Gilles' Frau" hieß der erste Roman der Belgierin Madeleine Bourdouxhe. Seine Heldin Elisa lebt, wie es der Titel andeutet, nur in der Bezogenheit auf ihren Mann. Als sie dessen Liebe verliert, nimmt sie sich das Leben. Auch im zweiten Roman Madeleine Bourdouxhes taucht eine Selbstmörderin auf, sie wird allerdings gerettet und bekommt dann von ihrer Schwester die Leviten gelesen. "Sich selbst aufzugeben ist ein Verbrechen", heißt es da. "Man darf nicht einfach desertieren. Wir stehen auf der Seite des Lebens."
Dieses "Wir" ist ein weibliches Wir, und fast scheint es, als halte Madeleine Bourdouxhe mit den Worten jener zornigen Marie allen ihren Geschlechtsgenossinnen eine Gardinenpredigt. "Wenn Frauen sich in die Enge getrieben fühlen, wenn sie zu sehr leiden, ziehen sie sich stillschweigend aus der Affäre. Sie stehlen sich davon - ins Nichts, in der Hoffnung, Frieden zu finden." Und, einige Sätze zuvor: "Vor allem haben nur wenige Frauen den Mut zum Leben . . ."
Marie hat diesen Mut. Vielleicht ist sie als Kontrastfigur zu der allzu düsteren Elisa des Erstlings konzipiert. Auch Marie tritt uns zu Beginn des Romans als mustergültige Gattin entgegen, deren Erfüllung augenscheinlich allein darin besteht, ihren Jean, einen braven, etwas belanglosen Angestellten, am Tisch und im Bett zufriedenzustellen. Daß dies nicht ausreicht, wird ihr erst allmählich bewußt, und die Autorin läßt den Leser an dieser Bewußtwerdung teilnehmen. Schritt für Schritt, Satz für Satz: "Jean war eine starke Persönlichkeit - besser gesagt, es gab Momente der Stärke. Er konnte klar und deutlich einfordern, was ihm zustand, oder auch mehr, als ihm zustand. Die Art und Weise, wie er Entscheidungen traf, wie er trank, aß, sich setzte, seinen Platz einnahm, hatte etwas Egoistisches." Fast erschrocken steht dieses letzte Wort da, und es weist Marie ihren Weg.
Kühn und geschickt variiert Madeleine Bourdouxhe die Erzählperspektive, um die Entwicklung von Maries Denken zu zeigen. Mal tritt sie zurück und beobachtet ihre Heldin aus der Distanz, mal nistet sie sich ganz, in der Ich-Form, in ihr ein, oder sie wählt, wie in der zitierten Passage, die geschmeidige Form der erlebten Rede. In einer anderen Szene phantasiert sich Marie mit Jean in ein "intimes Lokal"; sie tanzen eng umschlungen, und "auch er wünschte sich, daß diese Umarmung nie zu Ende ginge". Denkt sie. Der wirkliche Jean, er sitzt neben ihr am Strand, löst die schöne Phantasie mit dem ernüchternden Satz auf: "Es ist so heiß, Schatz, mußt du so an mir kleben?"
Mehr und mehr geht ihr auf, daß sie wenig verbindet mit diesem Mann, wenig auch mit ihren Freundinnen, deren Leben sich um das Aussuchen der passenden Tapeten oder Sofadeckchen dreht und die vom Glück sprechen "wie von einem Gegenstand mit einer exakt beschreibbaren Form, wie von etwas, das sich nie abnutzt und das man nur hervorzuholen und in der Wohnung aufzuhängen braucht wie einen Mistelzweig". Marie weiß nicht, was das Glück ist, und sie macht sich auf die Suche danach, was nichts anderes bedeutet als: nach sich selbst.
Daß sie einen anderen Mann kennenlernt, sich auch einige Male mit ihm trifft, ist gar nicht das Entscheidende. Sie verläßt ihren Jean nicht, begleitet ihn sogar, als er versetzt wird, in eine öde Provinzstadt. Aber innerlich wächst sie über ihn hinaus und auch über die Marie, die sie bisher war. Sie gewinnt Klarheit des Blicks, Freiheit des Handelns und Mut zum eigenen Leben. "Ein Mensch ist nicht, er wird", sagt sie etwas lehrsatzhaft an einer Stelle, als sie schon ziemlich weit gekommen ist auf ihrem Weg von einer bloßen Rollenerfüllerin zur selbstbestimmten Person.
Der Satz klingt nach existentialistischer Philosophie, und tatsächlich war die Autorin in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren, als ihre Romane entstanden, mit den Pariser Mandarinen der damaligen Leit- und Modephilosophie gut bekannt, vor allem mit Simone de Beauvoir, die sich in ihrem "Anderen Geschlecht" an mehreren Stellen auf Madeleine Bourdouxhes Frauengestalten bezieht. Anders als bei der berühmteren Kollegin entfaltet sich ihre Heldin nicht nach dem stets erkennbaren Drehbuch einer Theorie, sondern kleidet das Programm in Eindrücke und Empfindungen. "Gefühle werden gelebt, nicht ausgesprochen." Die erstaunliche Leistung Madeleine Bourdouxhes besteht darin, sie so zu vermitteln, daß man sie nachzufühlen meint, ohne sie benennen zu müssen.
Momentaufnahmen einer éducation sentimentale im Sinne der französischen Philosophie der dreißiger und vierziger Jahre: Marie rudert eines Nachts allein aufs Meer heraus; plötzlich spürt sie dessen "Farbe", seinen "Geruch", spürt daran, daß etwas mit ihr geschieht. Sie horcht dem Pulsieren ihres Blutes nach, es erinnert sie an das leise Geräusch von Insektenflügeln. Sie trinkt in einem Zugrestaurant Bier mit einer Gruppe lustiger Soldaten, fährt auf einem Jahrmarkt mit einem unbekannten Monteur Karussell.
Ganz am Ende des Romans steht sie einfach an einer Straßenecke und schaut dem Leben zu, im Einklang mit dem "großen Antlitz der Welt" - ein Ende, das heute leicht als trivial empfunden werden könnte, ja beinahe als kitschig, aber das erkennbar Historische an diesem Schluß mildert diesen Eindruck. Die Heldin hat sich gefunden und hat begriffen: Glück ist kein Objekt, kein Besitztum, sondern "kostbar und grausam", ein Zustand, zu dem es gehört, daß er vergänglich ist. Wie die Liebe zu ihrem Mann, die schon vergangen ist, wie die zu ihrem jungen Liebhaber, die vergehen wird. "Etwas kann nur dann großartig und bewegend sein, wenn es die Möglichkeit seines Endes in sich trägt."
Eine Sicht der Dinge, die sich vom Glauben an starke Naturen tragen läßt. Madeleine Bourdouxhes Marie will so stark sein, daß sie auch die Begrenzungen ihrer gesellschaftlichen Situation akzeptiert - die Tristesse des neuen Wohnortes, die aufgedrängte Nähe der Schwiegermutter, die Bindung an einen Mann, für den sie nur noch schwesterliche Gefühle verspürt. Sie hat ihre Wahl getroffen - im Bewußtsein der Freiheit, sie jederzeit anders treffen zu können.
Daß diese Marie nicht zum Vorbild von Hunderttausenden von Leserinnen geworden ist, zur feministischen Ikone, liegt nicht an mangelnden literarischen Qualitäten des Romans. Es liegt an seiner abgebrochenen Rezeption. "Gilles' Frau", im Jahr 1937 beim renommierten Pariser Verlag Gallimard erschienen, machte die Autorin mit einem Schlag bekannt.
Als "Auf der Suche nach Marie" vollendet war, hatten die Deutschen Frankreich besetzt und kontrollierten auch das Verlagswesen. Madeleine Bourdouxhe, die als Kurier für die Résistance tätig war und bei sich zu Hause jüdische Frauen versteckte, brachte den Roman deshalb 1943 bei einem kleinen Brüsseler Verlag heraus, er blieb nahezu unbeachtet. Ihre späte Wiederentdeckung im französischen Sprachraum in den achtziger Jahren hat sie immerhin noch erleben können. Vor zwei Jahren ist Madeleine Bourdouxhe fast neunzigjährig gestorben.
Der deutsche Verlag hat nach "Gilles' Frau" und zugleich mit der "Marie", wieder genau und elegant von Monika Schlitzer übersetzt, auch den Erzählungsband "Wenn der Morgen dämmert" vorgelegt. Mit mehr als fünfzigjähriger Verspätung kann jetzt auch das deutsche Publikum eine Autorin entdecken, deren Stimme zu den eindrucksvollsten und persönlichsten dieses Jahrhunderts zu zählen ist.