Spiegel-Artikel:
Ein Protestbrief von Geneviève Hesse
Liebe Freier,
wie kann man eine Penetration bezeichnen, die nur Sie begehren? Wie soll man Sex nennen, dem Ihr Gegenüber aus Not und gegen Geld zustimmt? Das Gesetz in Deutschland spricht von einer »sexuellen Dienstleistung«. Französische Feministinnen nennen diese Dienstleistung »viol tarifé«, eine tariflich vereinbarte Vergewaltigung.
Glauben Sie ernsthaft, eine Frau könne Lust haben, mehrmals am Tag durch Fremde penetriert zu werden? Fakt ist: Häufig braucht sie schlicht Geld, hat Angst vor der Gewalt ihres Zuhälters oder ist so gebrochen, dass sie sich nicht wehren kann. Außerdem kann Ihre schlechte Bewertung sie das Leben kosten.
Liebe Freier, laut Studien oder Befragungen wie der von Melissa Farley, einer amerikanischen Psychologin, nehmen die meisten von Ihnen wahr, dass Prostituierte leiden. Die Leistung wollen Sie trotzdem. Warum ist das so? Törnt es Sie insgeheim an, dass die Frau so tun muss als ob? Glauben Sie in echt, Sie seien ein toller Liebhaber?
Mag sein, dass es Frauen gibt, die es lieben, sich zu prostituieren. Frauen, die zum Beispiel als Domina arbeiten. In Talkshows sind sie sehr präsent. Doch sie sind eine sehr kleine und laute Minderheit – höchstens zehn Prozent, schätzt der ehemalige Kriminalhauptkommissar Helmut Sporer
, der sich als Vorstand des Deutschen Instituts für angewandte Kriminalitätsanalyse (DIAKA) für eine Gesellschaft frei von Menschenhandel und damit verbundener sexualisierter Gewalt einsetzt. Er als Fachmann schätzt, dass rund 90 Prozent der Prostituierten in den Fängen von Zuhältern stecken. Frauen, die Freier wie Sie anlächeln, weil sie es müssen. Nicht, weil sie es wollen.
»Sexarbeit« ist ein von der milliardenschweren Sexindustrie erfundenes Unwort. Aussteigerinnen berichten, wie schwer es war, die durch Sie erlittene Trauma zu überwinden. Rachel Moran in Irland, Rozen Hicher in Frankreich, Sandra Norak und Huschke Mau in Deutschland – sie sind die glaubwürdigen Stimmen vom Gros der Prostituierten, die selbst keine Stimme erheben können.
Kann Prostitution wirklich Arbeit sein? Laut der französischen Hilfsorganisation The Coalition for the Abolition of Prostitution (CAP International) steigen die »Sexarbeiterinnen« im internationalen Durchschnitt mit 14 Jahren in das Gewerbe ein – in Deutschland mit 19. Ihre Lebenserwartung liegt bei 40 Jahren, und ein Drittel von ihnen ist minderjährig. Laut Schätzungen des Bundesfamilienministeriums haben rund 80 Prozent der angemeldeten Prostituierten hierzulande keine deutsche Staatsangehörigkeit. Sucht und posttraumatische Belastungsstörungen, aber auch Narben, Knochenbrüche und Inkontinenz gehören zu ihrem Alltag. Vielfach treiben sie ab – Ihre Kinder übrigens.
Als Kunde sind Sie König. Für die von Ihnen gewünschte Ware sorgen Zuhälter. Wundert es Sie wirklich: Zu wenige Frauen wollen gerne Sex verkaufen. Also werden welche belogen und nach Deutschland gelockt. Lange dachte ich, Freier wie Sie seien einsame, arme Schlucker. Bis ich auf dem Blog »Die unsichtbaren Männer« las: Mindestens die Hälfte von Ihnen ist in einer festen Beziehung und hat die Hochschulreife. Fast die Hälfte von Ihnen sind Väter. Ihre Frauen und Kinder ahnen nichts.
Mit der Legalisierung der Prostitution im Jahr 2002 träumte Deutschland davon, »Sexarbeit«, »sexuelle Dienstleistungen«, tariflich vereinbarte Vergewaltigungen oder wie auch immer man den Handel mit Sex nennen möchte, ließen sich sauber organisieren. Heute ist Deutschland zu einem Eldorado für Menschenhändler und einem Magnet für Sextouristen geworden. Am Berliner Flughafen stehen manche Taxis mit Werbung für eine männliche Wellnessoase, an der deutsch-französischen Grenze eröffnen neue Bordelle.
Auf der anderen Seite vom Rhein riskieren Freier wie Sie seit 2016 vierstellige Geldstrafen ab 1500 Euro – in erschwerten Fällen auch Haftstrafen. Das Justizministerium sensibilisiert Sie in Pflichtworkshops für die Gewalt in der Prostitution. Ist Frankreich auf den Kopf gefallen? Auch Schweden seit 1999 und später sechs weitere Länder verfolgen das sogenannte »Nordische Modell«: Norwegen, Island, Kanada, Nordirland, Irland und Israel. Auch dort sind Freier strafbar – Prostituierte hingegen straffrei, auch wenn sie sich weiter verkaufen. Wollen sie aussteigen, bekommen sie Hilfen. Die Bevölkerung wird aufgeklärt. Laut einer Ipsos-Umfrage aus dem Jahr 2019 befürworten 78 Prozent der französischen Bevölkerung das Nordische Modell.
Prostitution gilt dort als die letzte abzuschaffende Bastion des Patriarchats. Am Anfang fand ich es zu dick aufgetragen. Dann fiel mir ein: Nirgendwo auf der Welt gibt es Etablissements mit verarmten, attraktiven, nackten Männern, die auf erregte Kundinnen jeden Alters warten. Prostitution ist zutiefst gegendert. So gut wie alle Käufer sind Männer, die Prostituierten mehrheitlich Frauen.
Vielleicht kann man das Nordische Modell als Vorreiter der #MeToo-Bewegung bezeichnen. Ob Klaps auf den Po oder schiere Gewalt – der Missbrauch im Tausch gegen Geld, Aufstieg oder Auftrag ist passé. Prostitution gehört zur Rape Culture. Sie sind out!
Vermutlich argumentieren Sie jetzt, Prostitution ließe sich nicht abschaffen. Ja, es wird immer Männer wie Sie geben, die vulnerable Frauen ausbeuten. Mord und Raub lassen sich auch nicht ganz abschaffen – trotzdem sind sie verboten. Das Nordische Modell packt das Übel – Sie! – an der Wurzel. Das Hauptziel ist, dass Sie weniger werden. So geht der Menschenhandel und die Zahl der leidenden Prostituierten zurück. Denn das Angebot bestimmt Ihre Nachfrage.
Deutschland hat einiges nachzuholen. Schon 1946 schloss Frankreich seine Bordelle. Heute gibt es dort geschätzt nur 35.000 Prostituierte, in Schweden rund 1000 - in Deutschland bewegen sich die Schätzungen zwischen 90.000 und 400.000. Von ihnen waren 2020 laut dem Statistischen Bundesamt nur 24.900 Prostituierte offiziell angemeldet. Alle anderen befinden sich in einem riesigen Dunkelfeld – unter dem Deckmantel der Legalisierung.
Viele Menschen denken hierzulande immer noch, liberale Gesetze wie das in Deutschland könnten für saubere Bordelle und gut sitzende Kondome bis ins Altersheim sorgen. Sogar manche Feministinnen schwärmen von »Sexarbeit« als Ausdruck von »my body, my choice« für junge Frauen aus dem verarmten Osteuropa oder aus Afrika. Das Nordische Modell hingegen befördere einen Rutsch in die Illegalität.
Meinem Eindruck nach macht die Legalisierung Prostituierte erst recht hilflos, weil sie Ihre Gewalt bei jedem Sexkauf negiert. Die Wiederholung von ungewollten Penetrationen ist das, was Frauen traumatisiert. Ob legal oder illegal, ob im Edelbordell oder auf dem Strich – die Risiken sind inhärent. Die Liberalisierung verkennt das, facht die gruseligsten Auswüchse Ihrer Nachfrage auch noch an. Das Nordische Modell ist emanzipatorisch, weil viele Frauen aussteigen oder erst gar nicht einsteigen. Außerdem sendet es die zivilisierte Botschaft aus: Der menschliche Körper ist nicht zu kaufen!
Millionen könnte der deutsche Staat durch Strafen gegen Freier wie Sie verdienen. Großzügige Ausstiegshilfen und Therapien für Prostituierte wären finanzierbar. Lange genug sind Frauen Ihre Opfer gewesen.