Mussolinis Marsch auf Rom am 28. Oktober 1922: ein grosser Bluff mit weitreichender Wirkung
Vor hundert Jahren ergriffen die Faschisten die Macht in Italien.
Hitler war begeistert von diesem «Wendepunkt der Geschichte». Doch wie viele Beobachter verstand er Mussolinis Strategie erst später richtig.
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Am 29. Oktober 1922, einen Tag nach dem drohenden Aufmarsch faschistischer Kampfbünde vor den Toren Roms, schrieb Harry Graf Kessler, ein deutscher Diplomat und Kunstmäzen, in sein Tagebuch: «Die Faschisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen.» Der welterfahrene Schriftsteller beschloss seinen Tagebucheintrag mit einer düsteren Ahnung: «Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Wirren und Kriege ein.»
Kesslers Einschätzung wirkt prophetisch. In einem Punkt sollte er sich jedoch täuschen, und viele andere zeitgenössische Beobachter, unter ihnen auch Adolf Hitler, mit ihm. Sie alle verstanden den Marsch auf Rom vor allem als gewaltsame Machteroberung durch eine entschlossene Minderheit. Dabei verkannten sie, dass Mussolini eine riskante «psychologische Kriegsführung» betrieb, wie der britische Historiker Adrian Lyttelton einmal sagte: Der Marsch auf Rom war Element einer Doppelstrategie von Gewalt und Legalität.
Bei einem nüchternen Blick hätten auch die Zeitgenossen erkennen können, dass Mussolinis politische Strategie keineswegs ausschliesslich auf den Einsatz politischer Gewalt gerichtet war. Dafür war er viel zu vorsichtig und auch nicht willens, sich allein auf die radikale Gewaltbereitschaft der Squadren zu stützen. Stattdessen war Mussolini als geschickter politischer Taktiker entschlossen, mit jedem Verhandlungen zu führen, der hoffte, die unbändige Kraft des jungen Faschismus für seine Zwecke einzusetzen. Die Nachrichten von der Gewaltandrohung der Squadren vor Rom liessen sich im Poker um die Macht in Italien wirkungsvoll einsetzen.
Dass die Squadren mehr als nur ein blosses Spektakel waren, hatte die italienische Öffentlichkeit bereits in den Krisenjahren des liberalen Staates zwischen 1920 und 1922 erfahren. Damals hatten die faschistischen Kampfbünde mit ihren terroristischen «Strafexpeditionen» in Norditalien Einrichtungen der politischen Linken zerstört und mit ihren Aktionen physischer und symbolischer Gewalt in zahlreichen Kommunen und Provinzen eine Art Doppelherrschaft errichtet.
Dennoch waren die Verheissungen des Faschismus, der eine Revolution gegen die Revolution zu führen versprach, für nicht wenige Italiener attraktiv. Der Staat befand sich in einer Vertrauenskrise, die tief gespaltene Gesellschaft in einer Umbruchsphase: Der «Duce» stellte sich als rettende Lösung in einer bürgerkriegsähnlichen Situation dar, obwohl er diese selbst mit den Gewaltaktionen seiner Squadren angezettelt oder verstärkt hatte.
Die politische Krise spitzte sich ab dem Sommer 1922 weiter zu: Eine grosse antifaschistische Koalition gegen die Gewaltwelle der Squadren war im Gespräch, aber gleichzeitig auch ein Mitte-rechts-Bündnis, das die unruhigen Faschisten einbinden und zähmen sollte. Beide Lösungen hätten Mussolini in die Enge getrieben. Er setzte daher auf die erwähnte «psychologische Kriegsführung» und entschied, mit «illegalen Mitteln eine legale Machtergreifung der Faschisten zu erzwingen» (Hans Woller).
Die faschistische Führungsriege einigte sich im September auf eine Intensivierung ihrer Versammlungen und Strafexpeditionen gegen die politischen Gegner, um den politischen Druck zu verstärken. Die Parole von einem «Marsch auf Rom», die der Dichter und Fliegerheld Gabriele D’Annunzio schon 1919 ausgegeben hatte, nahm konkrete politische Gestalt an. In den Verhandlungen, die er in Mailand führte, fand Mussolini Ende Oktober 1922 schliesslich die erforderliche Parlamentsmehrheit, mit der sich trotz der Minderheitenposition seiner faschistischen Partei in diesem heterogenen Bündnis eine Koalitionsregierung bilden liess. Dank seinen Drohungen konnte Mussolini darin die Führung übernehmen.
Die politischen Konkurrenten betrachteten das Bündnis mit dem Faschismus zunächst nur als Fortsetzung der traditionellen politischen Taktik des «trasformismo», mit dem Vertreter der politischen Opposition in die Regierungsverantwortung einbezogen wurden, um sie auf diese Weise politisch zu zähmen. Die Vertreter des liberalen Staates übersahen, dass sie es nicht mehr mit einer kleinen oppositionellen parlamentarischen Gruppe zu tun hatten, sondern mit einer anschwellenden dynamischen Massenbewegung, die eine eigene Machtlogik und eine militante ausserparlamentarische Organisation besass, die jederzeit mit dem Einsatz militärischer Machtinstrumente drohen konnte.
Mussolinis gewaltbereite Partei-Armee aus Kriegsveteranen, vor allem ehemaligen Offizieren, Studenten und Angehörigen militanter Mittelschichten, war auf einen Marsch auf Rom nur unzureichend vorbereitet. Auch wenn die Squadren viel Sympathien in Armee und Polizei fanden, hätten sie ohne grosse Mühe von der staatlichen Macht gestoppt werden können. Doch diese Möglichkeit wurde durchkreuzt, als König Vittorio Emanuele III. am Morgen des 28. Oktober auf die Verhängung des Ausnahmezustandes verzichtete und damit den liberalen Staat den Faschisten preisgab.
Mit seiner Doppelstrategie von Legalität und Gewalt konnte Mussolini unter den gespaltenen und von der Furcht vor einer sozialistischen Revolution verunsicherten traditionellen Eliten aus Bürokratie, Armee, Grosswirtschaft und Militär Unterstützung gewinnen. Der Eindruck von Chaos und Autoritätsverlust erlaubte es Mussolini, sich in den Verhandlungen in Mailand zum Retter und Ordnungsstifter zu stilisieren, obwohl seine Kampfbünde am 27. Oktober mit der Besetzung von öffentlichen Einrichtungen begonnen hatten.
Erst nach seiner Ernennung zum Chef einer Koalitionsregierung und nach seiner Rückkehr nach Rom im komfortablen Schlafwagen am 29. Oktober konnte Mussolini, im bürgerlichen Anzug und nicht in Parteiuniform, seinen Squadristen die Genugtuung bieten, nun dank einer regierungsoffiziellen Inszenierung ihren Marsch durch Rom doch noch zu bekommen. Am 31. Oktober, als alles vorbei war, liess er zur Befriedigung der Darstellungs- und Aktionsbedürfnisse der eigenen Anhänger die Squadren für einen Nachmittag durch Rom marschieren. Der Marsch auf Rom war mithin ein grosser Bluff und endete in einer theatralischen Inszenierung, die erst stattfand, als die politischen Würfel in den Mailänder politischen Hinterzimmern längst gefallen waren.
Es hatte sich eine neue politische Strategie und ein neuer, zukunftsträchtiger politischer Stil entwickelt. Bald nach dem 28. Oktober 1922 behaupteten die deutschen Nationalsozialisten, der deutsche Mussolini heisse Adolf Hitler.
Tatsächlich hatte Hitler Mussolini als Vorbild gesehen. «Das Braunhemd wäre vielleicht nicht entstanden ohne das Schwarzhemd», monologisierte er noch während des Krieges im Führerhauptquartier. «Der Marsch auf Rom 1922 war einer der Wendepunkte der Geschichte. Die Tatsache allein, dass man das machen kann, hat uns einen Auftrieb gegeben.»
Jedoch hatte Hitler den Marsch zunächst falsch interpretiert, indem er das Gewaltmoment als einziges Element für den Weg an die Macht verstand. Lautstark kündigte er 1923 einen «Marsch auf Berlin» an. Erst als dieser Putschversuch im November 1923 scheiterte, erkannte Hitler, dass der moderne Staat mit seinen Institutionen und Machtapparaten viel zu stark war. Er sah ein, dass nur im Bündnis mit konservativen Eliten und dem Lippenbekenntnis zu einem Legalitätskurs der NSDAP die politische Macht zu erobern war.
Wie für Mussolini bedeutete der Faschismus für ihn fortan eine Revolution gegen die Revolution und gegen den bürgerlichen Staat, die man mithilfe der Konservativen führen müsse. Dazu müsse der Sinn des Krieges wiederhergestellt und dieser als Bürgerkrieg weitergeführt werden. Was er zudem an dem Handeln Mussolinis bewunderte, war dessen ausgeprägte Praxis politischer Theatralik und Inszenierung. Sie erwies sich als wichtiges Instrument zur Stiftung eines politischen Mythos, ohne die auch der Marsch auf Rom nicht seine durchschlagende politische Wirkung erzielt hätte.
Die Inszenierung, die den Marsch auf Rom prägte, war symptomatisch für Mussolinis Stärke. Es war nicht die politische Ideologie, die seine faschistische Bewegung so wirkmächtig machte; für Mussolini war sie ohnehin weniger wichtig als die politische Praxis. Vor dem Hintergrund einer tiefen politisch-sozialen Krise und eines vehementen Vertrauensverlusts der bestehenden Ordnung war es vielmehr der neue politische Stil, der Entschiedenheit und Tatkraft versprach und der die enttäuschten Bürger und Bauern anzog. Die Verherrlichung der Gewalt und die Ästhetisierung der Politik durch Symbole und Riten verhiessen einfache Antworten auf eine Welt in Unordnung und Umbruch.
Vieles davon hatte Gabriele D’Annunzio schon bei Kriegsende 1919 erfunden und hatte mit seiner gewaltsamen Besetzung der kroatischen Hafenstadt Rijeka, in der er kurzzeitig die Republik Fiume errichtete, seinen Willen zur Tat und zur Unbedingtheit demonstriert: durch nächtliche Aufmärsche uniformierter Legionäre, die nicht Fahnen, sondern Dolche in den Himmel streckten; durch die massenhafte, von Fackeln und Feuer begleitete Beschwörung einer von neuem Leben erfüllten sozialen Ordnung; durch die Bereitschaft zum Kampf und zum Heldentod. Mussolini beanspruchte mit seiner faschistischen Bewegung das Erbe des gescheiterten Dichter-Kommandanten für sich. Es begann eine Epoche der politischen Gewalt und der massenhaften Emotionalisierung.
aus "Neue Züricher Zeitung"
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