht, überlegte wieder, wie ich am besten die Biege dort machen könnte, bis irgendwann die Schwester zu mir ins Zimmer kam, um mit mir zu reden. Na, ich ließ nochmal Dampf ab und erklärte, ich würde ab sofort die Kirche boykottieren. Und was tat die Frau? Lachte mich aus, sagte: „Du kannst meinetwegen ein Buch zum Lesen mitnehmen und dich in die letzte Bank setzen, wenn du willst – aber in die Kirche gehst du, und du wirst einen Rock dort tragen!“

Ok, die Frau hat gewonnen... :roll: - ich hab genau ein Mal ein Buch mit in die Kirche mitgenommen, aber so weit hinten hab ich von der Veranstaltung wenig mitgekriegt, und ich fand diese katholischen Gottesdienste doch ziemlich... tja. Also ich hab nachgegeben. :mrgreen:


Wenn ich mir das so durchlese, muß sich das alles ziemlich schlimm anhören, aber das war's eigentlich nicht. Ich hab mich dort relativ bald ziemlich wohl gefühlt. Ich fand das Eingesperrtsein Scheiße, ich mochte es auch nicht, kaum je allein sein zu können, ich mochte diese durchreglementierten Tage nicht: Musik hören nur nach dem Mittagessen eine halbe Stunde und Freitag abends für eine Stunde (Schlager der Woche :hurra:), alles war so minutiös geplant!

Aber: nie ist eine Schwester dort laut geworden, nie wurden wir geschlagen, die Schwestern haben sich Zeit genommen, mit uns zu reden – richtig zu reden, so mit Sympathie und Zuneigung... das war echt der Knaller, ich dachte erst, die verarschen uns. Es gab sogar eine Schwester für jedes Mädel, das die Betschwester war. Dachte auch hier: ist wohl ein Witz, sowas gibt’s nicht. Gab's aber doch, meine Betschwester war eine über 80-jährige, lebhafte Schwester aus dem Kloster, die immer gelacht hat, sowas herzliches wie die hatte ich noch nirgends erlebt. Die hat mir erklärt, daß sie jeden Abend mich in ihre Fürbitten an Gott mit einschließt. Und manchmal hat mir diese Schwester ein Heiligenbildchen mit irgend 'nem Spruch drauf geschenkt. Fand ich irgendwie nett, auch wenn ich die Bildchen nur als Lesezeichen brauchen konnte.

Innerhalb des Heimes gab's neben der Wirtschaftsschule auch noch eine Hauptschule, einen Friseursalon, eine Wäscherei, eine Schneiderei – alles Ausbildungsbetriebe – sowie eine Großküche, in der gekocht wurde. In den Schulen waren externe Lehrkräfte, es waren staatlich anerkannte Privatschulen mit nicht mehr als 10 Mädels je Klasse. Ziemlicher Luxus, ne? :mrgreen: Ein Zeichen für die Aufgeschlossenheit des Ordens: unser BWL-Lehrer war Evangele, unsere Deutsch-Lehrerin konfessionslos und geschieden. Überhaupt waren die Schwestern überwiegend moderne, aufgeschlossene, am Leben orientierte Frauen, dieser Orden ist 1829 gegründet worden, um Prostituierten bei der Rückkehr in ein bürgerliches Leben zu helfen. Weltfremd waren diese Schwestern wirklich nicht, sie sind uns mit Zuneigung und ehrlichem Respekt begegnet – zumindest ich hab's so empfunden, gab natürlich auch Mädchen, die das nicht so empfanden.

Sehe schon – wird wieder so lang, ich weiß gar nicht, ob das für euch interessant ist – gibt noch einiges zu erzählen, aus unserem Alltag dort, aber für heute erstmal genug. :winke:
 
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Irgendwo neu hinkommen ist erstmal doof... bis man erstmal rausgefunden hat, wie alles läuft, bis man sich seinen Platz innerhalb der Gruppe und der neuen Klasse erobert hat usw. - also entspannt ist anders.

Eins der ersten Dinge, die in St. Gabriel zu erledigen waren, war der Besuch bei der Hausärztin, die jede Woche in der Krankenstation Sprechstunde hatte. Ich hab mich zwar gewundert, wozu so eine „Eingangsuntersuchung“ gut sein soll, aber ich dachte mir nix dabei. Als ich dann dort war – huuuuuuuust – also, ich war schockiert. Kein Mensch hatte mir gesagt, daß es um eine gynäkologische Untersuchung ging. Ich war noch nie bei einem Frauenarzt gewesen, ich hatte keinen Schimmer, was dort passiert, und als ich mich ausziehen und auf den berühmten Stuhl hocken mußte, tat ich's mechanisch und fühlte mich fürchterlich beschämt. War sicher keine Boshaftigkeit der Schwestern gewesen, vermutlich hat keine dran gedacht, daß ein Mädel, das sich auf der Straße durchgevögelt hatte, so gschamig und eigentlich unerfahren sein könnte, wie auch immer: ich hab während der ganzen Untersuchung die Augen zugekniffen, Luft angehalten und mich links und rechts vom Stuhl festgekrallt, bis die Untersuchung vorbei war. Als das überstanden war, bin ich aus dem Sprechzimmer rausgedüst und hab mich erstmal im Keller versteckt, um mich wieder einzukriegen. Gab 'ne Rüge, weil ich deswegen zu spät zum Mittagessen kam und die Leute gedacht hatten, ich wäre ausgebüxt, als ich verschwunden war.

Ansonsten fand ich mein neues Leben ziemlich spannend und fremdartig. Ich kannte die ganzen katholischen Gepflogenheiten nicht, manches kam mir ziemlich lustig vor, aber überwiegend gefiel's mir auch, da war immer was geboten. Jeder Feiertag wurde richtig gefeiert – und da gab's viele. Einer davon – Fronleichnam – ist mir besonders lebhaft in Erinnerung geblieben, auch wenn ich bis heute nicht so richtig verstanden hab, was da genau gefeiert wird. Egal: an dem Tag wurden Unmengen an Blumen und Blüten geliefert, aus den Blütenblättern und Köpfen wurden riesige Bilder – Kreuze, Heiligenbilder und so Zeug – auf der Wiese zwischen den Gebäuden gelegt, bis ein Blumenbild neben dem anderen um den ganzen Hof lag, das ging schon mitten in der Nacht los, damit bis zum Gottesdienst und zur Fronleichnamsprozession alles fertig war. Einmal kam sogar der Erzbischof – oder war er da schon Kardinal? - Ratzinger mit noch ein paar Priestern, segnete und spritzte uns mit Weihwasser an, die Schwestern waren an dem Tag besonders aufgeregt... allerdings hat mir der Ratzinger nicht so gefallen, der sah irgendwie kalt aus.

Aber auch die anderen Feiertage waren spannend: in der Nacht zum Karfreitag gab's Gottesdienste, die die halbe Nacht dauerten, ich glaub es war da, wo wir vom Priester ein Aschekreuz auf die Stirn bekamen, kann aber auch Aschermittwoch gewesen sein? Ostersonntag war ziemlich jubeliger Gottesdienst, im Mai gab's tägliche Gottesdienste mit unzähligen Gegrüßet seist du... da hab ich den Rosenkranz kennengelernt, die kleinen Perlen waren so'n Gegrüßet, die großen bekamen ein Vater unser – wahrscheinlich ist das Gebetskettchen der Moslems auch sowas in der Art, das kannte ich immerhin schon.

Aber nicht nur die kirchlichen, auch die weltlichen Feste wurden gefeiert, besonders Fasching: dafür dauerten die Vorbereitungen wochenlang, es wurde jedes Jahr unter den Mädchen ein Faschingsprinz – den wählten die Schwestern – und eine Faschingsprinzessin – die wurde von den Mädchen gewählt – bestimmt, die Prinzenkleidung wurde von den Mädels in der Schneiderei maßgeschneidert, und das waren wirklich sensationelle Kostüme – große Garderobe aus feinen, glänzenden Stoffen, mit Unmengen an Rüschen, Pailletten und so Zeug, Sissi war dagegen das reinste Aschenbrödel. Eine Prinzengarde gab es, die wochenlang entsprechende Tänze und Paraden einstudiert hat, der Festsaal, der auch eine Bühne und einen Balkon hatte, wurde aufwändig geschmückt, wir hatten auch Tanzunterricht – bei der zuständigen Schwester hab ich von Chachacha bis langsamem Walzer (den mochte ich am liebsten) über den Wiener Walzer, Reggae und Sirtaki alles mögliche gelernt – fand ich cool, hab später aber dann festgestellt, daß meine Tanzkünste nur halb nützlich waren: ich hatte gelernt, wie man führt, führen lassen kann ich nicht :mrgreen:

Dieses Fasching war wirklich immer grandios, es wurde ab Samstag bis Faschingsdienstag gefeiert, jede Gruppe hatte ein Motto, Gruppentänze wurden einstudiert und dann dort vorgeführt, das war immer sehr spannend. Ich erinnere mich – da war ich schon 18 und hatte auf ein Ludwig Hirsch-Konzert gedurft. Auf den war ich ganz verrückt, und eines seiner neuesten Alben gekauft: „Bis zum Himmel hoch“ hieß das, und darauf gab's auch ein Lied: „Im Anfang“, wo die letzte Zeile so geht: „Und so hat am 6. Tag der Teufel den Menschen erschaffen“. Je nun – unsere Gruppenschwester war ja Inderin, sie sprach auch ziemlich gutes Deutsch, aber mit dem österreichischen, schwarzen Humor war sie etwas überfordert... ihr hat das Lied so gut gefallen, daß sie mir vorschlug, dieses Lied für unseren Faschings-Gruppentanz herzunehmen, sie wollte uns die Schöpfungsgeschichte tänzerisch darstellen lassen... ich muß gestehen: die Versuchung war für mich da schon sehr gewaltig, ich hätte zu gerne die Gesichter der anderen Schwestern beim Abspielen dieses Lieds gesehen. :oops:

Aber die Schwester hatte ich zu gern für so'n Scheiß, also hab ich ihr erklärt, daß sie möglicherweise nach diesem Faschingsbeitrag aus dem Kloster fliegen würde. :mrgreen: - ich rechne ihr hoch an, daß sie mir trotzdem dieses Album gelassen hat, ihr gefiel außerdem Hirschs Stimme so gut. Wir haben dann stattdessen Vader Abrahams Schlumpfentanz genommen, und ich kann mit Fug und Recht behaupten: an dem Abend war unsere ganze Gruppe inklusive Schwester blau. :mrgreen:

So sehr ich diese gigantischen Vorbereitungen, das Tanzen, die Aufregungen genossen hab, früher oder später wurd's mir meistens zu viel, dann hab ich mir einen Platz oben auf der Galerie gesucht, eine Angewohnheit, die ich bis heute beibehalten hab: irgend eine ruhige, dunkle Ecke, in der ich sitzen und von wo aus ich das Treiben beobachten und dabei sinnieren konnte. Hat man mir auch erlaubt, als man verstanden hatte, daß ich meine ruhigen Beobachtungsposten zwischendurch brauchte und nicht abhauen würde.

Es war ja ein geschlossenes Heim, das heißt, es gab nur ein Mal im Monat Besuchstage, wo die meisten Mädchen von ihren Eltern und Verwandten Besuch bekamen und mit denen auch das Heimgelände verlassen durften, sobald sie ihre 3-monatige Probezeit hinter sich hatten. Ich bekam während der ganzen Zeit nur ein Mal Besuch und war darüber ganz froh, war nicht so scharf drauf. Einige Mädchen hatten aber Eltern, die zwar versprachen zu kommen, das aber entweder ohne Ankündigung oder kurzfristig nicht eingehalten haben. Gab dann ziemlich oft Tränen. Eltern können ganz schöne Arschlöcher sein, ich bin damals zu dem Schluß gekommen, daß ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben will.

Mit den Mädchen in unserer Gruppe und auch in der Klasse kam ich ziemlich gut aus. Klar gab's Zickereien, so ein Haufen pubertierender Mädels, interniert, meist schon „voll im Saft“, die außer dem Lehrer und dem Priester keine Männer zu Gesicht kriegen und die zu ihren Freunden, wenn sie denn welche hatten, nur reglementierten, spärlichen Kontakt haben durften, sind ungefähr so harmlos wie ein Todesstreifen voller Tretminen. Wir wurden dauernd beschäftigt gehalten, mit Aktivitäten, Arbeits- und Lerneinheiten, auch durch Sport wie Völkerball (hab ich gefürchtet – wenn so ein Gör mit Feuer im Arsch und Wut im Bauch 'nen Ball schießt, kommste ohne dunkelblaue Flecken nicht raus aus der Nummer :confused:). Ich war zwar sowieso nie der Typ, der sich eine „beste Freundin“ sucht oder Cliquenwirtschaft mochte, aber so wie's in St. Gabriel gepflegt wurde, war's mir zur damaligen Zeit zumindest unverständlich. Heut sehe ich's zwar etwas differenzierter: diese engen „Bappschaften“ inklusive Eifersüchteleien, Freundinnenwechsel usw. wurden schon deshalb unterbunden, weil die Befürchtung, es könnten daraus lesbische Liebschaften entstehen, sehr groß war. Das war nicht so weltfremd, einmal wurden zwei Mädels, die sich offenbar verliebt hatten, getrennt, jede kam in eine andere Gruppe und sie durften sich nicht mehr alleine sehen. Fand ich furchtbar.

Überhaupt ist mir im Rückblick aufgefallen, daß in allen Einrichtungen außer der ersten, in der ich war, Körperlichkeit zwischen Mädchen immer fast panisch unterbunden wurde: sei's eine Umarmung, um zu trösten, sei's, daß man sich beim Fernsehen wie Welpen aneinandergekuschelt hat oder so – wenn sowas war, wurde sofort hektisch „Auseinander!“ befohlen. Auch wenn ich inzwischen verstehe, warum das so war, frag ich mich doch, warum man glaubt, daß Kinder und Jugendliche ohne Kuscheln aufwachsen sollen. Nun ja, ist in Heimen bis heute so, man will damit sexuelle Übergriffe verhindern, aber Nähe bleibt dabei eben auch auf der Strecke.

Was ich in St. Gabriel besonders mochte, war, daß Begabungen und Engagement besonders gefördert wurde. So wurden z.B. von der Schneiderei so kleine, niedliche Stoff-Clowns genäht, und weil man herausgefunden hatte, daß ich gerne malte und zeichnete, durfte ich bald die Gesichter dieser Clowns aufmalen. Für jedes Clownsgesicht bekam ich eins dieser plombenziehenden Bonbons, die schmeckten zwar nicht so besonders, aber für mich waren diese Bonbons was Besonderes, irgendwie besser als wenn ich Geld dafür bekommen hätte. Diese Clowns wurden mit großem Erfolg immer verkauft und der Erlös ging dann in solche Gruppenveranstaltungen wie Fasching oder Kostüme für unsere Theateraufführungen.

Wann immer ein Feiertag oder eine Veranstaltung stattfand, waren große Plakate zu gestalten – auch das hab ich dann im Zimmer der Erziehungsleiterin immer machen dürfen, sie überließ mir den Raum zusammen mit buntem Papier, Stiften, Klebstoffen und Scheren und ich konnte nach Belieben dort die Plakate gestalten, dauerte oft den ganzen Tag. Das hab ich geliebt, vor allem, weil ich dort mit mir allein sein konnte, das war sonst ja nicht möglich. Der Tarif für so ein Plakat waren dann manchmal drei Bonbons, wenn's mir gut gelungen ist. :mrgreen: Aber noch mehr hat mir immer die Anerkennung gefallen, ich wurde von den Schwestern aus dem Kloster oder anderen Gruppen manchmal einfach so angesprochen und gelobt, und die meinten das auch noch ehrlich. War schon schön, weil ich früher doch immer eins auf's Dach gekriegt hatte, wenn ich irgendwas „vollgeschmiert“ hatte. In St. Gabriel hat man mich dafür jedenfalls geschätzt, einmal stand sogar in meinem Zeugnis als Bemerkung: „Besonders hervorzuheben sind ihre musischen und künstlerischen Fähigkeiten“. War'n Knaller. :hurra:

In St. Gabriel lebte auch eine ältere Frau, wird so um die 70 oder älter gewesen sein. Eine Grande Dame! Sie war groß, eine theatralische, elegante Frau, die noch gelegentlich am Gärtnerplatztheater auftrat, sie war professionelle Schauspielerin, die mit uns alle möglichen Theaterstücke eingeübt hat. Diese Stücke waren teilweise ganz schön anspruchsvoll – einmal war sogar der „Jedermann“ dabei (da durfte ich die Frau des Schuldners spielen, und ich war stolz wie Bolle, als die örtliche Zeitung mich sogar lobend erwähnt hat :oops:). „Des Kaisers neue Kleider“ hat mir meinen künftigen Spitznamen dort eingebracht, seit ich den Kaiser gespielt hatte, weckte mich die Schwester jeden Morgen mit: „Guten Morgen, Kaiser, aufstehen!“ :mrgreen: Ich liebte die Theaterstücke und war mit Leib und Seele dabei, weil ich mich dort in meine Rollen so reinfallen lassen konnte und dann so Sachen wie Tränen so Gefühlskram, der mir eigentlich suspekt war oder für den ich mich schämte, ausagieren konnte. Sogar ein Singspiel war mal dabei - „Die faule Schneiderin“ oder so. Hajo – so bin ich also auch mal in die Lage gekommen, auf der Bühne – ohne Mikrofon! - vor Publikum zu singen. Leicht war das nicht, sich dazu zu überwinden, aber nach den ersten kieksigen Tönen verflog die Nervosität dann immer und dann hat's Spaß gemacht.

Ich hab dort sogar ein bißchen Gitarre spielen gelernt – nur ein paar Akkorde zwar, die ich heute nicht mehr kann, aber das war für mich wieder eine Möglichkeit, mir Zeiten zum Alleinsein zu erobern, weil: sobald ich zupfen konnte, hab ich mich mit der Klampfe zurückgezogen und aus dem Buch raus Lieder wie Streets of London, Donna, Donna, Donna, Sag mir, wo die Blumen sind und Morning has broken einzuüben, und diese Alleinzeit war erlaubt. Überhaupt mochte ich die Singerei, wir hatten gelegentlich auch Chorproben, und weil meine Singstimme schon damals ziemlich tief war, hatte ich immer meinen Platz bei den dritten Stimmen. War auch alles sehr nützlich, weil: richtigen Musikunterricht hatten wir nicht in der Schule, wir mußten nur immer zur Notenvergabe ein Lied singen, und weil die zuständige Schwester meine tiefe Stimme mochte und ich dazu geklampft hab, hab ich dann immer meine 1 in Musik bekommen, ohne je viel Ahnung von Musik zu haben. :mrgreen:

Also alles in allem hab ich mich meistens in dem Heim wohlgefühlt, da war so viel Wertschätzung. Allerdings bin ich ein Mal doch stiften gegangen von dort. Wieder mal schlau eingefädelt: mitten im Winter und ich war schon volljährig. Hätte mein schulisches Aus sein können. :kopfklatsch:

Das kam so: mit einem der Mädels in der Gruppe – das war so 'ne kracherte, derbe Frau – hatte ich wegen irgendwas Streit. Kann nix Besonderes gewesen sein, außer daß auf so engen Raum und ohne Möglichkeiten, rauszugehen, Konflikte vorprogrammiert waren – jedenfalls: sie hatte ihre Version der Schwester gepetzt und die Schwester schien ihr zu glauben, mir nicht. Das konnte ich nicht ertragen, hab's zwar nicht verstanden damals, heute weiß ich, daß das Gefühl, die Zuneigung von jemandem, den ich so mag, zu verlieren, mich regelrecht in Panik versetzen kann. Na, wie auch immer: ich dachte also, die Schwester mag mich nicht mehr, also wollte ich dort weg. Wartete, bis es dunkel war, ich konnte mich als mittlerweile gut eingefügtes älteres Mädel inzwischen relativ frei auf dem Gelände bewegen, und bin dann durch die Hecke mit dem Stacheldraht entfleucht.

Tja, und dann stand ich da draußen, saukalt war's, kein Geld hatte ich (hatten ja immer die Schwestern, ebenso wie den Personalausweis), und lief erstmal los. War diesmal aber nicht wie früher so ein abenteuerliches Gefühl, genau genommen heulte ich einfach rum, während ich so lief, und kam mir vor wie ausgestoßen. Hab Jahre später mal Gedicht fabriziert, in dem ich meine Stimmung damals versucht hab einzufangen, das geht so:

Nacht

Dunkle Felder, von schwarzen Bäumen gesäumt.
Büsche, wie drohende Wolken
vereinzelt über die Äcker verstreut.
Feuchtkalte Luft streift die Wangen. Der Mond
täuscht Unendlichkeit vor mit fahlem Licht.
Mein Auge erkennt die Grenzen nicht
die Horizont vom Universum trennt.

Meine Füße gehen stetig über nassen Asphalt.
Vereinzelt Lichter, die glitzern,
fremder Motor aus der Ferne hallt.
Raum dehnt sich in mir, wächst unendlich groß
gleich dem Himmel über mir. Bloß
der Sterne weit droben glänzendes Licht
find´ ich in meinem Inneren nicht.

Flügelschlag plötzlich, ein verirrter Schrei
schwarzer Schatten fliegt an meiner Seele vorbei.
Legenden vom Tod werden plötzlich wach,
spüren versunken geglaubten Träumen nach und
der Duft feuchter Erde lockt. Ich bin
wie der Wanderer auf der Suche nach dem ewigen Sinn.



Ganz schön Drama-Queen, wa? :mrgreen:


Also: über diese 8 Tage will ich nicht viel erzählen, man kann sich vielleicht auch so vorstellen, wo und wie ich die verbracht hab. Nach den Tagen war ich dann mürbe, ich fühlte mich schmutzig und wollte wieder zurück nach St. Gabriel und suchte mir im Telefonbuch die Telefonnummer von meinem BWL-Lehrer raus. Den konnte ich gut leiden, der war kein „Kirchlicher“ und schien locker genug, um nicht angewidert zu reagieren, wenn ich aufkreuzte. Tat der auch nicht, der redete erst eine Weile mit mir, riß seine üblichen Witze (der Mann war nie ernst, fand ich gut) und dann brachte der mich zurück.

Und siehe da: man nahm mich wieder auf. Hätten die nicht gemußt. Genau genommen hätten sie's nicht mal gedurft: ich war ja volljährig, und sie hätten meinen Abgang dem Jugendamt melden müssen, damit wäre ich raus gewesen. Das Jugendamt hätte die Unterhaltszahlungen sofort eingestellt und ich wäre ohne Unterkunft und Schulabschluß da gestanden. Die Schwestern hatten sich deshalb entschieden, meine Flucht nicht zu melden, und das ist ihnen nicht leicht gefallen. Bin ihnen bis heute dafür dankbar.

Die Schwester hat eine ganze Weile gebraucht, bis sie ihre Enttäuschung über mein Weglaufen überwunden hatte, und ich merkte zum ersten Mal, wie sich das anfühlt, wenn man einen anderen Menschen so richtig verletzt. Hatte ich ja früher auch schon gemacht, öfter, jedes Mal, wenn ich ausgebüxt war, nur besonders ernst genommen hatte ich das nicht.

Na, also es dauerte eine geraume Zeit, bis ich das Vertrauen der Schwester wieder errungen hatte, und das war schwer auszuhalten, muß ich zugeben. Aber es ist mir gelungen, und wir hatten gegen Ende ein besonders enges Vertrauensverhältnis, das gegenseitig war und mich manchmal ein bißchen überfordert hat, weil die Schwester mich dann auch zu ihrer Vertrauten gemacht hat, aber im Rückblick war's eine wichtige Zeit für mich. Hab da gelernt, so schwierige, ängstliche Zeiten durchzustehen, besonders mit Menschen, an denen mir was liegt. Kann ich zwar immer noch nicht gut, aber mit ihr konnte ich das jedenfalls. :)
 
Hm .. schon 4 Tage keine Fortsetzung ... :roll: Ich empfinde das als fad - wahrscheinlich als genauso fad, wie Du/fritzie das Schweigen der Lesen finden wirst ...

Dabei bin ich davon überzeugt, bei weitem nicht die Einzige zu sein, die bei Deinen Berichten virtuell förmlich an Deinen Lippen hängt. Irgendwie ist Dein geschildertes Erwachsenwerden für jemanden, der in einer "normalen Familie" eingebettet gross geworden ist, kaum zu fassen.

Ich bin mir gar nicht so sicher, was ich aus Deinen Schilderungen für mich persönlich mitnehme, jedenfalls kommen bei manchen kindlichen Begebenheiten Erinnerungen auf, die mich schmunzeln lassen - bei anderen bin ich froh, dass ich sie nicht durchleben musste ... und doch ...

Da ich der festen Überzeugung bin, dass alles, was wir erleben, erleiden, erlieben, dulden, austeilen, usw. einen tieferen Sinn und Zweck hat, sei es positiv oder negativ, finde ich aufgezeigte Lebenswege ungeheuer spannend - nicht etwa, weil man dadurch psychologische Analysen ziehen könnte, sondern ganz einfach deshalb, weil der Schreiberling dadurch Fleisch und Blut kriegt, atmet, Wärme und Emotionen verströmt, lebt - und mich Anteil haben lässt ...

Bitte schreib' weiter .... danke ... :)
 
Ich habe den Thread irgendwie aus den Augen verloren ... :confused:
ja, fritzie, bitte schreib weiter ... danke! ;)
 
Lieb von euch, aber vorläufig werd ich nicht mehr schreiben.

Am Montag hat die Schule wieder angefangen - 11 statt wie bisher 4 Fächer und fast doppelte Stundenanzahl, da muß ich mich erstmal reinfitzen.

Bin nach der "Aufarbeiterei" der letzten Monate auch noch nicht wieder "ganz beinander", dadurch ist doch allerhand in Bewegung gekommen, ich trenne mich von manchen Vorstellungen und Wünschen und tu mich damit ned grad leicht. Ich brauche meine Energien jetzt einfach andernorts.

Vielleicht in ein paar Monaten wieder oder so, im Moment weiß ich noch nicht, wo's mich hintreibt. Hab mich in der Vergangenheit nicht umsonst "Nomadin" genannt, so fühl ich mich grad wieder.


So, das ist jetzt gesagt - so ganz wortlos verschwinden wollte ich hier nicht. Euch lieben Dank! :winke:
 
Vielleicht in ein paar Monaten wieder oder so, im Moment weiß ich noch nicht, wo's mich hintreibt. Hab mich in der Vergangenheit nicht umsonst "Nomadin" genannt, so fühl ich mich grad wieder.

Bis hierher verstehe ich alles voll und ganz, Fritzie .... nur warum Du Dich jetzt wieder wie eine Nomadin fühlst, erklärt das nicht wirklich ....

... früher oder später wurd's mir meistens zu viel, dann hab ich mir einen Platz oben auf der Galerie gesucht, eine Angewohnheit, die ich bis heute beibehalten hab: irgend eine ruhige, dunkle Ecke, in der ich sitzen und von wo aus ich das Treiben beobachten und dabei sinnieren konnte.

Wenn ich es mir wünschen dürfte und Deine Aufgaben in nächster Zeit es erlauben, dann wäre es fein, wenn Du vorübergehend diese dunkle Ecke finden würdest, um all das zu tun, was Du oben beschrieben hast. Ich wünsche Dir alles Gute dafür ....

Und danach sehen wir weiter, hm? :bussal:
 

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