In den Sommermonaten stand in meiner Familie die "Sommerfrische" auf dem Programm: vier Wochen lang wurde der Haushalt zu einem Bauern in das niederösterreichische Türnitz verlagert. Einbegriffen waren die Eltern, anfänglich die drei, später meist nur zwei der drei Kinder, und die Großmutter.
Das Abenteuer begann in aller Regel schon zwei Wochen vor der geplanten Abreise. Die Koffer wurden bereitgestellt, damit man langsam und überlegt packen konnte, und ja nicht im letzten Moment noch etwas vergessen würde. Das Kofferpacken war Sache meines Vaters, und nahm mitunter groteske Formen an, vor allem gegen Ende. Wenn ich mich recht erinnere, gab es wohl kein Stück, welches nicht zumindest dreimal umgepackt worden wäre, ehe es seinen dauerhaften Platz für die Reise gefunden hatte. Besorgnis kam meist zwei Tage vor dem Reisetermin auf, als bereits absehbar war, dass höchstwahrscheinlich manches von dem, was noch des Einpackens harrte, keinen Platz mehr finden würde. Aber was tut Gott, wenn der Vorabend der Abreise erreicht war, hatte es mein Vater wieder einmal geschafft, dank seiner akribischen Packtechnik so gut wie alles geordnet und übersichtlich einzupacken, und nach einer halben Stunde harter Arbeit war es sogar gelungen, die Koffer zu verschließen.
Der Reisetag begann zeitig in der Früh. Sehr zeitig in der Früh. Eigentlich noch in der halben Nacht, denn der Zug fuhr meist um sieben Uhr (mein Vater liebte frühe Züge), und wenn man berücksichtigt, dass mein Vater es auch liebte, ausreichend früh am Bahnhof zu sein (obwohl keinerlei Hinweise darauf vorlagen, dass jemals ein Zug früher als vorgesehen abgefahren wäre), wenn man weiters berücksichtigt, dass unbedingt gefrühstückt werden musste, dass mein Vater noch die Großmutter holen musste, und dass vor allem noch die Fahrt zum Bahnhof bevorstand, dann lässt sich erahnen, dass es wahrscheinlich vernünftiger gewesen wäre, sich erst gar nicht schlafen zu legen.
Wenn's dann endlich so weit war, dass die Familie gesättigt und die Großmutter samt Koffer bei uns eingetroffen war, wurde die ganze Mischpoche inklusive Gepäck vor dem Haustor aufgestellt, und dann machte sich mein Vater auf den Weg, vom nahen Standplatz ein Taxi zu holen. Das war ein genialer Schachzug, denn so konnte der Fahrer, sobald er des wartenden Unheils ansichtig wurde, nicht einfach das Weite suchen, sondern war schon aus Mitleid gezwungen, den bitteren Kelch zu leeren.
Es hat schon ein Zeitl gedauert, bis der nach einigen ungläubigen Blicken sichtlich verfallende Taxler die zwei sehr großen Koffer, die zwei mittelgroßen Koffer, den riesigen Rucksack sowie die restlichen Taschen, Beutel und sonstige kleine Stücke verstaut hatte, und endlich auch die immerhin fünf Passagiere ihre Plätze eingenommen hatten.
In der Zwischenzeit hatten die weiblichen Familienmitglieder ausreichend Gelegenheit, sich von der zurückbleibenden "Mami" tränenreich zu verabschieden, wobei das ned allzuviel zu sagen hat - bei uns hat es
immer tränenreiche Abschiede gegeben, das ist eine Art Familientradition.
Dann ging's zum Westbahnhof, woselbst alles wieder ausgeladen wurde, worauf der Taxler erleichtert das Weite suchte, nicht ohne den festen Vorsatz, sich das Gesicht meines Vaters gut einzuprägen, damit ihm nicht noch einmal dieses Unglück widerfährt.
Mein Vater war auch für den Transfer der Gepäckstücke verantwortlich, da es in der Familie in dieser Zusammensetzung niemanden gab, der ihm dabei eine nennenswerte Hilfe gewesen wäre, und Kofferkulis gab es damals noch nicht. Der Gebrauch eines Dienstmannes (die gab's noch) wurde rigoros abgelehnt, und so wurde für den Transport der Gepäckstücke vom Gehsteig zum Bahnsteig eine Stafette eingerichtet, welche allerdings den Nachteil hatte, dass sie nur aus meinem Vater bestand, so dass der Gute, als endlich alles am Bahnsteig versammelt war, schon schwitzte wie ein Schwerarbeiter.
Dennoch war ihm eine gewisse Befriedigung anzusehen, dass alles im Plan war, keine Fristen überschritten, und vor allem, dass man noch
rechtzeitig am Bahnhof eingetroffen war. Zwar war zu dem Zeitpunkt noch rund eine Stunde bis zur Abfahrt, und in aller Regel war der Zug noch gar nicht bereitgestellt - aber
wir würden ihn mit Sicherheit nicht versäumen.
Sobald der Zug am Bahnsteig stand, suchten wir uns - da ohne Konkurrenz - in aller Ruhe ein genehmes Abteil, welches dann fein säuberlich mit unserem Gepäck vollgestopft wurde, wobei die Gepäckträger einmal mehr ihre große Tragfähigkeit unter Beweis stellen konnten. Da ein Abteil aus sechs Plätzen bestand, brauchte man nicht zu besorgen, dass sich ein "Fremder" zu uns setzen würde, weil die Einzelreisenden der damaligen Zeit nach einem Blick ins Abteil die Flucht ergriffen. Also machte sich langsam Zufriedenheit breit, und die restlichen zwanzig Minuten bis zur Abfahrt vergingen praktisch wie im Flug.
Schüchterne Fragen seitens der Großmutter, ob wohl die Fahrkarten ..... wurden von meinem Vater mit entrüstetem Blick im Keim erstickt, wobei ein sicherer Griff in die Innentasche des Sakkos ein Kuvert zu Tage förderte, in welchem er nicht nur die Fahrkarten, sondern auch einen handgeschriebenen Fahrplan für die Fahrt nach Türnitz aufbewahrte. Das prompt einsetzende Lob nahm er mit dem überlegenen Lächeln des geborenen Organisators entgegen, und der grenzenlosen Harmonie waren keine Grenzen mehr gesetzt.
Das heißt .....
ein kritischer Punkt war noch zu überwinden: aus Gründen, welche nie mehr richtig nachzuvollziehen waren, musste
immer wenige Minuten vor der Abfahrt mindestens eine der Familie noch die "Bequemlichkeit" aufsuchen, eine Absicht, welche von meinem Vater strikt unterbunden wurde, "weil man so kurz vor der Abfahrt nicht mehr den Zug verlässt"
. Da half nichts, als die paar Minuten zu warten, bis sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte ("Die paar Minuten wird das wohl auszuhalten sein!"), und dann das WC im Zug zu benutzen.
Und dann war's endlich so weit ...... Lautsprecheransage ...... der Mann mit der roten Kappe hob seine Kelle, ein langer Pfiff aus der Trillerpfeife, ein etwas kürzerer Pfiff von der Lokomotive, und mit einem leichten Ruck, begleitet von einem mütterlichen "In Gottes Namen", nahm der Zug die Fahrt auf.
Türnitz, wir kommen.