Eure Lieblingsgedichte/Texte

V e r s e

Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich,
in einem Wesen auferstand und sprach,
so sind es Verse, da unendlich
in ihnen sich die Qual der Herzen brach;
die Herzen treiben längst im Strom der Weite,
die Strophe aber streift von Mund zu Mund,
sie übersteht die Völkerstreite
und überdauert Macht und Mörderbund.

Auch Lieder, die ein kleiner Stamm gesungen,
Indianer, Yakis mit Aztekenwort,
längst von der Gier des weißen Manns bezwungen,
leben in stillen Ackerstrophen fort:
„komm, Kindlein, komm im Schmuck der Siebenähren,
komm, Kindlein, komm in Kett’ und Yadestein,
der Maisgott stellt ins Feld, uns zu ernähren,
den Rasselstab und du sollst Opfer sein -“

Das große Murmeln dem, der seine Fahrten
versenkt und angejocht dem Geiste lieh,
Einhauche, Aushauch, Weghauch - Atemarten
indischer Büssungen und Fakirie -,
das große selbst, der Alltraum, einem Jeden
ins Herz gegeben, der sich schweigend weiht,
hält sich in Psalmen und in Veden
und spottet alles Tuns und trotz der Zeit.

Zwei Welten stehn im Spiel und Widerstreben,
allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,
er kann vom Augenblick nicht leben,
obschon er sich dem Augenblicke dankt;
die Macht vergeht im Abschaum ihrer Tücken,
indes ein Vers der Völker Träume baut,
die sie der Niedrigkeit entrücken,
Unsterblichkeit im Worte und im Laut.​

Gottfried Benn
 
XI (Die Sonette an Orpheus) von Rilke

Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild "Reiter"?
Denn dies ist uns seltsam eingeprägt:
dieser Stolz aus Erde. Und ein zweiter,
der ihn treibt und hält und den er trägt.

Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt,
diese sehnige Natur des Seins?
Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
Neue Weite. Und die zwei sind eins.

Aber sind sie's? Oder meinen beide
nicht den Weg, den sie zusammen tun?
Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide.

Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun,
der Figur zu glauben. Das genügt.
 
Wo sind all die Blumen hin? Gott hat sie zerrieben
(Wo ich suche und auch fluche)
Zwischen pergament'nen Bücherdeckeln ruhen sie
(Eurer blanken Nähe Schein)
Auch meine Blume liegt zerdrückt im Himmel schon seit vielen Jahren
(Will doch fühlen, tief ich wühlen)
Und mein konserviertes Herz ruht still in Formalin
(Nah und doch ganz ferne sein)

Fort, ganz weit fort von hier,
Jenseits von Trug und Lüge,
Zieht ein so fragiler Stern
Im Dunkel seinen Kreis.
Tief, ganz tief in mir,
In Mikrokosmen fliege
Ich im All der Wahrheit gern
Und zahle stolz den Preis.

Ganz entsagen, widerstehen
Alte Sagen brennen sehen

Bleib' steh'n! Diese Rose schenkst du mir mit deiner Liebe sanft
Ich sehe, die Rose Dornen hat, den schneidend' Schmerz ins Fleisch dir rammt
Komm, sprich, ist dies' Leben nicht voll ungesagter Lieb' zu mir?
Dies' Leben grämt dich bitterlich, so bitte mich: Laß ab von dir...

Krank gemacht...

Ja, krank gemacht hat mich die Sehnsucht
Sucht gesehnt nach Illusion
Utopie, gesät in mir und wilde Blüten es dort trieb
Zu Gärten voller Licht und Wärme
Warm ward mir in tiefster Mitte
Wo ich barg die Blume mir
aus tiefster Liebe Truhenschloss

Doch nun will ich, und seid versichert: Sicher sein vor allen Räubern
(Ewiglich will ich enthalten)
Meiner Träume Kerzenschein... Scheint so, dass ich nicht mehr spiele
(Allen fernen Träumen mich)
Euer Spiel, gezinkte Karten, nichts geht mehr, die Tür ist wieder
(Kalt in tiefer Seele sein)
Zugeschlagen, reingeschlagen, schlagt mich ruhig,
(Ferner Stern, der kreist in sich)
ich spür's nicht

...mehr!

Auszüge aus "die Nihilistenhyme" von der deutschen Band "Adversus".
 
Für mich wurde es eine weitere schlaflose Nacht. Anstatt mich zu beruhigen hatten mich ihre Geständnisse völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich muss sagen, es ging mir damals ziemlich schlecht. Sehr schlecht. Alles zehrte an mir. Ich befand mich in einer wahrlich niederschmetternden Lage: Ich hatte diejenige verloren, die ich liebte, und soeben begriffen, dass ich auch der anderen übel mitgespielt hatte. Was für ein Scherbenhaufen. Ich hatte die Liebe meines Lebens verloren, um bei einer Frau zu bleiben, die mich aufgrund ihres Käsehändlers und Metzgers nicht verließ. Eine verzwickte Situation. Die reinste Sabotage. Weder Mathilde noch Suzanne hatten das verdient. Ich hatte alles verpatzt. Noch nie habe ich mich so elend gefühlt.

Aus: Ich habe sie geliebt, Anna Gavalda
 
"Der Schmerz ist mittlerweile fast verschwunden,
Verdrängt vom Groll.
Ergiebigem, fruchtbarem, stetig wachsendem Groll,
Kein schönes Gefühl, Ebenso wenig wie Rache,
Vor allem, wenn sie dem Groll entspringt."
Konkreter: "Möge dein neuer Lover Nesselsucht kriegen
Bei der zärtlichsten parfümierten Liebkosung.
Möge seine schwielig-geile Haut
Nässende Blasen werfen
Aus stinkendem Schweiß."

Carl Djerassi aus dem Buch Tagebuch des Grolls
 
Liberté von Paul Éluard
deutsche Übersetzung

Sur mes cahiers d’écolier
Sur mon pupitre et les arbes
Sur le sable sur la neige
J’écris ton nom

Sur toutes les pages lues
Sur toutes les pages blanches
Pierre sang papier ou cendre
J’écris ton nom

Sur les images dorées
Sur les armes des guerriers
Sur la couronne des rois
J’écris ton nom

Sur la jungle et le désert
Sur les nids sur les genêts
Sur l’écho de mon enfance
J’écris ton nom

Sur les merveilles des nuits
Sur le pain blanc des journées
Sur les saisons fiancées
J’écris ton nom

Sur tous mes chiffons d’azur
Sur l’étang soleil moisi
Sur le lac lune vivante
J’écris ton nom

Sur les champs sur l’horizon
Sur les ailes des oiseaux
Et sur le moulin des ombres
J’écris ton nom

Sur chaque bouffée d’aurore
Sur la mer sur les bateaux
Sur la montagne démante
J’écris ton nom

Sur la mousse des nuages
Sur les sueurs de l’orage
Sur la pluie épaisse et fade
J’écris ton nom

Sur les formes scintillantes
Sur les cloches des couleurs
Sur la vérité physique
J’écris ton nom

Sur la lampe qui s’allume
Sur la lampe qui s’éteint
Sur mes maisons réunies
J’écris ton nom

Sur le fruit coupé en deux
Du miroir et de ma chambre
Sur mon lit coquille vide
J’écris ton nom

Sur mon chien gourmand et tendre
Sur ses oreilles dressées
Sur sa patte maladroite
J’écris ton nom

Sur le tremplin de ma porte
Sur les objects familiers
Sur le flot du feu béni
J’écris ton tom

Sur toute chair accordée
Sur le front de mes amis
Sur chaque main qui se tend
J’écris ton nom

Sur la vitre des surprises
Sur les lèvres attentives
Bien au-dessus du silence
J’écris ton nom

Sur mes refuges détruits
Sur mes phares écroulés
Sur le murs de mon ennui
J’écris ton nom

Sur l’absence sans désir
Sur la solitude nue
Sur les marches de la mort
J’écris ton nom

Sur la santé revenue
Sur la risque disparu
Sur l’espoir sans souvenir
J’écris ton nom

Et par le pouvoir d’un mot
Je recommence ma vie
Je suis né pour te connaître
Pour te nommer

Liberté
 
Über die Geduld
(von Rainer Maria Rilke)

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
 
aus "Das Leben ist anderswo" von Milan Kundera

Durch seine Träume fiel er in die Tiefe.
Der schönste Augenblick war, wenn ein Traum noch nicht
zu Ende war, während dahinter bereits ein nächster durch-
schimmerte, in den hinein er erwachte.
Die Hände, die ihn in dem Augenblick gestreichelt hatten,
da er in der Gebirgslandschaft stand, gehörten bereits der
Frau aus jenem Traum, in den er wieder zurückfiel, doch
davon wusste Xaver noch nichts, so dass die Hände für sich
allein existierten; es waren Wunderhände im leeren Raum;
Hände zwischen zwei Geschichten, zwischen zwei Leben;
weder von einem Körper noch von einem Kopf verdorbene
Hände.
Möge die Berührung dieser Hände ohne Körper möglichst
lange dauern!
 
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aus "Das Buch der Unruhe" von Fernando Pessoa

Letztlich wird uns alles in Proportionen zu unseren Gegebenheiten zugeteilt. Ein kleiner Zwischenfall auf der Straße, der den Koch meines Gasthauses an die Tür ruft, unterhält ihn mehr als mich die Betrachtung des originellsten Gedankens, die Lektüre des besten Buches, der willkommenste der nutzlosen Träume unterhält.
Und wenn das Leben wesentlich Eintönigkeit ist, so ist es eine Tatsache, daß er der Eintönigkeit eher entkommen ist als ich. Und er entrinnt der Eintönigkeit noch dazu leichter als ich. Die Wahrheit liegt nicht bei ihm und nicht bei mir, weil sie bei niemandem liegt; aber das Glück ist wirklich bei ihm zu finden.


...

Denkend schuf ich mich zu Echo und Abgrund. Ich vervielfachte mich, indem ich mich vertiefte. Das kleinste Vorkommnis - eine Veränderung des Lichts, der eingerollte Fall eines trockenen Blattes, das Blumenblatt, das sich welk ablöst, die Stimme auf der anderen Seite der Mauer oder die Schritte dessen, der diese Stimme erhebt, im Verein mit den Schritten desjenigen, der sie vernimmt, das halb geöffnete Portal des alten Gutshofs, der Innenhof, der sich unter dem Bogen der im Mondlicht zusammengescharten Häuser auftut - all diese Dinge, die mir nicht gehören, fesseln mein empfindliches Nachdenken mit Banden des Widerhalls und der Sehnsucht. In jeder einzelnen dieser Wahrnehmungen bin ich ein anderer, erneuere mich schmerzlich in jedem unbestimmten Eindruck.
Ich lebe von Eindrücken, die mir nicht gehören, ein Verschwender von Verzichten, ein anderer in der Art und Weise, wie ich ich bin.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Gebet eines Streuners

Lieber Gott, bitte schicke mir jemanden der sich um mich kümmert!
Ich bin müde vom Laufen, ich bin krank vor Verzweiflung.
Mein Körper tut weh, er ist vor Schmerzen zugrunde gerichtet.
Und lieber Gott, ich bete, während ich durch den Regen laufe,
daß jemand mich lieben und mir ein Zuhause geben wird.
Ein warmes gemütliches Bett, das nur mir gehört.

Mein letzter Halter hat mich vernachlässigt und mich verjagt,
um Müll zu durchstöbern und als Streuner zu leben.
Aber jetzt, Gott, bin ich müde und hungrig und mir ist kalt.
Und ich befürchte, daß ich nicht alt werde.
Sie haben mich mit Stöcken gejagt und mich mit Steinen beworfen,
während ich durch die Straßen laufe und nur nach Knochen suche!

Ich bin nicht wirklich böse, Gott, bitte helf mir, wenn Du kannst.
Weil ich ein “Opfer des Menschen” geworden bin!
Ich bin verwurmt, lieber Gott, ich bin flohgeplagt,
und alles, was ich will, ist ein Halter, dem ich dienen kann!
Wenn Du einen für mich findest, Gott, werde ich versuchen, lieb zu sein.
Ich werde nicht fortlaufen und ich werde tun, was von mir verlangt wird.

Ich glaube nicht, daß ich alleine lange überleben werde,
weil ich so schwach werde und so alleine bin.
Jede Nacht, wenn ich in den Gebüschen schlafe, weine ich,
weil ich solche Angst habe, Gott, daß ich sterben werde!
Und ich habe so viel Liebe und Zuneigung zu geben,
daß mir eine Chance auf ein Überleben gegeben werden sollte.

Also lieber Gott, BITTE, BITTE erhöre mein Gebet
und schicke mir jemanden der sich WIRKLICH um mich kümmert.
 
Gebet eines Streuners

QUOTE]
Hallo,

da zerreißt es mir das Herz, wenn ich sowas lese. Ein ähnliches, wie in diesem Gedicht beschriebenes Hündchen, habe ich einmal vor vielen, vielen Jahren aus Süditalien mitgenommen. Es war mir das liebste, anhänglichste und treueste Tierchen, das man sich denken kann und wurde fast 17 Jahre alt.
:daumen: Ganz super!!
 
mal a bissal was biblisches:

Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun - nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ (Rut 1,16-17)
 
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mal a bissal was biblisches:

Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun - nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ (Rut 1,16-17)

Buch Rut find ich als Ganzes sehr schön.
 
Der alte Weg

Bin zu zweit den Heideweg gegangen

Seitab von dem Lärm der lauten Zeit:

Ließ von Sagen alter Hünengräber mich umfangen

Und vom Zauber stiller Heerwegeinsamkeit.



Sah nur einen Bussard einsam streichen,

Eine Spitzmaus kreuzte stumm die Spur.

Alle Unrast musste von mir weichen

In dem großen Schweigen der Natur.



Fragte dann: Was suchst du neue Wege,

Wo du stets im lauten Trubel bist?

Schlag` dich lieber seitwärts durchs Gehege,

Weil`s am alten Weg am schönsten ist.



Albrecht Johannsen

„ In den Spuren des Heidweges “
 
Liebe stirbt nie einen natürlichen Tod.
Sie stirbt, weil wir das Versiegen ihrer Quelle nicht aufhalten.
Sie stirbt an Blindheit und Missverständnissen.
Sie stirbt an Krankheiten und Wunden, sie stirbt an Müdigkeit.
Sie siecht dahin, sie wird gebrechlich, aber sie stirbt nie einen natürlichen Tod.
Jeder Liebende könnte des Mordes an seiner eigenen Liebe bezichtigt werden.

(Verfasser ist mir leider nicht bekannt)
 
aus Die Unsterblichkeit von Kundera

...Als sie im Gras lag und der eintönige Gesang des Baches durch sie hindurchströmte und ihr Ich, den Schmutz dieses Ich aus ihr hinausschwemmte, hatte sie Anteil an diesem elementaren Sein, das sich in der Stimme der dahinfließenden Zeit und im Blau des Himmels offenbarte; sie wusste jetzt, daß es nichts Schöneres gab.
Die Straße, auf der sie von der Autobahn abgebogen war, war still, und über ihr leuchteten ferne, unendlich ferne Sterne. Agnes sagte sich: Leben, darin liegt kein Glück. Leben: das schmerzende Ich durch die Welt tragen. Aber sein, sein ist das Glück. Sein: sich in einen Brunnen, in ein steinernes Becken verwandeln, in das wie warmer Regen das Universum fällt.
 
Wenn du mich vergißt

Ich möcht, daß du
eines weißt.


Du weißt ja, wie das ist:
Betrachte ich
den kristallenen Mond, den roten Zweig
des säumigen Herbstes an meinem Fenster,
berühre ich
beim Feuer
die ungreifbare Asche
oder die runzligen Körper des Holzes,
bringt mich das alles zu dir,
als wäre alles, was da ist,
Düfte, Licht, Metalle,
nichts andres als ein Schwarm kleiner Schiffe,
hinsegelnd zu deinen Inseln, die mich erwarten.


Nun aber,
wenn du allmählich aufhörst, mich zu lieben,
werde ich aufhören, dich zu lieben, allmählich.


Wenn du auf einmal
mich vergißt,
suche nicht nach mir,
denn ich werde dich schon vergessen haben.


Scheint er dir lang und irre lodernd,
der Fahnenwind,
der mein Leben durchweht,
und entscheidest du dich,
mich auszusetzen am Rand
des Herzens, in dem ich verwurzelt bin,
so bedenke,
daß am selben Tag,
zur selben Stunde,
ich die Arme erhebe
und meine Wurzeln sich aufmachen,
einen anderen Boden zu suchen.


Doch wenn du
jeden Tag,
jede Stunde
empfindest, daß du für mich bestimmt bist,
mit unverrückbarer Süße,
wenn jeden Tag
eine Blüte aufsprießt zu deinen Lippen, um mich zu suchen,
ach, meine Liebe, ach, Meine,
so wiederholt sich in mir all dies Feuer,
und nichts erlischt in mir, nichts wird vergessen,
meine Liebe nährt sich von deiner Liebe, Geliebte,
und solange du lebst, wird sie in deinen Armen sein,
ohne die meinen zu verlassen.



Pablo Neruda
 
WARUM MAMI ?
Ich ging zu einer Party, Mami,
und dachte an deine Worte.
Du hattest mich gebeten,
nicht zu trinken,
und so trank ich keinen Alkohol.
Ich fühlte mich ganz stolz, Mami,
genauso wie du es vorhergesagt hattest.
Ich habe vor dem Fahren nichts getrunken, Mami,
auch wenn die anderen sich mokierten.
Ich weiß, dass es richtig war, Mami,
und dass du immer Recht hast.
Die Party geht langsam zu Ende, Mami,
und alle fahren weg.
Als ich in mein Auto stieg, Mami,
wusste ich, das ich heil nach Hause
kommen würde:
auf Grund deiner Erziehung

so verantwortungsvoll und fein.

Ich fuhr langsam an, Mami,
und bog in die Straße ein.
Aber der andere Fahrer sah mich nicht,
und sein Wagen traf mich mit voller Wucht.
Als ich auf dem Bürgersteig lag, Mami,
hörte ich den Polizisten sagen,
der andere sei betrunken.
Und nun bin ich diejenige,
die dafür büßen muss.
Ich liege hier im Sterben, Mami,
ach bitte, komm doch schnell.
Wie konnte mir das passieren?
Mein Leben zerplatzt wie ein Luftballon.
Ringsherum ist alles voll Blut, Mami,
das meiste ist von mir.
Ich hörte den Arzt sagen, Mami,
dass es keine Hilfe mehr für mich gibt.
Ich wollte dir nur sagen, Mami,
ich schwöre es,
ich habe wirklich nichts getrunken.
Es waren die Anderen, Mami,
die haben einfach nicht nachgedacht.
Er war wahrscheinlich auf der gleichen Party wie ich, Mami. Der
einzige Unterschied ist nur: Er hat getrunken,
und ich werde sterben.
Warum trinken die Menschen, Mami?
Es kann das ganze Leben ruinieren.
Ich habe jetzt starke Schmerzen,
wie Messerstiche so scharf.
Der Mann, der mich angefahren hat, Mami,
läuft herum,
und ich liege hier im Sterben.
Er guckt nur dumm.
Sag meinem Bruder, dass er nicht weinen soll, Mami.
Und Papi soll tapfer sein.
Und wenn ich dann im Himmel bin, Mami,
schreibt Papis Mädchen auf meinen Grabstein.
Jemand hätte es ihm sagen sollen, Mami,
nicht trinken und dann fahren.
Wenn man ihm das gesagt hätte, Mami,
würde ich noch leben.
Mein Atem wird kürzer, Mami,
ich habe große Angst.
Bitte, weine nicht um mich, Mami.
Du warst immer da,
wenn ich dich brauchte.
Ich habe nur noch eine letzte Frage, Mami,
bevor ich von hier fortgehe:
Ich habe nicht vor dem Fahren getrunken,
warum bin ich diejenige,
die sterben muss?
 
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