Je länger ich mich mit den Geschehnissen von früher wieder beschäftige, umso klarer wird mir, daß ich über die Jahre die Mißbrauchsthematik von meiner damaligen Mißhandlungsgeschichte abgekoppelt habe. Das funktioniert so nicht, stelle ich fest. Für mich sind die meisten Dinge soweit abgeschlossen, daß ich seit Jahren ziemlich zufrieden, frei von Depressionen und Selbstverletzungen leben konnte, aktiv bin, jetzt die Schule besuche um mein Abitur nachzumachen und mich lebendig fühle. Dazu zähle ich auch Emotionen, auch die, die nicht schön sind. Ich spüre mich.
Tatsächlich war diese Mißbrauchsgeschichte kaum je Thema in einer meiner Therapien, auch in meinen Gedanken kaum, im Vergleich zu allem anderen waren das Peanuts.
Daß ich das jetzt aufarbeiten will, sehe ich im Grunde genommen als Luxus an, ich könnte mir das nicht leisten, wenn ich insgesamt noch instabil wäre. Das muß allerdings nach außen verwirrend wirken. Ich stelle fest daß meine eigenen Maßstäbe keine Allgemeingültigkeit haben können, weil mein eigener Hintergrund sich stark von dem der meisten Menschen abweicht.
Eine meiner ersten Therapien habe ich mit Anfang 20 gemacht, ich war 10 Monate lang stationär in einer psychotherapeutischen Klinik mit psychoanalytischem Schwerpunkt. Meine Therapeutin erklärte mir irgendwann, daß einige meine Symptome typisch für Menschen wären, die Isolationshaft hinter sich hätten. Ich hielt das für überzogen, ebenso ihren Vergleich mit Überlebenden von KZs.
Daß es Parallelen gab und gibt habe ich erst sehr viel später erkannt. Daß mir das peinlich war, begreife ich erst jetzt. Ich war immer der Meinung, daß es wichtig ist, Dinge zu verstehen, auch die, die man selbst falsch gemacht hat. Ebenso war ich immer der Auffassung, daß Gründe für eigene Fehler niemals als Entschuldigung herhalten dürfen, für mich nicht, für andere auch nicht.
Das macht es mir jetzt schwer, meine Lebensumstände als Entschuldigung für das heranzuziehen, was zwischen meinen Brüdern, meiner jüngeren Pflegeschwester und mir vorgefallen ist. Das alles klingt für mich wie faule Ausreden.
Ich werde trotzdem versuchen, die Rahmenbedingungen so zu beschreiben, daß sie vielleicht das eine oder andere verständlicher machen. Ich möchte vorausschicken, daß das, was ich erzähle, mich heute kaum noch berührt. Es gibt gelegentlich Nächte, in denen mich Erinnerungen im Griff haben und es mir dann schlecht geht, das ist in der Regel aber nicht sehr stark in meinem Alltag vertreten, ich betrachte das als Art Phantomschmerzen, mit denen ich eben zu leben habe. Im Vergleich zu meinen früheren Zuständen harmlose Verstimmungen.
Calamos fragte, was mein Bruder mir gegeben habe. Wenn ich sage: Er hat mich mit Namen angeredet muß das banal klingen. Für mich war's ein Zugang zurück in die Außenwelt, das hat mir beim Überleben geholfen.
Innerhalb der Pflegefamilie war ich das unterste Glied (es gab noch einen Pflegebruder in einer ähnlichen Lage, ich habe ihn kaum wahrgenommen. Ich denke heute, wir sind gezielt von der Pflegemutter voneinander isoliert worden, es gab keine Verbrüderungen, jeder hat jeden verraten und verkauft, weil das die einzige Chance war, nicht selbst in ihren Fokus zu rücken). Ich war ihr Dauerziel, warum das so war kann ich nicht beurteilen. Mein Alltag: Prügel mit Bambusstöcken, die manchmal auf mir zerbrochen sind. Freiwillig ausgestreckte Hände, auf die sie Kochlöffel zerschlagen hat. Meine Angst, die Hände nicht auszustrecken, war größer als die aufgeschwollenen Handrücken. Manchmal waren meine Hände mehr als doppelt so dick wie üblich und dunkelblau verfärbt. Warum das niemand bemerkt hat, ich habe die Schule besucht und mich im Dorf frei bewegt, wenn ich nicht im Keller saß, weiß ich nicht. Abgespeichert habe ich, daß das normal gewesen sein muß, sonst hätte jemand reagieren müssen.
Nächtelange Verhöre: die fanden für mich stehend statt, in der Zimmertüre meiner Pflegemutter, ohne mich anzulehnen, ohne mich zu bewegen. Ich sollte Diebstähle gestehen, an die ich mich nie erinnern konnte. Ich wußte lange Zeit nicht, ob ich diese Diebstähle (es ging immer um Süßigkeiten) begangen hatte oder nicht, aber gestanden habe ich alle früher oder später, um endlich schlafen zu dürfen. Die Geständnisse halfen allerdings nicht, weil ich die Tathergänge beschreiben sollte. Weil ich weder wußte, was, noch von wo diese Diebstähle stattgefunden hatten, dachte ich mir etwas aus in der Hoffnung, damit aus den Verhören entlassen zu werden. Das zog Prügel nach sich und Strafen wie die, daß ich tagsüber mit Warndreieck um den Hals herumlaufen mußte, unter dem Lügner und Betrüger stand.
Schlafen mußte ich oft im Keller. Der hatte ein hergerichtetes Spielzimmer, eigentlich ein schöner Raum. Ich fürchtete mich dort unten, weil ich oft Geräusche hörte und dachte, das wären Einbrecher, die mich ermorden würden. Wenn ich dort eingeschlafen war, kam es vor, daß das Licht plötzlich anging, das war so ein grelles Neonlicht, und die Pflegemutter schreiend mit Bambusstöcken auf mich einprügelte, während ich wach wurde. Ich habe irgendwann nachts im Keller kein Licht mehr angemacht, weil ich befürchtete, sie könnte das durch die Kellertüre sehen und dann herunterkommen. Das hatte zur Folge, daß ich mir eines Tages im Dunkeln einen Zahn am Türpfosten ausgeschlagen habe. Die Angst, wegen des Bluts auf dem Pulli wieder Prügel zu bekommen, war größer als die Schmerzen. Später habe ich mir mit einer Zange einen weiteren Zahn gezogen, damit sie mich nicht bestrafen würde, weil ich meine Zahnspange nicht getragen hatte und so dieser Zahn nachwachsen konnte, daß die Zahnspange nicht mehr in meinen Mund paßte. Freiwillig.
Es war eine ähnliche Art Freiwilligkeit, mit der ich mich auf meinen Bruder eingelassen habe. Unterschied: ihm gegenüber nicht aus Angst, sondern aus dem Bedürfnis, Zugang zu den anderen zu bekommen. Das war nichts Konkretes. Es hat mich zu der Zeit kaum jemand mit Namen angesprochen. Ich wußte nicht mehr, ob ich überhaupt ein Mensch bin, weil egal was ich dachte oder tat, sowieso falsch war. Es gab nichts, was ich irgendwie richtig machen konnte. Innerhalb der Familie gab es keinen Zusammenhalt. Innerhalb der Institution war ich die Dicke oder wurde als Frau Professor verspottet, weil ich als Erste dort auf ein Gymnasium ging. Im Gymnasium war ich das fragwürdige Kind, das aus keiner guten Familie stammte, ich war Außenseiter.
Es gab gelegentlich freundliche Gesten, auch mal eine Art vorübergehende Bezugsperson, aber wirklich wahrgenommen habe ich die nie. Ich war überzeugt, daß ich Schuld wäre, sonst hätte ich mich nicht in dieser Position befunden, die mich zum Außenseiter gemacht hat. Es wäre mir unmöglich gewesen, irgend jemandem zu gestehen, welche Strafen ich bekommen habe, weil ich dachte, ich wäre ein schlechter Mensch und hätte sie verdient. Das ist schwer zu vermitteln, wenn man das selbst nicht erlebt hat.
Mein Bruder wußte, daß ich ständig bestraft wurde, er kannte die Situation in der Familie. Und er hat trotzdem angefangen, mit mir zu reden, als wäre ich ein Mensch. Er hat mich angefaßt, er hat mich mit meinem Namen angesprochen. Das war, als hätte er die Kellertür aufgesperrt. Ich hätte alles gemacht, um das nicht zu verlieren.
Ob er wissen konnte, wie sich das auf mich auswirkt oder nicht, spielt vielleicht keine Rolle. Als er nach etwa zwei Jahren verlangte, ich solle unsere ältere Pflegeschwester fragen, ob sie mit ihm Sex haben wolle, bin ich innerlich irgendwie gestorben. Ich hab mich nie wieder von ihm anfassen lassen, ich habe zum ersten Mal NEIN gesagt, ihm gegenüber und auch meiner Pflegemutter gegenüber, als sie mich wieder einmal verprügeln wollte. Ich brauchte nicht schreien oder heulen, ich brauchte nur sagen: Du wirst mich nie wieder schlagen. Tat sie auch nicht, sie hat mich angesehen wie ein Gespenst und mich seitdem kaum noch behelligt. Sie hat erleichtert reagiert, als ich beantragt habe, daß ich in eine andere Einrichtung kam.
Ich glaube, das hat mir irgendwie das Leben gerettet oder meinen Verstand. Das was zwischen meinem Bruder und mir gelaufen war, habe ich dann komplett vergessen, daran konnte ich mich erst Jahre später wieder erinnern.