Tortur, Vergewaltigung, Mord - Alltag in den Gefangenenlagern der russischen Armee in Tschetschenien. Anna Politkowskaja hat es selbst erlebt
Es begann alles damit, dass 90 Familien aus mehreren Dörfern im südtschetschenischen Gebiet Wedeno eine Beschwerde in unserem Büro abgaben. Was sie schrieben, war beispiellos: Mehrere Hundert Menschen baten darum, aus dem Süden Tschetscheniens verlegt zu werden - irgendwohin in Russland, so bald wie möglich. Ihre Gründe: ständiger Hunger, unerträgliche Kälte, völlige Isolation von der Außenwelt, fehlende medizinische Versorgung - und vor allem die brutalen Strafaktionen russischer Einheiten gegen ihre Dörfer.
Die Vorwürfe waren so ungeheuerlich, dass sie kaum zu glauben waren. Also mussten sie überprüft werden. Meine Reise begann am 18. Februar. Ich hörte Dutzende haarsträubender Berichte von Leuten, die von den russischen Truppen gefoltert und misshandelt worden waren - so entsetzlich, dass meine Hand auf dem Notizblock erstarrte.
Einen der ersten Berichte hörte ich von Rosita aus dem Dorf Towseni. Sie kann kaum ihre Lippen bewegen, ihre Augen blicken leer, das Gehen fällt ihr noch immer schwer. Ihre Füße und Nieren schmerzen. Vor einem Monat wurde Rosita in ein Lager gebracht - sie nannte es ein "Filtrationslager" -, weil sie angeblich Kämpfer beherbergt hatte.
Rosita ist nicht mehr jung. Sie hat viele Kinder und mehrere Enkel. Das jüngste ist drei Jahre alt und sprach bisher kein Russisch. Seit es die Verhaftung der Großmutter miterlebte, schreit es andauernd: "Flach auf den Boden legen!"
Rosita wurde bei Morgengrauen in ihrem Haus verhaftet, als alle noch schliefen. So überraschend, dass sie nicht einmal mehr ein paar Sachen einpacken konnte. Dann wurde sie in eine Grube auf dem Lagergelände außerhalb von Chottuni geworfen. Dort sind Truppen des 45. Luftlanderegiments, des 119. Fallschirmjägerregiments, ferner Einheiten des Innenministeriums, des Justizministeriums und des Geheimdienstes FSB stationiert. Sie betreiben ein regelrechtes Konzentrationslager mit kommerziellem Einschlag.
"Hat man Sie gestoßen? Getreten?"
"Ja, das ist das Übliche."
Rosita verbrachte zwölf Tage in der Grube. Der Soldat, der sie bewachte, hatte eines Nachts Mitleid und warf ihr ein Stück Teppich hinab. "Ich habe mich darauf gelegt. Der Soldat war also doch ein Mensch."
Die Grube war flach, einen Meter zwanzig tief, und so angelegt, dass ihre Insassin zwar der kalten Winterluft ausgesetzt, aber durch Baumstämme am Aufstehen gehindert war. So verbrachte sie zwölf Tage sitzend oder kauernd auf ihrem Teppichrest.
Rosita erfuhr nie, wen sie angeblich "beherbergt" hatte. Es wurde keine Anklage gegen sie erhoben, obwohl sie dreimal verhört wurde.
Offiziere, die ihre Söhne hätten sein können, stellten sich ihr als Mitarbeiter des FSB vor. Sie zogen ihr "Kinderhandschuhe" an: Sie legten ihr ein Stromkabel um die Finger beider Hände. Die Drähte liefen über ihren Nacken.
"Ja, ich habe fürchterlich geschrien", sagt sie. "Es tat sehr weh, wenn sie den Strom anstellten. Aber sonst habe ich nie geschrien. Ich hatte Angst, sie zu provozieren. Die Leute vom FSB sagten: ,Du tanzt zu schlecht. Lass uns noch ein paar Volt aufdrehen.'" Sie drehten auf, und Rosita schrie immer lauter.
"Warum haben sie dich gefoltert? Wusstest du, warum?" - "Nein. Sie haben mich auch nichts Genaues gefragt."
Unterdessen forderten die Offiziere Rositas Verwandte über Zwischenhändler auf, ein Lösegeld aufzutreiben. Sie sagten ihnen, sie sollten sich beeilen, weil Rosita der Aufenthalt in der Grube anscheinend nicht sehr gut bekomme und sie es möglicherweise nicht mehr lange machen werde. Nach einer Weile wurde das Geld gebracht, und Rosita, schmutzig und zerlumpt, ging am Wachposten des Regiments vorbei in die Freiheit.
Wer ist Großmütterchen Rosita aus Towseni? Etwa eine Kämpferin? Wenn nicht: Warum wurde sie in Gefangenschaft gehalten? Wenn ja: Warum wurde sie freigelassen?
Der Kommandeur des 45. Luftlanderegiments ist ein gut aussehender, willensstarker Mann, ein Oberst, der Einsätze in Afghanistan und Tschetschenien erlebt hat. Er verflucht den Krieg, denkt laut über seine Kinder nach, die ohne einen Vater aufwachsen. Wenn es nach ihm ginge, würde er den Tschetschenien-Krieg sofort beenden. Er hat genug.
Er führt mich durch das Lager bei Chottuni. Der Kommandant zeigt mir die Kantine - für eine Feldküche ganz ordentlich - und ein Lebensmittellager. Schließlich kommen wir zum wichtigsten Ort. Er zeigt mir die Gruben, in die die Tschetschenen nach den "Säuberungen" geworfen werden. Er ist rücksichtsvoll und hält meinen Ellenbogen, damit ich nicht in ein sechs Meter tiefes Loch falle.
Die Grube sieht genau so aus, wie sie mir viele ihrer ehemaligen Insassen beschrieben haben. Ihre Öffnung beträgt drei mal drei Meter. Gestank dringt daraus hervor, trotz des Winterfrosts. Die Tschetschenen müssen in der Grube ihre Notdurft verrichten. Sie stehen Tag und Nacht. Wer will, kann auch sitzen.
Der Oberst scheint sehr unangenehm berührt, und er berichtet von merkwürdigen Dingen. Eines Tages flog sein Befehlshaber - General Baranow - ein, um das Regiment zu inspizieren. Er sah die verhafteten Tschetschenen auf einem Feld stehen und befahl, sie in die Gruben zu bringen, die zuvor mit Haushaltsabfall gefüllt waren. Der Oberst klingt ganz aufrichtig, als er sagt: "Aber wir haben nur die Rebellen dorthin getan. Keine normalen Leute."
Dann ist da der Bericht von Issa aus Selmentausen, das ebenfalls im Gebiet Wedeno liegt. Er wurde Anfang Februar in das Lager gebracht. Sie drückten Zigaretten auf seinem Körper aus, rissen seine Fingernägel heraus und schlugen ihm mit wassergefüllten Cola-Flaschen auf die Nieren. Dann warfen sie ihn in eine Grube, die "Badewanne" genannt wird. Sie war voll mit eiskaltem Wasser. Issa überlebte - das war nicht allen beschieden.
Issa teilte sich die Grube mit fünf anderen Männern. Die Unteroffiziere, die sie verhörten, sagten ihnen, sie hätten hübsche Hintern und vergewaltigten sie. Zur Erklärung meinten sie: "Eure Weiber wollten es nicht mit uns machen."
Diese Tschetschenen sagen nun, sie werden den Rest ihres Lebens damit verbringen, sich für die "hübschen Hintern" zu rächen. "Besser, sie hätten uns erschossen."
Issa hat sich von dem Schock nie ganz erholt. Wie Rosita wurde er gegen Lösegeld freigelassen, das von seinem ganzen Dorf gezahlt wurde.
Erlebnisse wie die von Rosita und Issa zeigen, dass der Krieg in Tschetschenien die Rollen der Opfer und Folterer verkehrt hat. Das erklärte Ziel der russischen "Anti-Terror-Operation" - Geiselnahmen und Menschenhandel durch die Partisanen zu bekämpfen - ist nun das Geschäft des Militärs.
Nur Minuten, nachdem ich mich vom Kommandeur verabschiedet hatte, wurde ich selbst verhaftet. Ich musste über eine Stunde auf einem Feld stehen. Dann kam ein Panzerwagen mit bewaffneten Soldaten unter Führung eines Oberleutnants. Sie stießen mit ihren Gewehrkolben nach mir und führten mich ab.
"Deine Papiere sind gefälscht. Du bist eine Kämpferin", sagte man mir. Dann kamen Verhöre, stundenlang. Junge Offiziere vom FSB, die betonten, dass sie ihre Befehle von Präsident Putin allein bekämen, machten mir klar, dass es mit meiner Freiheit vorbei sei, dass Telefonieren, selbst Umhergehen verboten sei - und meine Sachen: auf den Stuhl da!
Die widerlichsten Einzelheiten meiner Verhöre lasse ich aus, weil sie unvorstellbar obszön sind. Doch diese Details gaben mir den Beweis dafür, dass alles, was mir die Tschetschenen zuvor über Folter und Misshandlungen berichtet hatten, der Wahrheit entsprach.
Von Zeit zu Zeit gesellte sich den eifrigen jungen Offizieren ein Älterer hinzu, ein Oberstleutnant mit dunkelrotem Gesicht und dummen, glotzenden Augen. Gelegentlich schickte er die Jungen aus dem Zelt, schaltete "romantische" Musik ein und deutete an, dass ich mit einem "guten Ausgang" rechnen könnte, wenn ich mich richtig verhielte - verzeihen Sie mir, wenn ich nicht sage, wie.
Zwischen seinen Auftritten bearbeiteten die Jungen meine schwachen Stellen: Sie betrachteten die Fotos meiner Kinder und verschwiegen nicht, was sie ihnen antun würden. Das Ganze dauerte mehr als drei Stunden. Schließlich schaute der Oberstleutnant, der noch versucht hatte, mein Mitleid zu erregen, indem er sich beklagte, er vergieße sein Blut umsonst hier im Felde, auf seine Uhr und sagte: "Komm schon, ich werde dich jetzt erschießen." Er führte mich aus dem Zelt, es war stockdunkel.
Wir gingen ein kleines Stück, dann sagte der Offizier: "Drei, zwei, eins - ich komme." Plötzlich gab es einen fürchterlichen Krach, Geheul und Flammen. Dem Oberstleutnant gefiel es sichtlich, dass ich mich vor Schreck zusammengekrümmt hatte. Dann stellte sich heraus, dass er mich in dem Moment neben einen Mörser gestellt hatte, als er abgefeuert wurde.
Wenig später standen wir vor einer Treppe. "Das ist ein Badehaus. Zieh deine Kleider aus." Als er begriff, dass ich ihm dem Gefallen nicht tun würde, wurde er wütend. Wieder und wieder sagte er: "Da will dich ein Oberstleutnant mit ganzem Herzen haben, und du, du verdammte Schlampe ..."
Dann fügte er hinzu: "Schon vergessen? Drei, zwei, eins - ich komme!"
Da platzte ein anderer Offizier ins Badehaus, der sagte, er sei vom FSB. Der Oberstleutnant gab auf: "Sie will nicht baden." Der FSB-Mann stellte ein paar Flaschen auf den Tisch und sagte: "Dann nehme ich sie mit." Wir irrten lange durch das dunkle Lager. Schließlich befahl er mir, eine Treppe hinunterzusteigen. Dies war der Bunker, der meine Zuflucht sein sollte, bis ich am Nachmittag des 22. Februar freigelassen wurde. An der Wand hing ein Plakat: "Das 119. Fallschirmjägerregiment". Dass 18 Soldaten der Einheit den Titel "Held des russischen Volkes" tragen, stand darauf.
Ich verlangte, man solle Anklage gegen mich erheben oder wenigstens ein Verhörprotokoll anfertigen. Oder mich ins Gefängnis werfen, wo mich meine Verwandten besuchen und zumindest eine Zahnbürste mitbringen könnten. "Vergiss es! Du bist eine von diesen Banditen! Wenn du für uns arbeiten würdest, könntest du alles haben. Aber du bist hergekommen, um dir die Gruben anzusehen, du Schlampe ... Du hinterhältiger Wurm, du Stück Dreck. Dich hat Bassajew (ein tschetschenischer Rebellenführer, d. Red.) bezahlt."
Der Albtraum endete mit einem Flug von Tschetschenien ins ossetische Mosdok. Am Hubschrauber verabschiedete sich der Oberstleutnant mit den Worten: "Wenn es nach mir gegangen wäre: Ich hätte dich erschossen."
Auf dem Rückflug nach Moskau verbanden sich die vielen einzelnen Episoden meiner Reise zu einer Geschichte mit einem Schluss:
All dies geschieht in unserem Land, hier und jetzt. Obwohl es eine Verfassung gibt und einen "willensstarken" Präsidenten, der sie garantiert; obwohl es eine funktionierende Staatsanwaltschaft gibt und Menschenrechtler, von der Regierung bestallte und unabhängige.
Trotzdem gibt es die Gruben, die "Kinderhandschuhe", das "Drei, zwei, eins - ich komme". Und niemand soll wagen zu behaupten, ich hätte das alles nicht gesehen, gehört und gespürt. Denn ich habe es am eigenen Leib erlebt.
© Nowaja Gaseta