Wenn ich mir die Diskussion hier so ansehe, konkret die unten zitierten Beiträge, kann ich mir eine Frage an die Poster nicht mehr verkneifen:
Seht ihr Frauen als Freiwild für Männer an? Wollt ihr, dass Vergewaltigungen von Frauen straflos bleiben, weil eine geringe Möglichkeit besteht, dass ein Mann zu Unrecht beschuldigt wird? Solch eine Haltung gegenüber Frauen vertreten ja nicht einmal islamische Scharia Gerichte, für die zumindest in der Theorie Vergewaltigung traditionellerweise zu den hadd-Verbrechen zählt, die gegen göttliches Recht verstoßen und mit Steinigung, Amputation oder Auspeitschung bestraft werden (Mehdi, Rape in the Islamic Law of Pakistan, Int. J. Sociology Law, 1990, S 18-29).
pensionierter Richter an einem OLG erzählte [...], dass [...] hier [Vergewaltigung] wohl die allermeisten Fehlurteile ergehen
Zum Glück brauchen wir uns nicht auf Anekdoten von uns unbekannten Pensionisten verlassen, um zu erfahren, wie das Rechtssystem mit Vergewaltigungen und anderen Verbrechen gegen die sexuelle Integrität umgeht. Dieses Thema wurde 2009 von der London Metropolitan University im Rahmen eines EU-Projekts für mehrere Länder wissenschaftlich untersucht, darunter auch Österreich (Link zum
Bericht). Die wichtigsten Beobachtungen:
* Viele Frauen zeigen einen Übergriff gar nicht an, in 10 Prozent der Fälle erfolgte die Anzeige z.B. vom Arzt, der die Verletzungen behandelte. Offenbar sind viele Frauen noch unter dem Trauma gelähmt.
* In mehr als 1/3 der Fälle werden die Täter nicht ausgeforscht - sie bleiben eine Gefahr für die Gesellschaft.
* Von den identifizierten Beschuldigten wurden nur die Hälfte angeklagt: Polizei und Staatsanwaltschaft prüfen also peinlich genau eine Anschuldigung der Vergewaltigung, um falsche Beschuldigungen auszuschließen, was von manchen Opfern als zweite Vergewaltigung empfunden wird, weswegen fast 10 Prozent der Opfer nichts mehr mit den Behörden zu tun haben wollen und die Verfahren eingestellt werden.
* Die Fälle, die dann doch vor Gericht kommen, führten in etwas weniger als 2/3 der Fälle zu Verurteilungen. (Insgesamt führen nicht 2/9 = 22 Prozent, sondern nur 17 Prozent der Anzeigen zur Verurteilung - die obigen Zahlenangaben sind also "optimistisch gerundet".) Die im europäischen Vergleich höhere Rate an Verurteilungen deutet darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft gerade bei Vergewaltigungen niemanden leichtfertig anklagt (anders als bei politisch motivierten Verfahren, etwa "organisiertem Verbrechen"), sondern überzeugende Fakten vorliegen müssen: In 2/3 der Verurteilungen waren die Opfer verletzt, in der Hälfte der Verurteilungen handelt es sich um Wiederholungstäter. Die Strafen waren dennoch im europäischen Vergleich milde.
Aus dieser Studie ist auch die Zahl von 4% falschen Beschuldigungen. Im europäischen Vergleich ist das gering, weil Frauen offenbar bereits von der grundsätzlich skeptischen Polizei auf die Konsequenzen von Verleumdungen hingewiesen werden. Darüber hinaus ist nicht jede falsche Beschuldigung eine Verleumdung: Wenn eine Frau unter Drogen gesetzt wird, Sex zu tolerieren, so wird sie vielleicht aus ihrer subjektiven Sicht heraus eine Vergewaltigung anzeigen. Da dies aus der Sicht des österreichischen Rechtssystems keine Vergewaltigung ist (in anderen Staaten aber sehr wohl), beruht die falsche Beschuldigung auf einer verständlichen Fehlbeurteilung der Rechtslage. Bei erfundenen Vergewaltigungen wird nach anderen Studien zumeist ein unbekannter Täter angegeben.
Das Problem ist nicht die Verurteilung, gegen die kann man Rechtsmittel ergreifen [...] Das Problem ist die gesellschaftliche Ächtung
Die Gefahr der sozialen Ächtung des Beschuldigten ist gegeben, doch gibt es darüber Zahlen?
* Vielleicht ist die Ächtung des Beschuldigten auch berechtigt: Denn wenn 96 Prozent der Anzeigen keine falschen Beschuldigungen sind, aber dennoch von den ausgeforschten Beschuldigten (57 Prozent der Fälle) nur 30 Prozent verurteilt werden (die anderen werden nicht angeklagt oder freigesprochen), bleiben viele Fälle mit zweifelhaften Begleitumständen.
* Vielleicht ist die Ächtung auch nur eine Reaktion auf das Verhalten des Beschuldigten gegenüber dem Opfer: Eine erfolgreiche Verteidigungsstrategie ist der Vorwurf an das Opfer, sich nicht genug gewehrt zu haben. Dazu werden die Opfer vom Täter als lose Flittchen hingestellt, die auf härteren Sex stehen - somit werden durchaus auch die Opfer, gerade in kleinen Dörfern, der Gefahr der Ächtung ausgesetzt. Wer sich mit dem Opfer gegenüber solchen Angriffen solidarisiert, wird wohl nicht gleichzeitig Sympathien für den Beschuldigten hegen.
* Vielleicht ist der Beschuldigte von vorne herein ein übler Typ, der schon immer sozial geächtet war, aber sich im Nachhinein als Justizopfer geriert, der wegen einer "Nutte", die ihm übel mitgespielt habe, seinen Job beim Großonkel dieser "Nutte" verloren hat.
Grundsätzlich sollte bei aller Sympathie für ungerechtfertigt Beschuldigte auch das Trauma des Opfers durch die Vergewaltigung nicht vergessen werden. Verbrechen gegen die sexuelle Integrität deshalb nicht zu verfolgen, oder nur auf krasseste Fälle kurz vor Sexualmord zu beschränken, um die Stigmatisierung für Beschuldigte zu verhindern, erscheint mir eine einseitige Übergewichtung der Interessen der potenziellen Beschuldigten zu Lasten der potenziellen Opfer. Gerade das Argument, dass Vergewaltigungsopfer lügen, um Männer zu erpressen oder ihnen aus einem anderen Grund Schaden zuzufügen, weswegen die Opfer eindeutige Beweise vorlegen müssen, ehe ihnen geglaubt wird, ist im Grunde sexistisch. Es führt uns näher an die Unsitten der Taliban, die einen leugnenden Vergewaltiger erst verurteilen (dann allerdings streng), wenn vier gläubige Muslims die erzwungene Penetration der Frau mit eigenen Augen beobachtet haben - das Zeugnis von Frauen (also auch des Opfers) oder gar von Ungläubigen gilt nicht. (Trotzdem sind Vergewaltigungen in Stammesgesellschaften seltene Ausnahmen, weil Täter wissen, dass sie einen bewaffneten Konflikt um die verletzte Familienehre auslösen.)
Postskript, nachdem @Steirerbua meine Ansichten in diesem Thread mit denen im Thread "Hobbyhuren und unliebsame Polizeikontakte" vergleicht und Widersprüchlichkeiten vermutet: Beim Vergewaltigungsthread ist neben dem Staat und dem Beschuldigten auch das Opfer zu berücksichtigen und ein fairer Ausgleich zwischen allen drei Interessen zu finden. Das ist heikel, wie dieser Thread zeigt. Meine Diskussionsbeiträge zielen darauf ab, die Interessen der Opfer nicht zu vergessen. Beim Hobbyhurenthread geht es hingegen nur um das Verhältnis zwischen Hobbyhure und Staat. Zwar ist auch dort ein fairer Interessensausgleich gefordert, doch das Problem ist wesentlich einfacher, weil es sich um die klassische Menschenrechtskonstellation handelt.