Sagen wir es einmal so: Vieles davon entspricht einfach der nüchternen Analyse des IST, nicht unbedingt einer Formulierung des SOLL. Das SOLL ist sowas wie gesellschaftliche Konvention und Festhalten eines ethisch-moralischen Standards, an dem wir als Menschen (bei denen es eben "menschelt", also wo einfach Stärken und Schwächen gegeben sind) immer wieder scheitern und es immer wieder werden.
Ich verstehe den Artikel daher nicht als Formulierung eines moralischen Anspruchs, kann ihn inhaltlich unterschreiben. Die Frage ist eben manchmal, mit welcher Variante der geringste Schaden entsteht:
Wenn der Josepha S. (Name von der Redaktion zufällig ausgewählt) eine bestimmte Erotik in ihrer Ehre fehlt, sie aber ansonsten mit ihrem Mann und ihren Kindern glücklich ist, sieht es doch so aus:
A. Sie geht fremd und holt sich das, was ihr fehlt extern. Danach beichtet sie es und riskiert, dass ihr Mann sie verlässt.
B. Sie geht nicht fremd (tradiertes Verständnis von "Treue"), ist aber unglücklich. So riskiert sie, dass ihre Ehe nach und nach Schaden nimmt, weil ein unglücklicher Familienteil eben auch auf die anderen ausstrahlt.
C. Sie geht fremd und hofft, dass es nicht auffliegt. Nichts weiter passiert.
D. Sie geht fremd es fliegt auf. Konsequenz entspricht A., maximal leicht abgeschwächt.
E. Sie geht fremd und verliebt sich. Nun hat sie die Entscheidungsthematik, wie sie weitermachen will - einfach wird das nicht, Schmerz wird da sein.
Ab jetzt ist es "risk hedging". Was ist wie wahrscheinlich? Ist die kleine Lüge vielleicht geeignet, einen größeren Schaden abzuwenden?
Individuelle Moral spielt hier eine Rolle, aber nur insoweit, als dass Josepha S. natürlich für sich entscheiden muss, ob sie mit dem "Gewissen" leben kann - was andere darüber denken ist eine andre Frage. Letztlich muss man ja selbst sein Leben leben und wissen, was macht mich glücklich, was macht mich unglücklich. Die Moralvorstellungen anderer zu leben, "damit die Leut nix sagen" kann auf Dauer kaum zu Glück führen.