Eure Lieblingsgedichte/Texte

[h=3]Ballade von den Frauen von Paris
[/h] Wunderhübsche Plauderzungen
Zeigt Venedig und Florenz,
Nachrichten von Frauenlungen
Man seit der Antike kennt;
Es plappern Lombardei und Rom,
Auch Genua gefährlich ist,
Doch trotz Savoyen und Piemont,
Die schönsten Schnäbel hat Paris.

Mäulchen, hoch geübt im Waschen,
Heißt's, böte Neapel auf,
Äußerst schöne Plaudertaschen
Gäb's in Deutschland, preußisch auch,
Die Griechin quatscht, die Ungarin,
Ägypters Weib; dies ist gewiss:
Trotz Spanierin und Katalanin,
Die schönsten Schnäbel hat Paris.

Bretagne, Schweiz, kann nicht gewinnen,
Was soll Gascogne hier, Toulouse:
Von Petit Pont zwei Rednerinnen
Dann ist mit Lothringen schon Schluss,
Ob England klagt und Calais flennt
(Ob ich versteh, was man da spricht?)
Trotz Picardie und Valenciennes;
Die schönsten Schnäbel hat Paris.

Geleit
Fürst, der Pariser Damenwelt
Gebührt der Preis für ihr Gezisch;
Was auch Italien dir erzählt,
Die schönsten Schnäbel hat Paris.

François Villon
 
[h=1]Die Dame mit 'n Avec
[/h]
Alle könn sie mir, könn sie mir, könn sie mir!
Huch, die Männer!
Sie sind alle hier, alle hier, alle hier
nischt wie Penner!
Erst da tun sie mächtig fein,

laden mich zum Abend ein.
Und ich kann mich dann nicht halten,
seh ich des Monokels Glanz –:
sag den Jungen und den Alten
grad heraus beim Foxtrott-Tanz:
»Ich hab nu mal den Schwung ins Ordinäre!
Ick bin die richtige berliner Beere!
Und bei der Liebe hopps ick jrade wie bein Zeck
nur übern Rinnstein, Rinnstein, Rinnstein mit 'n Avec!«

Uffn Koppenplatz, Koppenplatz, Koppenplatz
lief ick lange.
Mitn Sabberlatz, Sabberlatz, Sabberlatz –
'ck wah 'ne Range –!
Und mit vierzehn Jahren schon
ging ich bei die Konfektion.
Das war eine feine Lehre
in dem großen Modenhaus;
und ich machte rasch Karriere,
aber manchmal kommt es raus – –
Ich hab nu mal den Schwung ins Ordinäre!
Ick bin die richtige berliner Beere!
Und bei der Liebe hopps ick jrade wie bein Zeck
nur übern Rinnstein, Rinnstein, Rinnstein mit 'n Avec!

Fahr ick viere lang, viere lang, viere lang
Eklipage,
sitz ich ersten Rang, ersten Rang, ersten Rang
in Kleidage:
Alle Leute drehn sich rum –
Donner! die ist gar nicht dumm!
Züngelnd sitzt bei mir mein Hündchen.
Autsch! wie mein Brillantschmuck blitzt –
Aber spitze ich mein Mündchen,
weißte gleich, wer vor dir sitzt –!
Ich hab nu mal den Schwung ins Ordinäre!
Ick bin die richtige berliner Beere!
Und bei der Liebe hopps ick jrade wie bein Zeck
nur übern Rinnstein, Rinnstein, Rinnstein mit 'n Avec!


Theobald Tiger alias Tucholsky
 
Ein Geständnis: Vor Wut möcht ich und Scham vergehn,
Daß ich von Liebe zu dir spreche -
Doch meine Thorheit, meine Schwäche
Muß ich zu Füßen dir gestehn.
Das paßt recht schlecht zu meinen Jahren!
Zeit wär's, vernünftiger zu sein!
Doch in der Liebe wohlerfahren,
Kenn ich auch ihrer Krankheit Pein:
Dir fern – muß ich voll Sehnsucht klagen,
Dir nah – muß schweigend dulden ich,
Und mächtig drängt's mich, dir zu sagen:
Ich liebe, holder Engel dich!

(Alexander Puschkin)
 
Romanze

Es war einmal ein Schneiderlein
Mit Nadel und mit Scher,
Der liebt ein Mädel hübsch und fein
So sehr, ach Gott, so sehr.

Er kam zu ihr in später Stund
und red't so hin und her,
Ob er ihr etwa helfen kunnt
Mit Nadel und mit Scher.

Da dreht das Mädel sich herum!
"Oh je, o jemine!
Deine Nadel ist ja schon ganz krumm,
Geh geh, mein Schneider, geh!"

Der Schneider schrie: "Du falsche Dirn,
Hätt' ich Dich nie gekannt!"
Er kauft sich einen Faden Zwirn
Und hängt sich an die Wand.


Wilhelm Busch
 
Stefan Zweig, Beginn des Vorworts zu "Die Welt von Gestern", Petropolis 1941

Ich habe meiner Person niemals so viel Wichtigkeit beigemessen, daß es mich verlockt hätte, anderen die Geschichten meines Lebens zu erzählen. Viel mußte sich ereignen, unendlich viel mehr, als sonst einer einzelnen Generation an Geschehnissen, Katastrophen und Prüfungen zugeteilt ist, ehe ich den Mut fand, ein Buch zu beginnen, das mein Ich zur Hauptperson hat oder – besser gesagt – zum Mittelpunkt. Nichts liegt mir ferner, als mich damit voranzustellen, es sei denn im Sinne des Erklärers bei einem Lichtbildervortrag; die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird eigentlich nicht so sehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war. Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde; und ich weiß mir inmitten der Unzähligen keinen anderen Vorrang zuzusprechen als den einen: als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist jeweils just dort gestanden zu sein, wo diese Erdstöße am heftigsten sich auswirkten. Sie haben mir dreimal Haus und Existenz umgeworfen, mich von jedem Einstigen und Vergangenen gelöst und mit ihrer dramatischen Vehemenz ins Leere geschleudert, in das mir schon wohlbekannte "Ich weiß nicht wohin". Aber ich beklagte das nicht; gerade der Heimatlose wird in einem neuen Sinne frei, und nur der mit nichts mehr Verbundene braucht auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. So hoffe ich, wenigstens eine Hauptbedingung jeder rechtschaffenen Zeitdarstellung erfüllen zu können: Aufrichtigkeit und Unbefangenheit.
 
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewigweibliche
Zieht uns an.

(Goethe, Faust I)
 
Wer je gelebt in Liebesarme


Wer je gelebt in Liebesarmen,
Der kann im Leben nie verarmen;
Und müsst er sterben fern, allein,
Er fühlte noch die sel'ge Stunde,
Wo er gelebt an ihrem Munde,
Und noch im Tode ist sie sein.

Theodor Storm
 
[h=2]Es ist schön
[/h] Es ist schön, wenn du spät im verfinsterten Raum
ins geglättete Bett zu mir kriechst
und mich anrührst mit deinem kaum sichtbaren Flaum
und nach Seife und Pfefferminz riechst.
Deine Haut ist noch kühl, deine Hände sind schwer;
und dein Mund gibt sich zögernd und tut
bei allem, als ob es das erste mal wär,
und das, liebe Liebste ist gut.


Es ist schön wenn die Brust sich dir hebt und sich senkt
und mich leise dein Atem weht an
und dein Leib sich mir nähert und freundlich sich schenkt,
weil er einfach nicht anders mehr kann.
Die Nacht ist noch lang und um uns alles still,
in den Ohren rauscht leise das Blut;
und was du willst, will ich, und du tust, was ich will,
und das, liebe Liebste, ist gut.


Es ist schön, wenn im Fenstergeviert sich der Schein
des Tages erhebt und mich weckt,
und die Hand läßt die Rundung der Schultern nicht sein,
bis der Druck meiner Finger dich schreckt.
Süß und weh zugleich ist, was ich tu oder laß,
wenn dein Arm mich umfängt, uns zumut,
und ich küß vom Gesicht dir das salzige Naß,
und das, liebe Liebste ist gut.


Text: Theodor Kramer
 
Anhang anzeigen 1106937


Ach, wie beschäftigt wir sind,
weil die Libellen einander nicht
genügend anstaunen,
weil ihre Pracht
ihnen einander kein Rätsel ist
und kaum Versuchung,
sondern ein Gegenwert.
Genau dem, was sie opfern,
ihrer Lebenskürze genau
entspricht es, so prächtig zu sein,
und von der Pracht, die sie leicht zueinander spielt,
geht ihre Liebe nicht über.

Wir, vor Überflüssen stehen wir, Verschwendungen,
oder, plötzlich, vor zuwenig Dasein.
Über das Übermaß Aufgangs,
mit dem die Geliebte heraufglänzt,
verfügt ein sich trübender Tag.
Wind zerstreut ihren Duft,
und ein stürzender Bach überstimmt sie...
Wer war ihr gewachsen, wer ihrer Übermacht,
wer ertrug sie auch nur,
da sie heraufkam -,
und bald schon,
da noch Mittag nicht ist,
begreift er das Andere nicht: ihre Armut.
Seine und ihre.
Oder des Reichtums Unbrauchbarkeit,
oder das nicht mehr Zugleichsein
im Reichtum.
Oder die Überflüsse verschütten ihn,
sein eignes Bewundern
war zu wagend gewölbt,
bricht!
Ach, sein Bewundern verpflichtete
jene Bewunderte -, aber
wer ist herrlich aus Pflicht?
Aus Entzücken war sie`s vielleicht einen Augenblick,
wie wo versteigert wird,
schrie den nächst höheren Preis,
immer noch höhern...,
bis die Erwerbung,
getrieben,
unter die Sterne sprang:
Sternbild,
beiden unmöglich.

Aus: Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, 1924
 
Liebeslied



Man muß schon Schnaps getrunken haben
Eh man vor deinem leibe stand
Sonst schwankt man ob der trunken Gaben
Von schwachen Knien übermannt.

O du, wenn im Gesträuche kreisend
Der Wind die Röcke flattern läßt
Und man, das weiche Tuch zerreißend
Die Knie zwischen deine preßt.

Der Abendhimmel macht das Saufen
Sehr dunkel, manchmal violett.
In einem breiten weißen Bett.

Die Wiese schwankt nicht nur vom Trinken
Wenn man in deinen Knien liegt.
Der dunkle Himmel will versinken
Indem er sanft sich schneller wiegt.

Und deine weichen Knie schaukeln
Mein wildes Herz in deine Ruh
Und zwischen Erd und Himmel schaukeln
Wir leichtgeschwellt der Hölle zu.


Bert Brecht
 
Die letzte Epiphanie

Ich hatte dies Land in mein Herz genommen,
ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.


Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuh‘n.
Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher
und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun.



Ich kam als zitternde, geistesgeschwächte
Greisin mit stummen Angstgeschrei.
Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte
und nur meine Asche gabt ihr frei.



Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,
ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.
Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen,
ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.



Ich kam, ein Gefangener, als Tagelöhner,
verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.
Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.
Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?

Werner Bergengruen


 
Sucht

ich wünsche manchmal
ich könnte
mich an dir sattküssen
aber dann müßte ich sterben
vor Hunger nach dir
denn je mehr ich dich küsse
desto mehr muß ich dich küssen:
Die Küsse nähren nicht mich
nur meinen Hunger

Erich Fried
 
Ein männlicher Briefmark erlebte

Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!

Joachim Ringelnatz, 1883 – 1934
 
Leise Lieder sing ich dir bei Nacht,
Lieder, die kein sterblich Ohr vernimmt,
noch ein Stern, der etwa spähend wacht,
noch der Mond, der still im Äther schwimmt;

denen niemand als das eigne Herz,
das sie träumt, in tiefer Wehmut lauscht:
und an denen niemand als der Schmerz,
der sie zeugt, sich kummervoll berauscht.

Leise Lieder singe ich dir bei Nacht,
dir, in dessen Aug mein Sinn versank,
und aus dessen tiefem, dunklen Schacht,
meine Seele ewige Sehnsucht trank.

(Christian Morgenstern)
 
...wunderschönes Gedicht Hottie! :bussal:

Leise Lieder sing ich dir bei Nacht,
Lieder, die kein sterblich Ohr vernimmt,
noch ein Stern, der etwa spähend wacht,
noch der Mond, der still im Äther schwimmt;

denen niemand als das eigne Herz,
das sie träumt, in tiefer Wehmut lauscht:
und an denen niemand als der Schmerz,
der sie zeugt, sich kummervoll berauscht.

Leise Lieder singe ich dir bei Nacht,
dir, in dessen Aug mein Sinn versank,
und aus dessen tiefem, dunklen Schacht,
meine Seele ewige Sehnsucht trank.

(Christian Morgenstern)
 
Sie schläft

Früh morgens, , vom letzten Schlummer ein Stück.

Nimm mich ein bißchen mit – auf Deinem Traumboot zu schaukeln
ist Glück!

Die Zeituhr geht ihren harten Schritt ...pickepack ...

»Sie schläft mit ihm« ist ein gutes Wort.

Im Schlaf fließt das Dunkle zusammen.
Zwei sind keins.

Schon knistern die kleinen Flammen -

aber Dein Atem fächelt immerfort:

"Ich bin aus der Welt. Ich will nie mehr in sie zurück."

Jetzt, wo Du nicht bist, bist Du ganz mein.

Früh Morgens vom letzten Schlummer ein Stück,

kann ich Dein Gefährte sein.



Theobald Tiger


 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Monolog für Alleinstehende

Ruf mich doch an!
Zwo Zwo Acht Eins Null Neun.
So gegen sieben, wenn es dämmert.
Man fühlt sich dann so schrecklich übriggeblieben
Und ziemlich belämmert
Mit seinem einsamen Whiskey
Und der matten gelben Rose
Im schwedischen Glas
Und dem Abendrefrain:
Wozu? Wozu.
Nach wieder einmal eines Tages Mühen.
Das kann einem schon auf die Nerven gehn.
Ich werde doch endlich das Gas aufdrehen.
Und dir einen ordentlichen Kaffee brühen.

- Was dachtest denn du?

Mascha Kaléko
 
Ein kleines Lied

Ein kleines Lied. Wie geht's nur an,
Dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und eine ganze Seele.

Marie von Ebner-Eschenbach
 
Sehnsucht nach Altaussee
(Friedrich Torberg, geschrieben in der Emigration in Kalifornien 1942)


Wieder ist es Sommer worden,
dritter, vierter Sommer schon.
Ist es Süden, ist es Norden,
wo ich von der Heimat wohn?



Kam ich auf der wirren Reise
nicht dem Ursprung wieder nah?
Dreht die Welt sich noch im Kreise –
ist es Sommer, dort wie da?



Gelten noch die alten Strecken?
Streben Gipfel noch zur Höh’?
Liegt im bergumhegten Becken
noch der Altausseer See?



Bot sich einst dem Blick entgegen –
spiegelschwarz und wunderbar.
Himmel war nach manchem Regen
bis zum Dachsteingletscher klar!



Kulm und Kuppe: noch die kleinern
hielten Wache rings im Land.
Aufwärts ragten grün und steinern
Moosberg, Loser, Trisselwand.



Ins Plateau zu hohem Rahmen
wölbte sich die Pötschen schlank,
und es wuchsen die Zyklamen
nur auf ihrem drübern Hang.



Ach, wie war ich aller Richtung,
sommerlich vertrautes Kind!
Ach, wie war mir Wald und Lichtung,
Bach und Mulde wohlgesinnt!



Treibt’s mich heut’ zum See, zur Klause?
Treibt’s mich auf die Blaa Alm hin?
Wird’s beim Fischer eine Jause,
wird’s ein Gang zur Wasnerin?



Wo die Triften sanft sich neigten
vom Geröll zum Flurgeheg -
ach, wo ist’s dass sich verzweigten
Hofmannsthal- und Schnitzlerweg?



Ach, wo hat’s mich hingetrieben!
Pötschen weiß ich und Plateau.
Aber welcher Hang ist drüben?
Aber die Zyklamen- wo?


Wie gut ich diese Sehnsucht nach diesem wunderschönen Fleckchen Erde verstehen kann - umso mehr, da der Verfasser wußte, daß ihm die Rückkehr dorthin lange Zeit verwehrt sein wird. :cry:
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zurück
Oben