Ein Versuch von schwarzer Seite also, einen roten Säulenheiligen mit in den Dreck zu ziehen? Es wäre falsch, die Vorwürfe gegen Renner, der bekanntlich den "Anschluss" an Nazi-Deutschland begrüßt hatte, vorschnell als Rufmord abzutun. Natürlich geht es der ÖVP, in deren Vorgeschichte antisemitische Schandflecken unübersehbar sind, auch um eine Retourkutsche. Dennoch verlangt sie zu Recht, dass für Renner die gleichen Maßstäbe gelten sollen wie für Lueger. Wenn es die Wiener Regierung für geboten hält, den städtischen Schilderwald nach moralisch belasteten Persönlichkeiten zu durchkämmen, dann darf sie sich über die eigenen Helden nicht hinwegschwindeln.
Schon der eigenen Glaubwürdigkeit wegen sollte sich jene Historikerkommission, die seit eineinhalb Jahren 4200 personenbezogene Straßennamen in Wien unter die Lupe nimmt, dem Dr.-Karl-Renner-Ring deshalb besonders intensiv widmen. Dabei gilt es auch, die Dimensionen zu bewerten. Antisemitismus ist in jeder Spielart verwerflich; aber es macht einen Unterschied, ob Politiker wie Lueger dieses Gift als tragendes Instrument ihrer Politik einsetzten oder "nur" oberflächlich als rhetorische Waffe.
Ambivalente Figuren wie Lueger und Renner sind ideale Studienobjekte, um die nicht minder zwiespältige nationale Geschichte aufzurollen. Doch der Aufarbeitung ist nicht gedient, indem ihre Namen einfach ausradiert werden. Die Demontage von Straßenschildern schafft kein Gedächtnis, sondern Gedächtnislücken. Gefragt sind originellere Methoden, als dunkle Flecken ersatzlos wegzuwaschen: So gab es die Idee, das auf der Gegenseite der Ringstraße nach wie vor unbehelligt stehende Lueger-Denkmal in Schieflage zu hieven. Aber das war der Politik offenbar zu schräg.
Müsste es nach dieser Logik nicht auch noch einen Adolf-Hitler-Platz geben? Der Vergleich hinkt. Der im Holocaust gipfelnde Massenmord war die Essenz von Hitlers Politik. Ähnliches lässt sich, bei allen Schattenseiten, von den roten und schwarzen Urvätern nicht behaupten. (Gerald John, DER STANDARD, 15.4.2013)