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Eigentlich will ich nicht wirklich so tief in diese Modelle einsteigen. Aber für mich spannend weil ich vor grauer Vorzeit ähnliches für Versicherungen gerechnet habe.
Dann kann ich dir ja das verwendete Modell kurz charakterisieren: Analog zu den (deterministischen) Modellen der Pensionsversicherung berechnet es (auf der Basis von Daten aus der Literatur: Häufigkeit von HIV, Wahrscheinlichkeit der HIV Übertragung je nach sexueller Praktik etc) nacheinander für jede Periode Durchschnittswerte für die Risiken des modellierten Sexualverhaltens und die resultierenden HIV-Häufigkeiten für Anbieterinnen und Konsumenten. (Im Unterschied zu den Matrizen-Modellen der Versicherungen ist aber das Modell wegen der Wechselwirkung nicht linear.)
Da das ergebniss verhalensanhängig ist - hatte ich in meinen auch eine wahrscheinlichkeitsverteilung von verhaltensweise eingebaut. was meiner ansich nach hier besonders essentiell sein könnte
Das ist richtig. Etabliert und durch einen Namen gewürdigt (Peltzman Effekt) ist die erwähnte Beobachtung, dass von oben verordnete Risikosenkung durch riskanteres Verhalten überkompensiert wird (hier: AO Konsum wegen der vermeintlichen Risikoreduktion durch die Kontrolluntersuchung ). Umgekehrt gilt dies auch, wie die Beobachtung zeigt, dass von "tabulosen" Anbieterinnen vor allem ihr jeweiliges "maximal-tabuloses Service" nachgefragt wird, weil Kunden, denen das zu riskant ist, ganz wegbleiben (und sogar Anbieterinnen von Safer Sex meiden, wenn sie im gleichen Bordell anschaffen, wie die tabulosen Anbieterinnen). Eine Sexarbeiterin, die z.B. Oralverkehr mit Schlucken anbietet, wird dies den ganzen Tag lang tun - und wenn ihr davon schließlich ekelt, kann sie mangels Kunden nicht mehr zurück zu Safer Sex: Es bleibt ihr nur, noch tabuloseren vaginalen GV ohne Kondom anzubieten.
Dieses risikogesteuerte Verhalten führt zu einer Marktsegmentierung, die auch im Modell eingebaut ist, das jeweils ein Segment modelliert, indem Sexarbeiterinnen und Freier durch eine charakteristische Praktik beschrieben werden: Szenario A beschreibt dann z.B. das "gesetzestreue tabulos-Segment".
Eine darüber hinausgehende genaue Modellierung des Verhaltens aller Sexarbeiterinnen und aller Freier wäre problematisch, weil die Grunddaten fehlen. Es gibt nicht einmal genaue Zahlen, wie viele Sexarbeiterinnen es gibt (sogar über die Registrierungszahlen kursieren in den Medien unterschiedliche Angaben), und über die Anzahl der Freier nur Vermutungen.
Bei einem so rudimentären Wissensstand muss sich die theoretische Diskusion darauf beschränken, die Information aus den bekannten Fakten mit möglichst einfachen Modellen zu verwerten. Je komplexer ein Modell ist, desto mehr waghalsige Vermutungen fließen ein und verdünnen die Aussagen des Modells. Für eine politische Diskussion reicht es auch völlig aus, a) grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass die Wechselwirkungen zwischen den Gruppen der Freier und Sexarbeiterinnen die HIV-Häufigkeit beeinflussen, und dass b) die bisher gewählte Methode, HIV mittels verpflichtender Kontrolluntersuchungen der Sexarbeiterinnen einzudämmen, wegen dieser Wechselwirkung möglicherweise nicht den erwarteten Erfolg liefern wird (Szenario A im Vergleich zu Szenarien B und C1). Dass die geltenden Gesetze vor Jahrzehnten vermutlich in Panik vor Szenario C geschaffen wurden, sollte den Gesetzgeber nicht daran hindern, bessere Gesetze zu schaffen, die wissenschaftlich informiert sind.
In diesem Sinn möchte ich auf die HIV Guidelines 2006 von UNAIDS auf S 37 erinnern:
"Public health, criminal and anti-discrimination legislation should prohibit mandatory HIV-testing of targeted groups, including vulnerable groups".
Demnach fordert die auf die Eindämmung von HIV und AIDS spezialisierte UNO-Organisation, basierend auf den vorhandenen empirischen Daten, welche die medizinische Nutzlosigkeit und soziale Schädlichkeit von verpflichtenden Kontrolluntersuchungen nachweisen (was das einfache Modell oben illustriert), dass verpflichtende Untersuchungen von Sexarbeitern und anderen Risikogruppen von Gesetz wegen verboten werden sollen - auch Arbeitgeber sollen solche Untersuchungen nicht einfordern dürfen. Aber selbst wenn herauskommt das die Kontrolluntersuchung keinen dramatischen Einfluss auf die Durchseuchung mit HIV hat . Bedenke - die Gesundenuntersuchung wurde ursprünglich wegen anderer Krankheiten eingeführt. Du musst das für alle Krankheiten - auf welche untersucht wird - durchrechnen.
Die Kontrolluntersuchungen gehen auf das 19. Jh zurück. Damals - und bis in die 1950-er Jahre - hat es keine einfach verfügbaren wirksamen Antibiotika zur Behandlung der verbreiteten STIs gegeben. Prostituierte wurden polizeilich registriert und untersucht, um "ehrbare Bürger" zu schützen, und auch verhaftet, wenn sie sich von diesen Bürgern mit STIs angesteckt haben (vgl. die Studie von Alexandre Parent-Duchatelet aus Paris im 19. Jh.) Die heutigen Prostitutionsgesetze begründen sich in ihrem aus den 1950-ern stammenden Kern auf diesen Geist des 19. Jh. Auch die Medizin war damals näher dem mittelalterlichen Bader-Unwesen mit Aderlässen und anderen abergläubischen Praktiken, als der heutigen "Evidence-Based Medicine".
Im Sinn dieser "Evidence-Based Medicine" hat man in Deutschland ab 2002 untersucht, ob die Abschaffung der Kontrollpflicht negative Auswirkungen auf STIs hatte. Die Antwort ist: nein. Tatsächlich ist Syphilis in Wien verbreiteter, als irgendwo sonst in Deutschland (RKI Berlin im Jahr 2010). Dies lässt sich auch leicht mit dem Risikoverhalten erklären: Wo vom Staat keine höhere Sicherheit durch Kontrolluntersuchungen vorgegaukelt wird, passen Freier selbst auf sich auf.
Macht ja auch sinn wenn blos der Grad der Durchseuchung mit HIV bei den SWs festgestellt werden kann. Veränderungen des Grades der Durchseuchung sind ein Alarmzeichen.
Bei einer Gruppe von vielleicht 5.000 in Österreich registrierten Sexarbeiterinnen, die sehr unterschiedlich von AO betroffen sind, wird man eine alarmierende Verdreifachung der HIV-Häufigkeit von 0,1% auf 0,3% im "gesetzestreuen tabulosen Segment" (unbekannter Größe) nur schwer unterscheiden können von einer Zufallsschwankung. Da HIV meldepflichtig ist, wird der Grad der Durchseuchung viel genauer über die anonymen Meldungen bestimmt.
Außerdem zeigt der Mechanismus der Wechselwirkung, insbesondere im Szenario A: Die mit der Kontrolluntersuchung gemessene Durchseuchung der Sexarbeiterinnen ist nicht das Problem, sondern der Motor für die HIV-Infektion sind die infizierten AO-Freier, die zehn Jahre lang gesunde (und bei der Kontrolluntersuchung getestete) AO-Sexarbeiterinnen immer wieder anstecken, wobei dann noch innerhalb des 3-monatigen diagnostischen Fensters eine sekundäre Ansteckung weiterer AO-Freier erfolgt.
Übrigens, UNAIDS und alle internationalen Organisationen, die Fachkompetenz zu HIV/AIDS haben, empfehlen statt des längst veralteten Konzepts der Registrierung und Pflichtuntersuchung die Forcierung von Selbstverantwortung durch Aufklärung. Die Gay-Community ist ein gutes Beispiel, dass dieses Konzept funktioniert. Wenn sich nämlich homosexuelle AO Freier darauf verlassen wollten, dass homosexuelle Anbieter ohnedies vom Staat getestet werden (überprüfbar durch die Kontrollkarte), wären unter sonst gleichen Modellannahmen, wie im Szenario A (also Szenario A_h: rezeptiver AV ohne Kondom bei Kunden und Anbietern) langfristig trotz Kontrolluntersuchung mehr als 60% der AO Kunden HIV positiv: Die Untersuchungsstelle könnte nur hilflos einer Katastrophe zusehen. Dass so eine Tendenz bei homosexueller Prostitution nicht zu beobachten ist, liegt nur am Commitment zu Safer Sex.
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