AUSZUG AUS "WIKIPEDIA":
Staatsphilosophie
Politeia, der Idealstaat der Philosophenherrscher
→ Hauptartikel: Politeia und Philosophenherrschaft
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist der Ausgangspunkt der Politeia (Der Staat), welche in der Tetralogienordnung daher den Untertitel Über das Gerechte (περὶ δικαίου perì dikaíou) erhielt. Der platonische Sokrates setzt darin der attischen Demokratie einen utopischen, vom Gerechtigkeitsprinzip geleiteten Idealstaat entgegen. Mit dieser Übertragung auf die Ebene des Staates soll die ursprünglich auf das Individuum bezogene Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit eine umfassendere Antwort finden. Der ideale Staat hat den Zweck, die Idee des Guten auf der physischen Ebene zu verwirklichen; mit der Umsetzung der Gerechtigkeit soll eine Voraussetzung für das gute Leben jedes Bürgers geschaffen werden. So wie im Kosmos und in der Seele soll auch im Idealstaat eine harmonische Ganzheit verwirklicht werden. Zwischen dem Individuum und dem Staat besteht für Platon eine Analogie, denn so wie sich Gerechtigkeit im Einzelnen als bestimmter innerer Ordnungszustand entfaltet, so macht eine bestimmte Ordnung der Polis diese zu einem gerechten Gemeinwesen. Daher hat jeder Stand und jeder Bürger die Aufgabe, zum gemeinsamen Wohl beizutragen, indem er sich auf angemessene Weise harmonisch in das Ganze einfügt und ihm dient.
Platon zeichnet in der Politeia den Werdegang eines Staates hin zu seinem Idealmodell. Ein auf die menschlichen Grundbedürfnisse ausgerichteter erster, primitiver Staat, als „Schweinepolis“ bezeichnet (ὑῶν πόλις hyṓn pólis), bildet sich, da niemand für sich autark sein kann. Bei fortschreitender Entwicklung gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Begabungen der Bürger. Der Staat besteht jedoch um eines höheren Ziels willen, nämlich der Gerechtigkeit, die sich in der gerechten Verteilung der Aufgaben auf die Stände zeigt. Jeder soll im Staatsgefüge eine seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit ausüben. Daher kann bereits ein einfacher Staat der Forderung nach einer gerechten Struktur nachkommen, indem er durch das Prinzip gegenseitiger Hilfe die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse ermöglicht. Aus dem primitiven Staat entwickelt sich stufenweise ein „üppiger“ und „angeschwollener“ Staat (τρυφῶσα/φλεγμαίνουσα πόλις tryphṓsa/phlegmaínusa pólis), in dem sich ein kulturelles Leben herausbildet und Luxusgüter zur Verfügung stehen.[173]
Struktur des Idealstaates nach der Politeia Stand Seelenteil Tugend
Philosophenherrscher das Vernünftige Weisheit
Wächter das Muthafte Tapferkeit
Handwerker und Bauern das Begehrende Besonnenheit
Ein derart „angeschwollener“ Stadtstaat ist jedoch von verhängnisvollen Entwicklungen wie Machtkämpfen, Kriegen und aufkommenden Zivilisationsschäden bedroht. Als Alternative dazu entwirft Platon die Utopie eines „gesäuberten“ Idealstaates. Dessen Bürgerschaft gliedert er in den Handwerker- und Bauernstand (δημιουργοί dēmiurgoí), den Stand der Wächter (φύλακες phýlakes) und den der Philosophenherrscher (ἄρχοντες árchontes). Zur Erfüllung seiner standesspezifischen Aufgaben benötigt jeder Bürger eine der Kardinaltugenden Besonnenheit (σωφροσύνη sōphrosýnē), Tapferkeit (ἀνδρεία andreía) und Weisheit (σοφία sophía). Damit sind die drei Tugenden ebenso wie den drei Seelenteilen (dem Begehrenden, dem Muthaften und dem Vernünftigen) auch den drei Teilen der Bürgerschaft zugeordnet. Gerechtigkeit ergibt sich daraus, dass jeder im Auftrag der Gemeinschaft das tut, was seinem Wesen und seinen Begabungen entspricht (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν tà heautû práttein; Idiopragie-Forderung).
Mit der Begründung, das Schicksal habe den Menschen vor ihrer Geburt unterschiedliche Fähigkeiten zugeteilt,[174] sieht Platon für die Einordnung der Bürger in die drei Stände ein Aussiebungsverfahren vor. Die Standeszugehörigkeit ist im platonischen Staat nicht erblich, sondern wird gemäß der persönlichen Leistung im Bildungsprozess zugewiesen. Zu diesem Zweck wird das neugeborene Kind den Eltern entzogen und Erziehern anvertraut, wobei zwischen Jungen und Mädchen kein Unterschied gemacht werden soll. Dadurch soll eine große Gemeinschaft entstehen, in der die Kinder keine Bindungen zu ihren leiblichen Verwandten entwickeln. Der Staat plant und lenkt die Fortpflanzung, schreibt sie vor oder untersagt sie, sowohl zum Zweck der Eugenik als auch um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Die Erziehung der Nachkommenschaft obliegt ausschließlich staatlichen Behörden; behinderte und aus unerwünschten Verbindungen hervorgehende Neugeborene sollen wie in Sparta nicht aufgezogen, sondern „verborgen“, d. h. ausgesetzt werden.[175] Bei der Aussetzung oder Tötung von Säuglingen mit angeborenen Defekten handelt es sich um eine in der Antike verbreitete Sitte.