So war für mich die Wiederbegegnung mit ihm völlig normal. Er hatte ja nach wie vor zur Familie gehört, .....
Dann war's wenigstens nicht ganz so arg, wenngleich natürlich weder für Dich noch für Deine Mutter jene "heile Welt", die Du in meiner Familie vermutest.
Die allerdings auch wieder nicht soo heil war, denn der Schilling musste bei uns dreimal umgedreht werden, bevor er ausgegeben werden konnte, und es war nicht nur der Sparsamkeit der Mutter, ihrem umsichtigen Wirtschaften und ihrem Improvisationstalent zu verdanken, dass die zu fütternden Münder jeden Tag satt wurden, sondern auch dem Umstand, dass unser Vater für sich selbst nur ein minimales Taschengeld für sich behalten hat, und den Rest seines monatlichen Einkommens ohne wenn und aber seiner Frau in die Hand gedrückt hat, in der Gewissheit, dass er nichts besseres tun konnte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Auch wenn es Dich angesichts Deiner eigenen Erinnerungen wohl nicht fröhlich stimmen wird, will ich nun doch noch ein wenig von meinen Weihnachten der späten Kindheit erzählen. Wobei für mich der Beginn dieser späten Kindheit dadurch gekennzeichnet ist, dass ich meinen Dienst als Ministrant angetreten habe.
Damit hat es für mich auch im Advent und in der Weihnachtszeit neue Aufgaben gegeben. Natürlich hat sich im Kreis der Familie in den Bräuchen der Adventzeit nichts geändert. Alleine für mich war der religiöse Teil dieser Zeit etwas umfangreicher geworden, hieß es doch jetzt, zweimal in der Woche ganz früh aufzustehen, um noch vor Schulbeginn in der so genannten Rorate zu ministrieren. Das waren Messen, welche in der Krypta (im Keller quasi) unserer Pfarrkirche gelesen wurden, und bei denen der Raum nur durch das Licht von Kerzen erleuchtet war.
Trotz der frühen Morgenstunde war der kleine Raum doch ziemlich voll, in der Erinnerung schwer zu sagen, wie viele Gläubige versammelt waren, aber jedenfalls genug, dass eine würdevolle Messfeier zustande kam. Erwähnen möchte ich noch, dass diese Art der Adventmessen die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht überlebt hat, was ich persönlich für schade empfunden habe, so wie das Verbannen der lateinischen Sprache aus der Liturgie. Obwohl ich in meiner ersten Zeit als Ministrant das Lateinische dorthin gewünscht habe, wo der Pfeffer wächst ...
Die zweite Änderung war natürlich die, dass ich am Heiligabend in der Christmette ebenfalls als Ministrant eingeteilt war, wo ich zwar nur in der Reihe der bei uns so genannten Chor-Ministranten einen relativ ruhigen Abend verbringen konnte, während der eigentliche Messdienst in den Händen der Katholischen Jugend lag, und demnach in die Zuständigkeit meines Bruders fiel. Und geändert hat sich natürlich auch, dass nach der Heimkehr von der Mette noch ein kurzes gemütliches Beisammensitzen im Kreis der Familie angesagt war, wo dann "Insider" besprochen wurden, kleine Pannen, die es während der Mette gegeben hatte, oftmals unbemerkt von der Schar der Gläubigen. Wobei auch ich einmal im Mittelpunkt des Geschehens stand, als ich, in der Zweierreihe der Chorministranten die acht Stufen von der Kommunionbank hinauf zum Altarraum möglichst würdevoll erklimmen wollte, dabei schon auf der zweiten Stufe auf den Saum meines Chorgewandes stieg, und daraufhin die restlichen Stufen - die Zweierreihe verlassend - einigermaßen würdelos zur Seite stolperte, und letztlich unter Zuhilfenahme der Hände meinen Weg nach oben fand, wo ich dann mutterseelenallein in der Gegend herum stand, in dem Fall allerdings nicht unbemerkt von der grinsenden Schar der Gläubigen. Ach, schön war's einfach. Aber genug vom religiösen Teil.
Eine dritte Änderung in der Weihnacht dieser Periode war der Umstand, dass mir von Klassenkameraden gesteckt wurde, dass es das Christkind gar nicht gibt, die Geschenke von den Eltern gekauft werden usw. Um mir Gewissheit zu verschaffen, habe ich meine Mutter direkt darauf angesprochen. Sie hat sich zwar ein wenig geziert, mit "wer sagt denn sowas" und ähnlichem, aber schließlich hat sie es doch nicht über's Herz gebracht, mich anzulügen. Und damit war's also offiziell, und ich gedenke mit Wehmut der Tränen meiner Mutter, als sie dessen gewahr wurde, dass ihr kleiner Liebling ab jetzt Weihnachten ohne Christkind erleben würde. Der kleine Liebling war zwar schon 12 vorbei, aber bekanntlich altern Kinder in den Augen ihrer Mütter ja nur sehr langsam, wenn überhaupt.
Mit diesem meinem neuen Wissen trat auch im weltlichen Teil der Weihnacht eine geringfügige Änderung des Rituals ein. Der Wunschzettel wurde nun nicht mehr ins Fenster gelegt, sondern dem Vater direkt übergeben. Der Brauch des Heiligabend wurde zwar inklusive Verbringung zur Großmutter und Versammlung in der Küche beibehalten, in Ermangelung eines Christkindes entfiel aber das Ausschau halten nach dem davonfliegenden, und mein Vater war gezwungen, nach Läuten des Glöckchens quasi coram publico in die Küche zu kommen, um sodann mit der versammelten Familie wieder ins Wohnzimmer zu treten.
Meine Mutter und die beiden Großmütter haben viel geweint an diesem einen Heiligabend ..... Frauen halt. Und sie waren fest davon überzeugt, dass Weihnachten nie wieder so sein wird wie vorher. Und sie haben damit natürlich nicht ganz unrecht gehabt, wenn auch auf andere Weise, als sie das befürchtet haben. Ich habe nämlich meinen Glauben an das Christkind nicht verloren, bis zum heutigen Tag nicht. Aber das Bild des Christkindes hat sich gewandelt. Es ist natürlich nicht mehr das in der Gegend herum fliegende engelsgleiche Wesen meiner frühen Kindheit. Das Kind, das am Heiligen Abend in der Krippe liegt, ist für mich das Symbol einer Idee geworden, jener Idee der Liebe zum Nächsten, die ich mein Leben lang nach bestem Vermögen zu befolgen bemüht war. Damals natürlich noch in den Anfängen, soweit kindliches Denken diese Idee eben erfassen mag, aber damals hat es begonnen.
Meine große Freude damals war, nicht mehr nur beschenkt zu werden, sondern auch selbst schenken zu können. Wenn auch in sehr bescheidenem Umfang mit Hilfe meines bescheidenen Taschengeldes. Aber ich habe damals auch gelernt, dass nicht die Größe eines Geschenks entscheidend ist, sondern auch hier die Idee, welche dahinter steht: Freude zu bereiten. Und was natürlich auch noch hinzu kam: ich wurde auf eigenen Wunsch in die Vorbereitungen des Heiligen Abends einbezogen. Ich durfte mich beteiligen, wenn Mannerschnitten und Pralinen einzeln in färbiges Seidenpapier gewickelt und mit glänzendem Stanniol umhüllt wurden, ich durfte Zwirnfäden an den Windringen und Patiencebäckereien befestigen, kurz überall da mithelfen, wo bis dahin meine Eltern und Geschwister hinter meinem Rücken unbemerkt tätig waren. Das hat wieder ein paar sehr heimelige Adventabende ergeben, so dass wir letztlich alle davon einen Gewinn hatten.
So, und damit gebe ich für heute Ruhe, morgen gibt's dann ein wenig über die Weihnacht meiner Jugend zu erzählen.