Wieso schweigen die Mütter oder Ehefrauen? Sie haben angst vor dem Ehemann, weil er oft zur Gewalt neigt. Und welche Frau zeigt gerne ihren Mann an? Darum wird oft geschwiegen.
Die Wegseh-Gesellschaft
Gewalt löst Reaktionen und Verhaltensauffälligkeiten aus. Oft werden diese von den Verwandten, Bekannten, NachbarInnen usw. aber "übersehen" bzw. verdrängt, weil im Falle, das
Gewalt wahr wäre, die "wissenden ZeugInnen" eigentlich handeln müssten, was Zeit und Zivilcourage kostet. Dies ist unbequem. Und so wird geschwiegen, weggesehen, sogar bei den Opfern noch Schuldgefühle geschaffen und die TäterInnen bleiben geschützt und ungestört. Die Gewalt für die Opfer geht weiter.
Wegsehen I
Bundesdeutsche Medien propagieren oft das Bild des "unbekannten pädophilen Kinderschänders", der im Gebüsch auf ein Mädchen, einen Jungen oder auf eine Frau lauert.
Die statistisch sehr, sehr viel häufigere Gewalt findet aber durch nahe Bezugspersonen, sprich durch Personen aus dem persönlichen Umfeld des Opfers wie Familie, Verwandtschaft, Bekanntschaft und Institutionen (Schule, Internat, Kirche, Heim, Ferienlager, Verein) statt.
Bei sexueller Gewalt sind die TäterInnen oft (Stief-)Vater, (Stief-)Bruder, Opa, Partner der Mutter, die (Ex-)Partner und Lebensgefährten / Ehemänner, Onkel, Babysitter, LehrerInnen, TrainerInnen, Kirchenmänner, NachbarInnen oder sogar die Mutter, Oma oder Schwester.
Wegsehen II
Menschen mit Gewalterfahrung gehen mit ihren schrecklichen Erlebnissen nicht hausieren; sie vertrauen dies Menschen in ihrem Umfeld an, denen sie vertrauen.
Denn es ist ihnen peinlich, sie schämen sich, fühlen sich als "VerräterInnen".
Oft haben die TäterInnen ihnen eingeschärft, das dann was schlimmes passiert (zum Beispiel das jemand stirbt, ins Gefängnis muss oder jemand anderes leiden muss), ihnen niemand glauben wird oder sie selbst in ein Heim oder in die Psychiatrie kommen, wenn sie die Wahrheit sagen.
Selbst wenn erwachsene Opfer / Überlebende sich anderen Menschen anvertrauen, erleben sie oft verletzende und demütigende Reaktionen, wie zum Beispiel:
- "Durch diese Erfahrungen bist Du der Mensch geworden, der Du heute bist!"
- "Paß auf, was Du sagst, sonst kannst Du schnell eine Verleumdungsklage kriegen!"
Manche Sprüche und Ansichten kommen aus einen pseudo-spirituellen Bereich wie zum Beispiel:
- "Jede Seele sucht sich aus, wo sie hinkommt, und sie hat da ihre Aufgabe zu erfüllen, eventuell etwas wieder gut zu machen oder um die »nächste Ebene« zu erreichen."
- "Man bekommt nur die Last auf seine Schultern geladen, die man auch tragen kann."
Ein bürgerliches Beispiel mitten aus Deutschland
Sylvie Noelle Martin erlebte durch ihre Erzeugerin viel psychische und physische Gewalt (siehe
Biografie). Weder die Großmutter, noch der Erzeuger (dem die Frau zu gewalttätig war), noch andere Verwandte, weder NachbarInnen, noch die ArbeitskollegInnen der Mutter (die immerhin einen Arbeitskollegen körperlich attackierte und deswegen entlassen wurde), noch eine Kinderpsychologin (der das Kind von den Schlägen berichtete), noch ÄrztInnen, noch LehrerInnen, noch Reisende (die das Kind alleinreisend antrafen) setzten sich für die Rettung des Kindes ein. Das Gericht sprach ihr keine Opferentschädigung für ihre schweren Traumatisierungsfolgen zu, da es keine direkten AugenzeugInnen für die Gewalt gab.
Ein prominentes Beispiel aus den USA
Christina Crawford erlebte durch ihre traumatisierte Mutter Joan Crawford eine traumatische Kindheit (siehe
Biografie). Sie wurde von ihrer Mutter geschlagen, fast erwürgt, psychisch misshandelt, gedemütigt, erniedrigt, gequält, verhöhnt, isoliert. Dies wurde von mehreren Menschen bemerkt, aber niemand griff ein: weder die Haushälterinnen, noch die Gärtner, oder eine der vielen Sekretärinnen, noch die Sexual- und Ehepartner der Mutter, die SchauspielkollegInnen (unter denen das durchaus bekannt war), auch nicht die Internats- und HeimleiterInnen, die Ordensschwestern, die ÄrztInnen, die Eltern ihrer FreundInnen, und nicht der Fürsorgebeamte vom Jugendamt, der nachts kam und Christina befragte, nachdem ihre Mutter sie fast erwürgt hatte.
Sie retteten sie alle nicht.
"Ich haßte die Gesellschaft,
die es dieser Frau erlaubte,
sich über die Regeln für ein anständiges Zusammenleben ungestraft hinwegzusetzen.
Die Außenstehenden wußten, daß diese Frau versucht hatte,
ihre eigene Tochter umzubringen.
Trotzdem wagte niemand zu intervenieren.
Niemand wollte in die Sache hineingezogen werden."
("Meine liebe Rabenmutter", Goldmann-Verlag 1992, S. 179).
Zwar stieß die Veröffentlichung des Buches von Christina Crawford in den USA zeitweise eine gesellschaftliche Diskussion über Gewalt in der Familie an, allerdings leugnen Menschen auch heute noch, das Christina schwere psychische und physische Gewalt durch ihre prominente und erfolgreiche Mutter überlebt hat. Dem Opfer wird durch die Täterlobby unterstellt, das sie in ihrem Buch "übertrieben" habe, sich mit ihrer Biografie "rächen" und damit Geld verdienen wollte.
Der schillernde Ruhm der Täterin, ihr Hollywood-Glanz und Reichtum, ihr sicher schwerer Karriereweg als Frau - das alles passt in manchen Köpfen nicht mit dem Bild einer misshandelnden Täterin überein.
Was nicht sein darf, ist einfach nicht.
Quelle :
Kinder und ihre Mütter mit Borderline. Kindheiten mit Borderline-Müttern - Die Wegseh-Gesellschaft