Da die Interpretation des oben genannten Buchs sehr facettenreich ist, will ich euch diese auch nicht vorenthalten:
Handlung
Musil beschreibt Vorgänge an einem Provinz
internat der
österreichisch-ungarischen k. und k. Monarchie. Törleß und seine zwei Mitschüler Reiting und Beineberg ertappen den jüngeren Mitschüler Basini beim Stehlen, halten dies aber geheim, um ihn bestrafen und quälen zu können. Während Beineberg und Reiting Basini hauptsächlich physisch und sexuell misshandeln und foltern, versucht Törleß auf psychischer Ebene von Basini zu lernen. Obwohl auch er Basini zu einem erotischen Lust- und Versuchsobjekt degradiert und, zumindest verbal, wie einen Sklaven behandelt, widert ihn der plumpere erpresserische
Sadismus seiner Mitstreiter Reiting und Beineberg zunehmend an. Trotzdem übt die Demütigung Basinis einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er ist jedoch (noch) nicht fähig, diesen als Faszination der Macht zu entlarven, in Worte zu fassen und hinter das Geheimnis der „Seele“ des Menschen zu kommen, als deren Schlüssel ihm Basinis Verhalten erscheint.
Eine Vorausblende in der Mitte des Romans erwähnt den erwachsenen Törleß, der sich seines früheren Verhaltens im Internat keineswegs schämt. Und gegen Ende des Romans konstatiert der Erzähler: „Eine Entwicklung war abgeschlossen. Die Seele hatte einen neuen Jahresring angesetzt wie ein junger Baum – dieses noch wortlose, überwältigende Gefühl entschuldigte alles, was geschehen war.“
Deutung
„Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“
– Maeterlinck
Das Zitat aus
Maeterlincks Der Schatz der Armen (Le Trésor des humbles, 1896), das Musil dem Roman voranstellt, markiert das Erkenntnisinteresse des Dichters, der das Werk nur vordergründig als Schul- oder Pubertätsroman verstanden wissen wollte. Musil gab im Juli 1907 in einem Brief an Matthias di Gaspero folgende Hinweise:
„Das Buch ist nicht
naturalistisch. Es gibt keine Pubertätspsychologie, wie viele andere, es ist
symbolisch, es illustriert eine Idee. Um nicht mißverstanden zu werden, habe ich ein Wort von Maeterlinck, das ihr am nächsten kommt, vorausgesetzt.“
Und in einem verworfenen Vorwort schrieb Musil: „Wer die Wahrheit dieser Worte an sich erlebt hat, wird dieses Buch verstehen.“
[2]
Die Interpretationen des Romans gehen von unterschiedlichen Lesarten aus, zum Beispiel davon,
- dass Musil in der Gestalt der Hauptfigur die Entwicklungskrise eines künstlerisch sensiblen Menschen darstellt, die zumindest teilweise auch sein eigenes Problem zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans war;
- dass die Erzählung „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ dort aufhört, wo Musils Haupt- und Lebenswerk, sein fragmentarisch gebliebener Roman Der Mann ohne Eigenschaften einsetzt, dass also der junge Törleß später zu Ulrich wird;
- dass Musil sich in den Verwirrungen des Zöglings Törleß in künstlerischer Form noch einmal mit denjenigen Fragen befasst, die ihn auch schon in seiner Dissertation über die Erkenntnistheorie Ernst Machs beschäftigten;
- dass Musil neben der „Interpretation jugendlichen Wachstums […] zugleich das Bild kommender Diktatur und der Vergewaltigung des einzelnen durch das System visionär vorzeichnet“. (Klappentext der Rowohlt-Taschenbuchausgabe)
Törleß
Die Symbolik der Bahnhofsszene, die auf den ersten Seiten beschrieben wird, kann auf Törleß’ Seele bezogen werden: So wie die Atmosphäre am Bahnhof verlassen und trostlos wirkt, so fühlt sich auch Törleß im Internat, einsam und leer. Seine Verwirrungen liegen in der Hin- und Hergerissenheit zwischen der gutbürgerlichen Moral seiner Herkunft einerseits und den Ansichten seiner charakterlich schon wesentlich gefestigteren (aber auch wesentlich oberflächlicheren) Freunde Beineberg und Reiting andererseits. Er nimmt die Position eines Beobachters ein, der nur selten aktiv ins Geschehen eingreift. Seine Gedanken werden oft direkt (zum Teil auch in den regelmäßigen Briefen an seine Eltern) wiedergegeben. Törleß’ Grundeinstellung ist zu Anfang des Romans von einem realistischen Denken geprägt, das jedoch im Laufe der Monate immer mystischere Formen annimmt. Da der Leser an seinen Denkprozessen beteiligt wird und die Welt vor allem aus Törleß’ Perspektive wahrnimmt, erlebt er die Titelfigur trotz all ihrer Schwächen als einen sich vom Jugendlichen zum Erwachsenen entwickelnden Charakter, dem man seine Sympathie nie ganz versagen kann.
Törleß verändert sich im Laufe seiner Pubertät immer mehr zu einem „jungen Mann von sehr feinem und empfindsamen Geiste“, zu einer „ästhetisch-intellektuellen [Natur]“ (S. 158). Bereits früh kennzeichnet ihn die unablässige Suche nach einer tieferen, hinter der Fassade des Normalen und Augenscheinlichen angesiedelten Wirklichkeit, die er durch genaue (Selbst-)Beobachtung („Talent des Staunens“, S. 34) zu erfassen versucht. Er vermag allerdings den Sinn seines Strebens noch nicht in Worte zu fassen und als Identitätsfindung zu erkennen (S. 160 „[Die Erinnerung an meine Jugend] verging. Aber etwas von ihr blieb für immer zurück.“; Seite 162 „Er wußte nur, daß er etwas noch Undeutlichem auf einem Wege gefolgt war, der tief in sein Inneres führte […] und war dabei in die engen, winkligen Gemächer der Sinnlichkeit gelangt.“). Derartige Empfindungen und Gedanken verleihen ihm einen kritischen Blick auf seine Umwelt und distanzieren ihn von seinen Mitmenschen. Immer wieder stellt er fest, dass er anders ist als die übrigen Zöglinge.
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Romane um 1900. Er ist zeitlos in der Schilderung des Lebensgefühls Pubertät: das Warten und Suchen, die Leere und Langeweile, das Gefühl, vor einem Tor zu stehen, das sich noch nicht aufgetan hat. Aus heutiger Perspektive ist das Buch geradezu hellsichtig, was diktatorische Systeme betrifft: Es scheint die perverse Vernichtungslogik des Nationalsozialismus an zwei jugendlichen Klassentyrannen sowie ihrem Opfer und ihrem Mitläufer durchzudeklinieren. Während heute das Thema Homosexualität unter Internatsschülern kaum noch schockiert, so ist man doch sehr irritiert darüber, wie das Gewaltopfer vom Erzähler als „moralisch minderwertig“ taxiert wird. Der Mitläufer Törleß empfindet kein Mitleid mit dem Gefolterten, er hilft ihm lange nicht und am Ende nur, um dem Ganzen selbst zu entkommen – und er empfindet bis zum Schluss ausdrücklich keine Reue. Während die Erzählweise, wenn sie nah an Törleß ist, durch ihre Modernität überzeugt, nervt sie an den vielen Stellen, wo der Erzähler es besser weiß und das Erleben der Hauptfigur nicht nur kommentiert, sondern sogar korrigiert.
Take-aways
- Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ist ein Pubertäts- und Internatsroman.
- Inhalt: Der antriebslose Internatsschüler Törleß schließt sich zwei halbstarken Mitschülern an. Diese entlarven ihren Kameraden Basini als Dieb, worauf es zu Demütigungen, Vergewaltigungen und Misshandlungen kommt. Törleß ist nur halb dabei und beginnt eine eigene Affäre mit Basini. Schließlich bewegt er ihn dazu, sich zu stellen. Basini und Törleß müssen die Schule verlassen, die anderen kommen ungeschoren davon.
- Das Buch wurde 1906 veröffentlicht und löste wegen der Schilderung homosexueller Gewaltexzesse heftige Debatten aus.
- Musil ging es aber vor allem um die Erkenntniskrise der Hauptfigur: Törleß sieht einen Riss in der Wirklichkeit, hinter dem sich alles Dunkle, Unbewusste, Triebhafte auftut.
- Vieles im Roman verweist auf die Erkenntnisse von Sigmund Freud.
- Der Roman ist eine Machtstudie: Die beiden immer grausamer werdenden Klassenanführer führen sich wie Diktatoren auf.
- Volker Schlöndorff verfilmte das Buch 1966 als Parabel auf den Nationalsozialismus.
- Der Roman war Robert Musils größter Erfolg und ist bis heute sein meistgelesenes Buch.
- Charakteristisch ist der dominante Erzähler, der die Empfindungen der Hauptfigur kommentiert und mitunter sogar korrigiert.
- Zitat: „Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist.“
Zusammenfassung
Abschied von den Eltern
Begleitet von einer Gruppe von Mitschülern nimmt der 16-jährige
Törleß am Bahnhof Abschied von seinen Eltern, die ihn in den letzten zwei Tagen in der Einöde seines Militärinternats besucht haben. Vier Jahre zuvor wollte er unbedingt in dieses berühmte Internat aufgenommen werden. Die Eltern gaben seinem Drängen schließlich nach, obwohl ihnen die Trennung sehr schwerfiel. Törleß selbst litt dann lange an schlimmem Heimweh, weinte viel, schrieb seinen Eltern sehnsüchtige Briefe. Als das Heimweh nachließ, fühlte er sich leer. Er schloss Freundschaft mit dem jungen
Fürst H., aber dann machte Törleß sich über die Religiosität seines Freundes lustig und provozierte dadurch den Bruch. Die Kameraden, mit denen sich Törleß jetzt umgibt, bedeuten ihm nicht viel.
Reiting und
Beineberg, zwei Jahre älter als Törleß, verkörpern vor allem eine kernige, rohe Männlichkeit.
Bei der Dorfhure
Törleß und Beineberg kehren in der Konditorei des Ortes ein. Beineberg spricht wie so oft über Indien, wo sein Vater als Offizier gelebt hat, und über den Buddhismus, für den Beineberg eine starke Faszination hegt. Törleß interessieren diese Monologe nicht. Er schaltet innerlich ab, betrachtet Beineberg und merkt, dass ihm dessen Spinnenhaftigkeit im Grunde zuwider ist. Die beiden überqueren den Fluss und suchen die Dorfhure
Božena auf. Törleß reizt ihre Derbheit, ihr niedriger Stand, der Gegensatz zum gesitteten Großbürgertum, dem er angehört. Zugleich aber erscheint ihm ein Besuch bei ihr als Verrat an seinen Eltern. Božena spielt genau damit, sie provoziert die Jungen, indem sie auf ihre Mütter und die „feine Welt“ anspielt, in der sie einst als Dienstmädchen tätig war. Die auch nur gedankliche Verbindung zwischen Božena und seiner Mutter erscheint Törleß so ungehörig, dass er diese Idee nicht mehr loswird – noch nie hat er sich seine Mutter als geschlechtliches Wesen gedacht. Doch er erinnert sich daran, einst ein eigentümliches Lachen seiner Mutter belauscht zu haben, als sie abends am Arm seines Vaters spazieren ging. Es verwirrt ihn, dass auch seine Eltern etwas mit dem dunklen Bereich der Sexualität zu tun haben.
Der Dieb
Reiting und Beineberg sind die Anführer der Klasse, beide sind Machtmenschen und Intriganten. Reiting ist jedoch etwas liebenswürdiger, weshalb er einen Machtkampf gegen Beineberg knapp gewinnen konnte. Seitdem treten sie zusammen auf. Der jüngere Törleß genießt ihren Schutz, er ist der geheime „Generalstabschef“, denn er ist der Intelligenteste der drei und der beste Menschenkenner. Er sieht die Intrigen als Spiel. Manchmal befremdet es ihn, wie ernst die beiden anderen ihre Handlungen nehmen.
„Törleß seufzte (...), und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.“ (S. 21)
Eines Abends flüstert Reiting Törleß zu, er wisse nun, wer der Dieb sei:
Basini. Aus den Schubfächern der Internatszöglinge wurde wiederholt Geld gestohlen. In ihrer geheimen Kammer unter dem Dach erzählt Reiting Törleß und Beineberg, dass Basini Schulden bei ihm und anderen Mitschülern hatte, und als dann Beineberg genau der Betrag gestohlen wurde, der Basinis Schulden bei Reiting entsprach, habe er Basini auf den Kopf zu einen Dieb genannt. Basini leugnete es zuerst, gab es dann aber weinend zu und sagte, er habe aus Not geklaut. Er bettelte bei Reiting um Gnade und bot sich ihm als Sklave an. Nun ist die Frage, wie sie mit Basini verfahren sollen. Törleß findet die Angelegenheit banal und fühlt doch, dass sie eine tiefere Bedeutung für ihn bekommen wird. Dass Basini nun mit dieser „Schande“ bedeckt ist, scheint ihm wie ein Einbruch jenes Dunklen, das ihn schon länger umtreibt. Törleß hat Angst davor, sich diesem Dunkel hinzugeben, und spricht sich dafür aus, Basini anzuzeigen, damit er der Schule verwiesen werde. Die beiden anderen sind dagegen: Sie finden es interessant, Basini in der Hand zu haben. Basini ist bis dahin ein unscheinbarer Mitschüler gewesen. Er ist unsportlich, nicht sehr intelligent und hat weibische Gesichtszüge. Er ist eitel, lügt und brüstet sich mit erotischen Abenteuern, die er nicht hat. Seinen Impulsen – etwa der Verlockung, zu stehlen – hat er nichts entgegenzusetzen.
Beginnende Grausamkeiten
Eines Nachts weckt Beineberg Törleß auf. Sie gehen in die Dachkammer, wo Beineberg behauptet, dass Reiting sich heimlich mit Basini getroffen und diesen vergewaltigt habe. Allerdings findet es Beineberg nicht schade um Basini, mit ihm könne man alles machen, so bedeutungslos sei er im Weltgefüge. Für Reiting dagegen sei es durchaus gefährlich, dass Beineberg von diesem Geheimnis wisse. Auf Törleß’ Einwand, das dürfe er aber nicht gegen ihn verwenden, winkt Beineberg ab und kommt wieder auf Basini zu sprechen: Ihn will er quälen, und zwar, um für später zu üben – zu üben, wie es ist, einen Menschen ganz in der Hand zu haben. Darum gehe es sicher auch Reiting. Für ihn, Beineberg, sei es durchaus nicht leicht, grausam zu sein, deshalb sei die Grausamkeit für ihn sogar ein Opfer. Törleß fühlt, wie sich eine Schlinge um ihn zuzieht. Sie bestellen Basini für den Abend in die Dachkammer, denn er hat Reiting wieder um Geld gebeten, um Schulden zu begleichen. Nachdem sie Basinis Vergehen aufgezählt haben, schlagen, peitschen und vergewaltigen sie ihn. Törleß macht nicht mit, sitzt aber in Hörweite und ist sexuell erregt. Danach demütigen sie Basini weiter: Erst muss er sagen, er sei ein Dieb, dann, er sei ein diebisches, schweinisches Tier. Törleß beginnt sich zu schämen.
Die Rätsel der Mathematik
Törleß wendet sich bewusst den schulischen Inhalten zu, und er entdeckt gewisse unklare, „schwindelige“ Stellen in der Mathematik, die ihm mit seiner geistigen Situation und damit auch mit dem Phänomen Basini zusammenzuhängen scheinen. Die imaginären Zahlen verwirren ihn. Wie kann etwa aus einer negativen Zahl die Quadratwurzel genommen werden, da das Ergebnis doch immer positiv ist? Was ist mit einer Division, die nie ans Ende kommt? Wie hat man es sich vorzustellen, dass zwei parallele Linien sich im Unendlichen schneiden? Er versucht, diese Dinge mit Beineberg zu diskutieren, aber der sieht kein Problem. Deshalb bittet Törleß seinen
Mathematiklehrer um ein Gespräch. Dieser lobt Törleß’ Entdeckungen, aber er hilft ihm nicht weiter: Wie diese unscharfen Stellen in der Mathematik zu erklären seien, könne er erst begreifen, wenn er zehnmal mehr von Mathematik verstehe als jetzt. Er verweist auf ein Buch von Kant, das auf seinem Nachttisch liegt: Hier sei es ähnlich, darin könne man die Urgründe allen Handelns finden, freilich sei auch das jetzt noch zu schwer für Törleß. Törleß kauft sich den Kant-Band, aber er bleibt nach wenigen Seiten in den vielen Klammern und Fußnoten stecken. Schließlich träumt er sogar von Kant: Zuerst schüchtert ihn der Philosoph ein, doch dann erwacht Törleß mit der Gewissheit, durch seine Feinfühligkeit und Sinnlichkeit gegen die Logik solch übergescheiter Menschen gewappnet zu sein. Gleichzeitig leidet er darunter, auf seiner seelisch-geistigen Suche noch vor einem verschlossenen Tor zu stehen. Er fühlt viel Unaussprechliches, Halb- oder Unbewusstes in sich, das größer ist als er. Basini steht für diese Verwirrungen, gleichzeitig verbindet Törleß mit ihm nun etwas vage Sexuelles.
Die Verführung
Während vier schulfreier Tage bleiben Törleß und Basini als Einzige ihrer Klasse im Institut zurück. Tagsüber sitzen sie beide stumm in der Bibliothek. Nachts spürt Törleß jetzt ein deutliches Verlangen nach Basini. Er ist abgestoßen von seiner Empfindung, schafft es aber nicht, sie zu ignorieren. Schließlich weckt er Basini in dessen Bett. Basini steht auf, nimmt wortlos den Schlüssel zur geheimen Dachkammer und geht voran – er tut dies offensichtlich nicht zum ersten Mal. In der Dachkammer zieht er sich sofort aus. Törleß ist gebannt von der Schönheit seines nackten, fast noch kindlichen Körpers. Er fragt Basini, was die anderen mit ihm in dieser Situation machen, und erfährt, dass Reiting sich von dem nackten Basini aus Geschichtsbüchern vorlesen lässt, bevor er sich an ihm befriedigt. Anschließend schlägt er ihn, um nicht als zu zärtlich und unmännlich dazustehen. Beineberg dagegen sei hässlich zu ihm, er halte ihm erst Vorträge über Basinis beschmutzte Seele, mache Hypnoseexperimente mit ihm, steche ihn auch mit einer Nadel und verlange dann weit wüstere sexuelle Dienste als Reiting. Törleß will von Basini wissen, wie er sich bei alledem fühlt. Er hofft, dadurch etwas Licht in das beängstigende Dunkel zu bringen. Aber Basini sagt bloß, er habe keine Wahl und hoffe nur, irgendwann seine Ruhe zu haben. An den sexuellen Handlungen stört ihn einzig, dass sie unter Zwang geschehen. Als beide wieder im Schlafsaal sind, kommt Basini an Törleß’ Bett. Törleß stößt ihn erst von sich, aber Basini bettelt: Törleß sei viel sanfter als die andern, er liebe ihn. Törleß gibt nach.
Liebe?
Von nun an hat Törleß häufig heimliche Treffen mit Basini. Mehr als für die sexuellen Handlungen schämt er sich für seine Gefühle: Er spürt Basini gegenüber eine gewisse Zärtlichkeit, die er in der ersten Überraschung für Liebe hält. Dabei verkörpert Basini lediglich all das Dunkle, Leidenschaftliche und Unbewusste, das Törleß in sich erahnt. Bald schon kippt sein Gefühl, Ernüchterung macht sich breit. Die sexuellen Begegnungen werden zwar fortgeführt, aber Törleß ist ohne jedes Gefühl dabei; die Wollust kommt jetzt jeweils plötzlich über ihn, wie eine Raserei, und er hat das Gefühl, er sei gar nicht er selbst. Beineberg und Reiting verkünden Törleß in der Dachkammer, dass es so mit Basini nicht mehr weitergehen könne: Er habe sich mit seiner Rolle abgefunden und leide nicht mehr genug. Man müsse nun einen Schritt weitergehen. Dazu malt Reiting verschiedene Grausamkeiten aus. Beineberg geht es mehr um metaphysische Experimente, er möchte Basini nach mittelalterlichen Methoden hypnotisieren.
Sadistische Exzesse
Die drei bestellen Basini in die Dachkammer. Beineberg befiehlt ihm, sich auszuziehen, und bedroht ihn mit einem Revolver. Basini soll in eine Gasflamme starren und sich immer weiter vorneigen – doch dann fällt er um. Reiting lacht, Beineberg aber wird wütend und beginnt, Basini mit seinem Gürtel zu peitschen. Angewidert verlässt Törleß die Szene. Von da an geht er allen drei Mitschülern aus dem Weg.
„Ein ewiges Warten auf etwas, von dem man nichts anderes weiß, als dass man darauf wartet ... Das ist so langweilig ...“ (Törleß, S. 32)
Vier Tage später bittet Basini Törleß, ihm zu helfen; sonst werde er totgeschlagen. Törleß reagiert kalt: Basini habe sich alles selbst zuzuschreiben. Nur widerwillig verabredet Törleß mit ihm eine Aussprache in der Dachkammer. Dort teilt er Basini mit, dass er für ihn nicht mehr das Geringste empfinde. Basini entkleidet sich und drängt sich Törleß flehentlich auf. Sein Körper ist von Striemen übersät, und Törleß wendet sich angeekelt ab. In diesem Moment kommt Reiting in die Dachkammer. Er will Basini gleich für diese Heimlichkeit bestrafen, und Törleß soll dabei zusehen. Aber Törleß will nichts mehr mit dem Ganzen zu tun haben und sagt, er sehe jetzt, dass Reiting und Beineberg abgeschmackte Rohlinge seien. Es kommt zum Streit mit Reiting, doch Törleß lässt sich nicht einschüchtern. Auch nicht am nächsten Tag: Beide drohen ihm, nicht nur Basini der Klasse auszuliefern, sondern auch Törleß als Mitschuldigen hinzustellen. Törleß verspürt vor allem den Wunsch, aus diesem Intrigenspiel herauszukommen. Er sehnt sich nach Ruhe und nach Büchern und nach der Sicherheit seiner Eltern. Ihm fällt ein Brief von ihnen ein, in dem sie ihm geraten haben, Basini dazu zu bewegen, sich selbst zu stellen. Das erscheint Törleß nun wirklich als Lösung. Er legt dem schlafenden Basini einen Zettel in die Hand, auf dem steht, er solle sich beim Direktor anzeigen und bloß „B. und R.“ erwähnen, nicht ihn, Törleß. Dies sei seine einzige Chance, denn am folgenden Tag solle er der Klasse ausgeliefert werden.
Ende einer Entwicklung
Am nächsten Tag beginnen die Grausamkeiten der ganzen Klasse: Basini wird gedemütigt und nackt hin- und hergeworfen. In der nächsten Nacht soll er mit Florettklingen durchgepeitscht werden, doch dazu kommt es nicht mehr: Basini zeigt sich selbst an, der Direktor erscheint zornig in der Klasse und kündigt eine strenge Untersuchung an. Es ist klar, dass jemand Basini gewarnt haben muss, aber niemand verdächtigt Törleß. Als die Zöglinge einzeln zum Verhör gerufen werden, ist Törleß verschwunden. Reiting und Beineberg glauben, dass er wegen ihrer Drohung geflohen ist, und lenken jeden Verdacht von ihm ab. Reiting inszeniert ein Schauspiel, in dem jeder in der Klasse behauptet, zu den Misshandlungen sei es nur gekommen, weil Basini allen wohlmeinenden Belehrungen mit Hohn begegnet sei. Basini selbst schweigt, von Reiting und Beineberg bedroht. Törleß wird in der nächsten Stadt aufgegriffen, dann wird auch er verhört. Er hält eine lange Rede und versucht, der Lehrerkommission zu erklären, welche quälenden Gedanken ihn umtrieben und welche Rolle der gefallene Basini dabei spielte. Die Lehrer sind ratlos und überfordert, und der Direktor beschließt, dass das Internat nicht mehr der richtige Ort für den „überreizten“ Törleß sei: Er gehöre in die Privaterziehung, dann könne auch seine „geistige Nahrung“ besser überwacht werden. Gleichzeitig mit dem Brief des Direktors trifft auch ein Brief von Törleß bei seinen Eltern ein, ebenfalls mit dem Wunsch, das Internat zu verlassen.
Zum Text
Aufbau und Stil
In
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß verbinden sich – typisch für Musil – poetisches und begriffliches Erzählen, sinnliche und abstrakte Darstellungsweisen. Poetisch ist der Roman, wenn er ganz Törleß’ Perspektive folgt, oft mittels erlebter Rede. Viele Vergleiche und Sprachbilder machen dann das oft nur halb bewusst Gefühlte, Geträumte oder Erinnerte plastisch. Auf der anderen Seite gibt es einen sehr dominanten Erzähler, der nicht nur den Stoff organisiert, etwa indem er Rückblenden und Vorausdeutungen einflicht, sondern der das Geschehen auch kommentiert, relativiert und dem jugendlichen Törleß beispringt, wo diesem die Worte fehlen. Mit der Formulierung „in Wirklichkeit aber“ korrigiert er die eben wiedergegebene Wahrnehmung seiner Hauptfigur und setzt ihr seine eigene, auf psychologischem Wissen beruhende Deutung entgegen. Zum Beispiel entschärft er Törleß’ homosexuelles Begehren und seine Beziehung zu Basini als eine vorübergehende, irregeleitete Triebdynamik, als wolle er die Empörung der zeitgenössischen Leser schon vorsorglich auffangen. Diese Erzählerkommentare enthalten oft allgemeine Sentenzen und können sich zu Abschweifungen auswachsen, die manchmal fast den Umfang eines Essays annehmen.
Interpretationsansätze
- Der Törleß ist die Geschichte einer Ichfindung. Der pubertierende Törleß sucht seine Identität und versucht, den Riss zu begreifen, der sich durch ihn selbst und durch die äußere Wirklichkeit zieht. Seine Welt, innerlich und äußerlich, verändert sich auf verwirrende und ihn überwältigende Weise.
- Ein zentrales Motiv ist das Tor: Törleß hat immer wieder das Gefühl, vor einem verschlossenen Tor zu stehen. So ist auch sein Name ein englisch-deutsches Mischwort; es könnte mit „torlos“ übersetzt werden.
- Die Nachtseite der rationalen Wirklichkeit ist im Roman in symbolischen Räumen verortet: So lebt Božena in einer Gegenwelt jenseits des Flusses, und die Geschehnisse um Basini spielen sich in der geheimen, engen Dachkammer ab.
- Vieles verweist bewusst oder unbewusst auf Sigmund Freud, dessen erste psychoanalytische Werke ebenfalls um 1900 erschienen: die Bedeutung des Unbewussten, das Gewicht der Sexualität, das Begehren der Mutter.
- Der Roman ist eine Machtstudie, die in einigen Zügen den Nationalsozialismus vorwegzunehmen scheint: So sind Beineberg und Reiting die Klassendiktatoren, wobei Reiting den Demagogen und Rädelsführer verkörpert, Beineberg den Fanatiker und Ideologen. Törleß ist in dieser Sichtweise der Mitläufer.
- Basini, das Opfer der Gewaltexzesse, ist als einzige Figur wohl tatsächlich homosexuell und womöglich auch masochistisch veranlagt. Irritierend aus heutiger Sicht ist dabei, dass der Erzähler ihm „moralische Minderwertigkeit“ attestiert. Er benutzt damit jene Vokabel, die später die Nationalsozialisten den Juden angeheftet haben, um ihnen die Menschenwürde abzusprechen.
- Zum Objekt degradiert wird Basini auch dadurch, dass er für alle ein Experiment darstellt: Reiting und Beineberg üben sich an ihm in Sadismus, und auch für Törleß ist er mehr Symbol als Mensch: für das Dunkle in sich selbst.
Historischer Hintergrund
Die k. u. k. Monarchie um 1900
Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 regierte bis 1916
Franz Joseph I. die Donaumonarchie, zunächst als Kaiser von Österreich, ab 1867 als Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Er war kein reformfreudiger Herrscher und manövrierte seinen großen Vielvölkerstaat mit hoher Militärpräsenz, einer ausufernden Bürokratie und polizeistaatlichen Methoden durch den sich zuspitzenden Nationalitätenstreit und durch soziale Unruhen bis in den Ersten Weltkrieg.
Die beiden politisch-ökonomischen Führungsschichten Adel und Großbürgertum bestimmten die sozialen Verhältnisse um die Jahrhundertwende, aber auch das Kleinbürgertum und das Proletariat gewannen allmählich politischen Einfluss. Dabei fehlte es gerade dem Kleinbürgertum noch weitgehend an Profil und Selbstbewusstsein.
Die gesellschaftlichen und nationalen Spannungen führten zu einer Wertekrise, die durch die Entwicklung der Wissenschaften noch verschärft wurde.
Albert Einstein lehrte in Prag, Wien wurde ein Zentrum für Philosophen wie
Ludwig Wittgenstein und
Ernst Mach.
Sigmund Freund war Professor an der Universität Wien, seine Arbeiten um die Entdeckung des Unbewussten sorgten für großes Aufsehen und führten zu einer Veränderung bisheriger Ausdrucksweisen in der Kunst.
Entstehung
Für die Figuren und die Handlung des
Törleß schöpfte Musil aus seinen eigenen Internatserfahrungen in Eisenstadt und Weißkirchen. Für Reiting und Beineberg gab es unter seinen Mitschülern reale Vorbilder mit den nur geringfügig veränderten Namen Reising und Boyneborg. Zur Figur Basini verschmolzen zwei Mitschüler: einer, der gestohlen hatte, und einer, der feminine Züge trug.
Musil war es jedoch wichtig zu betonen, dass er keinen autobiografischen Schlüsselroman geschrieben hatte. Die geschilderten Ereignisse seien nicht genau die erlebten, außerdem gehe es nicht in erster Linie um die Geschehnisse im Internat, und es spiele auch keine große Rolle, dass es sich um homoerotische Sexualität handle – Basini hätte genauso gut eine Frau sein können. Er betonte immer, dass es vor allem um die Erkenntnisfragen im Roman gehe.
Im Herbst 1902 begann Musil mit der Arbeit am
Törleß. Aus Langeweile am Nachmittag und fast nebenbei habe er zu schreiben begonnen, sagte er später. Ein Drittel schrieb er in Stuttgart in knapp einem Jahr, die anderen zwei Drittel entstanden in Berlin. Anfang 1905 war der Roman fertig. Musil bot ihn Verlagen an und erhielt drei Absagen. Daraufhin schickte er sein Manuskript dem bekannten Literaturkritiker
Alfred Kerr zur Beurteilung. Dieser war begeistert, er wurde Musils Freund und Förderer. Gemeinsam gingen sie den Text Satz für Satz noch einmal durch. Im Herbst 1906 erschien der Roman im Wiener Verlag, der auch
Oscar Wilde und
Arthur Schnitzlers Skandalstück
Der Reigen veröffentlicht hatte. Im Dezember erschien Kerrs Rezension, in der der Satz stand: „Robert Musil hat ein Buch geschrieben, das bleiben wird.“
Wirkungsgeschichte
Viele Kritiker und Leser waren ebenso enthusiastisch wie Kerr, bei anderen aber stieß der Roman auf schroffe Ablehnung. Teils bewunderte man die Offenheit, mit der Musil „sadomasochistische Exzesse“ an einer kaiserlich-königlichen Unterrichtsanstalt darstellte. Andere Kritiker waren genau darüber entsetzt, sodass eine lebhafte literarische Debatte über das Buch aufkam. Ein zeitgenössischer Kritiker bezeichnete Musil zwar als einen „Schriftsteller von außerordentlichen Qualitäten“, meinte jedoch, kein Leser müsse es sich gefallen lassen, dass „ein poetischer Bericht durch kapitellange abstrakte Psychoanalysen unterbrochen“ werde.
Der
Törleß wurde Musils erster und sein zeitlebens größter Erfolg. Bereits in den 1920er-Jahren betrachtete man das Buch als Klassiker. Im Nationalsozialismus wurde es als „entartete Kunst“ gebrandmarkt und verboten – erst 1957 erschien der Roman wieder als Teil von Musils
Gesammelten Werken. Bis heute ist der
Törleß Musils meistgelesenes Werk; er wird den Anfängen expressionistischer Prosa zugeordnet.
1966 verfilmte
Volker Schlöndorff den Roman unter dem Titel
Der junge Törleß. Schlöndorff gestaltete den
Törleß-Stoff als Parabel auf die Nazizeit. Reiting und Beineberg repräsentieren für ihn die Diktatur, Basini steht stellvertretend für deren Opfer und Törleß für das deutsche Volk.
Über den Autor
Robert Musil wird am 6. November 1880 in Klagenfurt geboren. Als Zwölfjähriger kommt er ins Internat, zuerst auf die Militär-Unterrealschule in Eisenstadt, dann auf die Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen (heute Tschechien). Die anschließende, von den Eltern gewünschte Offiziersausbildung bricht er ab und studiert Maschinenbau, nebenbei betätigt er sich auch schriftstellerisch. 1901 schließt er das Studium als Ingenieur ab und wird später wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Hochschule Stuttgart. Während dieser Zeit beginnt er an seinem Roman
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß zu arbeiten, veröf¬fentlicht diesen aber erst 1906. Der Roman wird ein großer Erfolg. Musil studiert erneut, diesmal in Berlin Philosophie, Mathematik und Psychologie; dieses Studium schließ er 1908 mit einer Dissertation über Ernst Mach ab. Musil beschließt, auf eine Universitätslaufbahn zu verzichten und stattdessen als freier Schriftsteller zu arbeiten. 1911 heiratet er die Witwe Martha Marcovaldi, die einige Jahre älter ist als er und bereits zwei Kinder hat. Im Ersten Weltkrieg dient Musil als Hauptmann. 1917 wird sein Vater geadelt und Musils offizieller Name lautet nun Robert Edler von Musil. Er verfasst Erzählungen und Essays; Berühmtheit erlangt er aber erst 1930 wieder, als er das erste Buch von
Der Mann ohne Eigenschaften veröffentlicht, auf das 1933 das zweite Buch folgt. Von 1931 bis 1933 lebt er in Berlin, dann kehrt er wieder nach Wien zurück. Im Sommer 1938 zieht er mit seiner jüdischen Frau in die Schweiz. Obwohl ihm der Rowohlt Verlag längst keine Vorschüsse mehr zahlt, arbeitet Robert Musil, mittlerweile völlig verarmt und auf Almosen angewiesen, weiterhin täglich an der Fortsetzung seines großen Romans. Am 15. April 1942 stirbt er im Genfer Exil.