...Sie blieb wach und kontrollierte ihre Genüsse wie ein Posten die Geräusche der Nacht. Die körperliche Liebe war eine Forderung der Natur. Natascha erhob die Liebe fast zu einer revolutionären Pflicht und hatte fortab ein reines Gewissen. Tunda hatte sich weibliche Soldaten immer so vorgestellt. Diese Frau war wie aus Büchern gestiegen, ihrer literarisch bekräftigten Existenz ergab er sich mit Bewunderung und der demütigen Treue eines Mannes, der nach falschen Überlieferungen in einer entschlossenen Frau eine Ausnahme sieht und nicht die Regel.
Er wurde ein Revolutionär, er liebte Natascha und die Revolution.
Viele Stunden des Tages benutzte Natascha dazu, ihn und ihre Leute »politisch aufzuklären« und Tunda besondern Nachhilfeunterricht zu erteilen, weil er von der Revolution weniger verstand als die Arbeiter und Matrosen.
Es dauerte lange, ehe er es sich abgewöhnte, bei dem Wort »Proletariat« an Gründonnerstag zu denken. Er war mitten in der Revolution, und er vermißte noch die Barrikaden. Als seine Leute denn er kommandierte sie jetzt einmal die Internationale sangen, erhob er sich mit dem schlechten Gewissen eines Verräters, er schrie hurra mit der Verlegenheit eines Fremden, eines Gastes, der bei einem zufälligen Besuch ein Fest mitfeiern muß. Es dauerte lange, ehe er sich daran gewöhnte, nicht zu zucken, wenn ihn seine Kameraden Genosse nannten. Er selbst nannte sie lieber bei ihren Namen und wurde in der ersten Zeit verdächtigt.
»Wir sind im ersten Stadium der Weltrevolution«, sagte Natascha in jeder Nachhilfestunde, »Männer wie du gehören noch zur alten Welt, können uns aber gute Dienste leisten. Wir nehmen dich eben mit. Du verrätst die bürgerliche Klasse, der du angehörst, du bist uns willkommen. Aus dir kann ein Revolutionär werden, aber ein Bürger bleibst du immer. Du warst Offizier, das tödlichste Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse, du hast das Proletariat geschunden, du hättest erschlagen werden müssen. Sieh doch den Edelmut des Proletariats! Es erkennt an, daß du was von Taktik verstehst, es verzeiht dir, es läßt sich sogar von dir führen.«
»Ich führe es ja nur deinetwegen weil ich dich liebe«, sagte der altmodische Tunda.
»Liebe! Liebe!« schrie Natascha. »Das kannst du deiner Braut erzählen! Ich verachte deine Liebe. Was ist das? Du kannst es nicht einmal erklären. Du hast ein Wort gehört, in euren verlogenen Büchern und Gedichten gelesen, in euren Familienzeitschriften! Liebe! Ihr habt euch das wunderbar eingeteilt: Da habt ihr das Wohnhaus, dort die Fabrik oder den Delikatessenladen, drüben die Kaserne, daneben das Bordell und in der Mitte die Gartenlaube. Ihr tut so, als wäre sie das Wichtigste in eurer Welt, in ihr schichtet ihr alles auf, was Edles, Erhabenes, Süßes in euch ist, und ringsum ist Platz für eure Gemeinheit. Eure Schriftsteller sind blind oder bestochen, sie glauben eurer Architektur, sie schreiben von Gefühlen statt von Geschäften, von Herz statt von Geld, sie beschreiben die kostbaren Bilder an den Wänden und nicht die Kontos in den Banken.«
»Ich habe nur Detektivromane gelesen«, warf Tunda schüchtern dazwischen.
»Ja, Detektivromane! Wo die Polizei siegreich ist und der Einbrecher gefangen wird, oder wo ein Einbrecher nur deshalb siegreich ist, weil er ein Gentleman ist und den Frauen gefällt und einen Frack trägt. Wenn du nur meinetwegen bei uns bist, werde ich dich erschießen«, sagte Natascha.
»Ja, nur deinetwegen!« sagte Tunda.
Sie atmete auf und ließ ihn am Leben.
(Joseph Roth, "Die Flucht ohne Ende", 1927)