Ich weiß es bringt zwar nichts das hier zu posten, aber ich mach es entgegen meines besseren Wissens trotzdem.
Dies ist ein Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung. Ich habe den Text kopiert, weil man sich dafür registrieren muss:
Die Corona-Strategien der europäischen Regierungen basieren auf der Befürchtung, dass sich die Infektionswelle schnell ausbreitet, was die Spitalkapazitäten eher früher als später überlastet. Erst nach vielen Monaten würde sich die Situation entspannen – bei einem Durchseuchungsgrad der Bevölkerung von gegen 70 Prozent. Daraus haben die Regierungen den Plan entwickelt, den «Infektions-Tsunami» mit massiven Einschränkungen der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten zu verzögern und zu glätten. Allerdings droht diese Verzögerungsstrategie an dreierlei zu scheitern.
Mechanismen des Scheiterns
Erstens verursachen die harten Verkaufs-, Ausgeh-, Reise-, Veranstaltungs- und Versammlungsverbote riesige gesellschaftliche Schäden, welche mit der Dauer, der Schärfe und der Unabsehbarkeit der Eingriffe schnell anwachsen. Konkurse, Zahlungs- und Kreditausfälle führen zu weiteren Konkursen und drohen sich zu Finanz-, Immobilien- und Schuldenkrisen auszuwachsen, die auch Rentenvermögen vernichten. Das ist auch für die Volksgesundheit negativ. Mit Isolation, Bewegungsmangel und Angst um die wirtschaftliche Existenz wachsen Stress, Vereinsamung, innerfamiliäre Konflikte, Suchtprobleme, Depressionen. Zugleich ist die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens bedroht, nicht nur, weil Beschäftigte sich infizieren, sondern auch, weil sie infolge der Schulschliessung ihre Kinder betreuen müssen. Die Frage steht im Raum, ob die Verzögerungsstrategie am Ende nicht mehr Todesfälle bewirkt, als sie verhindert.
Zweitens dürfte sich mit fortdauerndem Ausnahmezustand die gesellschaftliche Risikowahrnehmung verändern. Die Regierungen argumentieren, ihre Eingriffe seien wohlbegründet und verhältnismässig, weil sie Leben retteten. Doch aus dieser Perspektive könnte man fast alles verbieten: Rauchen, Alkohol, Autos, Velos, Reisen, viele Risikoberufe. Behörden tun das nicht, weil sie normalerweise eine vergleichende Perspektive einnehmen: Sie wägen Vorteile und Nachteile von Massnahmen möglichst umfassend ab. Bei der Corona-Pandemie starren die Regierungen ausschliesslich auf die rohe Zahl der direkten Todesfälle, während sie bei ihren Entscheiden sonst stets auch die Anzahl verlorener oder geretteter Lebensjahre zu bewerten und abzuwägen pflegen. Aus dieser Perspektive erschiene Corona wohl weniger bedrohlich – sie dürfte mit zunehmender Forschung und Wissen über Vorerkrankungen der Corona-Verstorbenen an Gewicht gewinnen.
Drittens – und das ist ein «game changer» – sinkt mit wachsendem Durchseuchungsgrad und zunehmender Testung die Bereitschaft der Bürger, die Anweisungen der Regierung zu befolgen. Viele, welche die Erkrankung nachweislich hinter sich haben und damit ganz oder weitgehend immun gegen Neuansteckung und Übertragung sind, werden sich gegen die scharfen Einschränkungen ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit mit zunehmender Vehemenz zur Wehr setzen. Dabei werden sie auf Verständnis stossen, denn sie in ihrer Aktivität einzuschränken, nützt nichts und schadet nur. Sobald aber die Regierung die Restriktionen für attestiert Immune lockert, werden viele noch nicht infizierte Menschen ohne gesundheitliche Vorbelastung eine Ansteckung mit Aussicht auf baldige Rückkehr ins normale Leben dem Verbleib in Zwangsisolation und Arbeitslosigkeit vorziehen.
Grösstmöglicher Scherbenhaufen
Das führt zu dem ungemütlichen Schluss: Mit der Verzögerungsstrategie drohen riesige gesamtgesellschaftliche und volksgesundheitliche Schäden sowie ein flächendeckender wirtschaftlicher Zusammenbruch, also praktisch der grösstmögliche Scherbenhaufen. Gibt es einen Ausweg? Man könnte den wenig Gefährdeten ihre volle Freiheit wiedergeben und nur die besonders Gefährdeten hart abschotten. Für die von der Quarantäne Betroffenen wäre das äusserst belastend. Zudem wäre ihre angemessene Betreuung so gut wie unmöglich, da sie schärfste Schutzvorkehrungen bedingt, solange die Betreuenden nicht selbst immun sind. Der wohl beste Ausweg könnte deshalb eine klug gelenkte Immunisierung sein.
Gute Corona-Politik muss die stark Gefährdeten schützen und dafür sorgen, dass die ohnehin anstehende Durchseuchung der grossen Mehrheit mit möglichst kleinen gesellschaftlichen Schäden durch Ansteckung und deren Verhinderung erfolgt. Dazu müssen die Infizierungen strategisch gelenkt werden. Die Ansteckung von stark Gefährdeten muss möglichst hinausgezögert und gestaffelt werden. Hingegen sind überlebende Infizierte nach angemessener Quarantäne und voller Genesung gegen das Virus nach heutigem Kenntnisstand praktisch vollständig immun. Deshalb könnten die Restriktionen für sie gelockert werden, so dass sie ihren beruflichen und persönlichen Aktivitäten wieder weitgehend frei nachgehen könnten.
Die derzeitige Corona-Hinhaltestrategie vermag wohl ein Ende mit Schrecken zu verhindern – aber nur um den Preis eines Schreckens ohne Ende.
Das brächte ihnen und auch den anderen grosse Vorteile. Da es in vielen Bereichen aber noch für lange Monate viel zu wenige Immune gäbe und eine wilde Selbstansteckung nicht wünschenswert ist, sollte die Immunisierung von wenig Gefährdeten behördlich und ärztlich begleitet werden. Diese Strategie könnte auf die Beschäftigten aller Bereiche angewendet werden. Besonders wichtig wäre sie aber für diejenigen, die intensiven Kontakt mit besonderes stark Gefährdeten haben, etwa im Gesundheits- und Pflegebereich. Natürlich müssten deren Familien einbezogen werden. Wer die Infektion nachweislich hinter sich hat, bekommt einen Corona-Freipass.
Für das Funktionieren des Ansatzes sind folgende Aspekte grundlegend:
1. Alle Corona-Strategien vermögen eine starke Durchseuchung letztlich nicht zu verhindern. Je nachdem aber führen sie zu ganz unterschiedlichen Belastungen des Gesundheitswesens. Entscheidend ist neben der Zahl der Erkrankungen vor allem die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten. Nach den Maximen der heutigen Verzögerungsstrategie müssen diese mit allen Mitteln zu verhindern suchen, sich selbst und die Mitmenschen anzustecken. Das ist sehr aufwendig, senkt die Produktivität und ist psychisch belastend. Zudem droht bei Infizierung Einzelner die Stilllegung ganzer Teams. Wenn hingegen die Leute die Infektion schon hinter sich hätten, wäre die Gefahr minim, dass sie wieder erkranken und den Virus weiter verbreiten. Eine klug gelenkte Infektion würde das Gesundheitssystem entlasten und so die Überlebenschancen der besonders Gefährdeten stärken.
2. Ähnliches gilt für alle weiteren Branchen. Beschäftigte, die immun sind, könnten wieder ganz normal arbeiten, ohne sich und andere zu gefährden. Sie müssen nicht mehr ständig Angst haben, sich selber zu infizieren und andere anzustecken. Wenn die Ansteckung sorgsam gelenkt stattfindet, können die Infizierten und ihre Familie viel angemessener mit der Situation umgehen, als wenn die Infektion irgendwann zufällig erfolgt und oft erst spät entdeckt wird.
3. Es ist klar, dass gelenkte Immunisierungen auf freiwilliger Basis und unter strenger ärztlicher Aufsicht sowie mit gut organisierter Quarantäne erfolgen müssen. Gelenkte Infektionen sind für die Betroffenen und die Gesellschaft mit weniger Risiken verbunden als die ungeplanten Infektionen unter der Verzögerungsstrategie. Der Staat muss dafür sorgen, dass die gelenkte Immunisierung bald und unter guten Bedingungen erfolgen kann. Es muss für die Bürger attraktiver sein, an ihr teilzunehmen, als auf wilde Selbstansteckung zu machen.
4. Da Immune die Krankheit nicht übertragen, sinkt mit ihrer ansteigenden Zahl die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Ansteckungen anderer. Dank intelligenter Steuerung der Immunisierung könnte der für ein Abebben der Infektionswelle notwendige Durchseuchungsgrad mit einer gesenkten Zahl von Gefährdeten erreicht werden.
Unnötige Ängste
Wie bei jeder Problemlösung gibt es Fragen und Einwände:
«Ist die gelenkte Immunisierung nicht riskant, auch wenn die Person bis anhin gesund erscheint?» Die Risiken sind nicht null, aber relativ klein. Sie müssen vergleichend betrachtet werden. Eine gut geplante und sorgsam begleitete Infektion ist mit kleineren Risiken verbunden als die mit der Verzögerungsstrategie verbundenen ungeplanten Ansteckungen. In unzähligen Berufen sowie auch bei vielen medizinischen Vorkehrungen – etwa Impfungen – werden Gesundheitsrisiken der einen in Kauf genommen, um die Leben anderer zu schützen.
«Wäre ein Alleingang der Schweiz überhaupt möglich?» Natürlich würden die anderen europäischen Regierungen den Alleingang zunächst kaum goutieren, aber diesen Weg für sich selber in Erwägung ziehen. Im Kampf gegen das Coronavirus sind aber Immune eine entscheidende Ressource, und ihre schnelle Rückkehr in den Arbeitsmarkt würde der Gesellschaft ja nur nützen.
«Was ist, wenn sich die Corona-Pandemie dereinst als weniger dramatisch erweisen sollte als derzeit angenommen?» So oder so ist unumstritten, dass eine Coronavirus-Infektion für gesundheitlich stark Vorbelastete grosse Risiken bringt. Es gilt, diese Menschen gut zu schützen und menschlich zu umsorgen. Dafür braucht es viele immune Beschäftigte – auch dank gelenkter Immunisierung.
«Ist es jetzt nicht zu spät für solche Überlegungen?» Falls die Verzögerungsstrategie nicht frühzeitig zusammenbricht, endet sie mit grosser Wahrscheinlichkeit in einem monatelangen Ringen gegen die Infektion und ihre Folgen. In beiden Fällen drohen allergrösste gesellschaftliche und wirtschaftliche Schäden. Deshalb ist es nicht zu spät, über eine Anpassung der Strategie nachzudenken.
Fazit: Aus gesamtgesellschaftlichen und volksgesundheitlichen Gründen ist eine klug gelenkte Immunisierung der bestehenden Verzögerungstaktik überlegen. Letztere würde nur funktionieren, wenn wir Menschen unproduktive, passive Wesen wären; wir sind aber Wesen, die aktiv reagieren. Die derzeitige Corona-Hinhaltestrategie vermag wohl ein Ende mit Schrecken zu verhindern – aber nur um den Preis eines Schreckens ohne Ende.
Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg i. Ü. und Forschungsdirektor von Crema – Center for Economics, Management and the Arts.