Nationen und ihr Wohlstand
Schlüssel zum Reichtum
Das hat sich lange keiner mehr getraut: Zwei US-Wissenschaftler versuchen mittels einer Großtheorie zu erklären, weshalb manche Nationen wohlhabend sind, andere das einfach nicht schaffen. Ein mutiges Unterfangen - und eine faszinierende Lektüre.
"Warum sind die Menschen in Afrika so arm?" Eine Frage, wie sie Kinder ihren Eltern stellen. Und zugleich eines der größten Rätsel der Menschheit. Für kaum etwas kennen Politikwissenschaftler und Volkswirte so wenige unstrittige Gründe wie für die ebenso hartnäckige wie extreme Ungleichheit zwischen den Staaten dieser Erde. Warum schaffen es manche Nationen über Jahrhunderte hinweg nicht aus bitterer Armut heraus - wie etwa Äthiopien - während andere Länder diesen Riesenschritt in wenigen Jahrzehnten schaffen - etwa Südkorea?
Dass es so wenig Antworten gibt, könnte daran liegen, dass viele Wissenschaftler aufgehört haben, sich die entsprechenden Fragen zu stellen. Das blieb den Kindern überlassen.
Vor allem viele Volkswirte beschäftigen sich heute statt mit den Unterschieden zwischen arm und reich lieber mit Inflationsraten im Euro-Raum oder dem US-Immobilienmarkt. Das verspricht schnellere Erfolgserlebnisse und mehr Anerkennung in der Fachwelt. Denn große Fragen erfordern große Antworten, und große Antworten können große Fehler bedeuten. Sie machen angreifbar.
Zu den wenigen Ökonomen, die keine Angst vor großen Antworten haben, gehört Daron Acemoglu, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Zusammen mit seinem Co-Autoren James Robinson, Politikwissenschaftler in Harvard, hat Acemoglu jetzt eine faszinierende Großtheorie über die Ursachen für die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum in der Welt vorgelegt.
Wobei es um die Faktoren, die den Wohlstand eines Landes dauerhaft mehren, in der Fachwelt relativ wenig Streit gibt. Entscheidend sind funktionierende gesellschaftliche Institutionen: unabhängige und faire Gerichte. Eine Verwaltung, die nicht allzu korrupt ist. Eine Regierung, die sich den Interessen des Volkes stärker verpflichtet fühlt als dem eigenen Wohlergehen. Schulen, in denen Kinder tatsächlich etwas lernen und nicht bloß verwahrt werden. Solche funktionierenden Institutionen schaffen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der Menschen einen Anreiz besitzen zu sparen und zu investieren, sich zu bilden und Innovationen hervorzubringen. Aus dieser Akkumulation von Kapital und Wissen entsteht dauerhaftes Wirtschaftswachstum.
Aber warum gelingt es einzelnen Staaten, diese Mischung über Jahrhunderte hinweg zu bewahren - etwa die Schweiz - während andere immer wieder bei dem Versuch scheitern, sie zu erreichen?
Acemoglu und Robinson gehen davon aus, dass der Wohlstand zwischen den Staaten bis zur industriellen Revolution verhältnismäßig gleichmäßig verteilt war. Afrikaner waren ähnlich reich wie Europäer und Asiaten oder besser gesagt: ähnlich arm. Doch dann begann sich das Wachstumskarussell zu drehen, zuerst Mitte des 18. Jahrhunderts in England, dann im übrigen Europa.
Aus kleinen Unterschieden werden große
Warum ausgerechnet in England? Weil, so die Autoren, sich über Jahrhunderte hinweg kleine institutionelle Unterschiede zwischen den Staaten herausgebildet haben. Ein Prozess, den Acemoglu und Robinson mit der Genmutation in der Natur vergleichen. Zunächst lassen sich diese Unterschiede kaum bemerken - bis es zu großen geschichtlichen Weichenstellungen kommt. Dann sorgen die kleinen Unterschiede dafür, dass Staaten gänzlich unterschiedliche Wege einschlagen.
Die Ursachen für Englands Pionierrolle bei der industriellen Revolution liegen demnach einige Jahrhunderte früher: In Großmächten wie Spanien wurde der Überseehandel unter dem Monopol des Königshauses betrieben, in England von selbständigen Kaufleuten. Diese selbständige Kaufmannschicht wurde allmählich enorm wohlhabend und verfügte so über das nötige Kapital, um Innovationen wie der Dampfmaschine oder der Eisenbahn zum Durchbruch zu verhelfen. In Spanien fehlte diese Kaufmannsschicht. Der Adel wiederum hatte kein Interesse, durch Innovationen seine eigene privilegierte Stellung auszuhöhlen.
Kleine Unterschiede zwischen Staaten führen in entscheidenden Momenten zu unterschiedlichen Weichenstellungen, und von diesem einmal eingeschlagenen Pfad wieder herunter zu kommen, ist dann sehr schwer. Wenn ein Staat einmal mit einer Elite geschlagen ist, die sich vor allem selbst bereichert - dann wird auch eine Revolution daran wenig ändern.
Und was ist nun mit der Kinderfrage? Warum sind so viele Menschen in Afrika arm, während andere Weltregionen die Kurve gekriegt haben? Kleine Unterschiede während der Kolonialisierung sehen die Autoren als Hauptursache: Dort, wo das Klima gemäßigt ist, besiedelten viele Europäer die Kolonien - und die lehnten sich auf, wenn die Statthalter der Kolonialmächte sich allzu ausbeuterisch gebärdeten. So entstanden zum Beispiel die USA. In tropischen Kolonien hingegen gab es meist nur eine kleine europäische Siedlerelite, die die einheimische Bevölkerung als Plantagen- oder Minenarbeiter versklavte. Hier konnten sich nie gesellschaftliche Institutionen herausbilden, die Wachstum begünstigt hätten. Das rächte sich nach der Entkolonialisierung: Die weiße Ausbeuterelite wurde in vielen Fällen lediglich gegen eine farbige ausgetauscht.
Religion und Kultur spielen keine Rolle
Aus diesem Teufelskreis wieder herauszukommen fällt schwer - ist aber möglich, wie einzelne Erfolgsgeschichten zeigen. Neben Südkorea (das von Japan besetzt war) zählt zum Beispiel auch Botswana zu den ehemaligen Kolonien, die heute mit funktionierenden Institutionen gesegnet sind.
Spannend auch, was Acemoglu und Robinson alles NICHT als Ursache für die Wohlstandsunterschiede zwischen Staaten akzeptieren: Weder Rasse noch Religion oder Kultur, aber auch nicht geographische Faktoren wie den Zugang zum Meer oder zu Bodenschätzen.
Im Detail sind viele der präsentierten Erkenntnisse über die Entwicklung einzelner Staaten nicht neu. Auch ihre Studie über die Folgen der unterschiedlichen kolonialen Besiedlungsmuster haben Acemoglu und Robinson bereits vor einem Jahrzehnt vorgelegt - und damals empirisch präzise belegt. Neu ist jedoch, wie die beiden Autoren all ihre Gedanken zu einer packenden (und zudem sehr gut lesbaren) Großtheorie zusammengebunden haben.
Einer der letzten Ökonomen, die sich das getraut haben, hieß Karl Marx - und die Welt streitet sich noch heute, ob er vor allem große Antworten geliefert oder große Fehler gemacht hat.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,824393,00.html