....ich finde halt, dass die Religion den Einzelnen vom selbständigen Denken abhält.
Tut sie das wirklich?
Was hält einen selbständig denkenden Menschen davon ab, ein gläubiger Mensch zu sein?
Du hast in einem Deiner Postings geschrieben, dass die Bibel eine Sammlung alter Geschichten und Legenden sind, welche einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand halten. Ist es ein Beweis selbständigen Denkens, wissenschaftliche Beweise für einen Glauben zu verlangen? Ist es nicht vielmehr absurd, in dem, was andere Menschen glauben wollen, um ihrem Leben eine spirituelle Basis zu geben, nach einem wissenschaftlichen Beweis zu suchen?
Glauben als wissenschaftlich untermauerte These - was wäre denn da ein Glaube wert? Wenn die Existenz eines Gottes und die unantastbare Wahrheit der Bibel wissenschaftlich bewiesen wäre, wäre dann nicht ein jeder unvernünftig, welcher nicht daran glaubt?
Und wie kommst Du auf die Idee, dass selbständiges Denken nur zum Zweifel oder zum Nichtglauben führen kann? Ist das nicht wieder vermessen? Anerkennst Du nur Deine eigene Anschauung als eine durch selbständiges Denken gewonnene? Oder hältst Du es nicht für möglich, dass weniger das selbständige Denken sondern eben der Glaube dafür verantwortlich ist, dass man sich einer Religion verbunden fühlt?
Wenn er weiss, er braucht nur zur Beichte oder ins Abendmahl zu gehen, um ein besserer Mensch zu werden, dann arbeitet er nicht selbst an sich, sondern lässt eine höhere Macht das für ihn erledigen.
Das ist auch wieder sehr oberflächlich gedacht. Das Sakrament der Buße, wie die Beichte im Kirchenjargon genannt wird, ändert den Menschen selbst ja nicht.
Das Sakrament der Buße ist eines der Sinnbilder für die göttliche Gnade, welche dem Glauben nach überall auf der Welt wirkt. Und zwar wirkt sie nicht deshalb, weil es im Rahmen der katholischen Kirche eine Beichte gibt, sondern genau umgekehrt. Weil der Glaube davon ausgeht, dass die göttliche Gnade überall auf der Welt wirksam ist, feiert sie diese Gnade in besonderen Ritualen, eben den Sakramenten.
Was nun die Beichte betrifft, so gibt es dafür ganz bestimmte Regeln und Vorschriften. Eine davon ist die aufrichtige Reue mit dem Vorsatz der Besserung, welche für die Wirksamkeit des Sakramentes von besonderer Bedeutung ist. Wenn jemand also glaubt, seine Seele rein zu waschen, indem er von Zeit zu Zeit zur Beichte geht, ist er nicht gut beraten. Ein wahrer Gläubiger ist sich dessen bewusst, und wird also entsprechend an sich arbeiten, weil er weiß, dass nur dieser Weg ihn zur Wahrheit und zum Licht führt.
Genauso hält ihn der eingefahrene Ritus davon ab, einmal die echte Berechtigung etwa eines Weihnachtsfestes zu überprüfen.
Hast Du das vermittels Deines selbständigen Denkens heraus gefunden? Gibt's nicht auch die andere Möglichkeit, dass er Weihnachten nicht aus einem eingefahrenen Ritus heraus feiert, sondern im Gedenken an die Geburt jenes Kindes, welches als Symbol für die göttliche Liebe und die Liebe zum Nächsten in der Krippe liegt?
Kann selbständiges Denken nicht auch dazu führen, dass man diese symbolische Idee als eine Heilslehre erkennt, deren Umsetzung der Welt und den Menschen nur Vorteil bringen kann? Und haben nicht unzählige Menschen gerade der verschiedenen Kirchen im Sinne dieser Idee gewaltige Werke der Hilfsbereitschaft und der Nächstenliebe geschaffen?
Kann das selbständige Denken nicht unterscheiden zwischen der Idee und ihren treulichen Befolgern, und stützt sich statt dessen auf jene fehlgeleiteten Menschen, welche diese Idee missbraucht und in ihr Gegenteil umgekehrt haben?
Verurteilt das selbständige Denken die Erfindung des Rades?
Oder die Erfindung des Automobils? Oder die Erfindung des Flugzeuges?
Verurteilt das selbständige Denken die Atomkraft an sich?
Nein. Selbständiges Denken verurteilt den Bau von Panzern, von Bombern und von Atombomben. Eben weil selbständiges Denken zu unterscheiden weiß zwischen der an sich guten Idee und dem, was die Menschen daraus gemacht haben. Aber eben nicht alle Menschen, sondern bezogen auf die Gesamtzahl eine eher verschwindend kleine Minderheit.
Warum ist diese Unterscheidung in weltlichen Dingen möglich? Warum kann man diese Unterscheidung nicht auch in Hinblick auf Religionen und Kirchen treffen?
Hat diese göttliche Idee, auch wenn sie wissenschaftlich nicht zu beweisen ist, nicht schon wesentlich mehr Mut und Einsatzbereitschaft gezeigt, wenn es darum gegangen ist, sich für Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und ähnliche Werte einzusetzen, und tut sie das nicht auch heute noch in allen Gegenden der Welt?
Was in der Bibel als Gleichnis oder als "Legende" geschrieben ist, wurde es nicht millionenfach von gläubigen Menschen gelebt und damit mit Leben versehen? Die ganzen getätigten Werke der Caritas oder Agape, alles Bezeichnungen für die gelebte Liebe zu anderen Menschen, das alles zählt nicht, weil es ein paar vermessene Kirchenfürsten gegeben hat, welche das Zeichen des Kreuzes missbraucht haben?
Zählt Schiller, zählt Goethe, zählt Schopenhauer, zählt Beethoven, zählt Schubert nicht, nur weil deren Völker auch einen Hitler, einen Goebbels, einen Heydrich hervorgebracht haben?
Was Du als selbständiges Denken bezeichnet wissen willst, ist gerade jenes Denken in eingefahrenen Bahnen, welches Du den gläubigen Menschen zum Vorwurf machst.
Überzeugt mich nicht einmal ansatzweise.