Von Melisa Erkurt, Fotos: Marko Mestrovic
„Das ist
haram!“, ruft die halbe Klasse im Chor als Antwort auf meine Frage, weshalb sich ein Junge über den V-Ausschnitt seiner Klassenkollegin aufregt. Was genau daran
haram ist, möchte ich wissen. Mensur*, der 14-Jährige, der seine Klassenkollegin Merve* aufgefordert hatte, ihren Ausschnitt zu bedecken, erklärt es mir ganz selbstverständlich: „Es ist ihre Sache, wie sie sich anzieht, aber wenn ich da hinschaue und ihren Busenschlitz sehe, ist das
haram. Dann sündige ich wegen ihr.“ Mensurs Sitznachbar lacht: „Ja,
haram, Bruder!“
Natürlich wusste ich schon vor Mensurs Antwort, was die Klasse mit
haram meint. Als Muslima kenne ich den Begriff.
Haram ist ein arabisches Adjektiv und beschreibt all das, was laut der Scharia verboten ist. Wer etwas tut, was als
haram definiert ist, der begeht eine Sünde. Das Gegenteil von
haram ist
halal, also „erlaubt“. Aber dass
haramabseits von Glaubensschriften mittlerweile seinen Weg in die Jugendsprache gefunden hat, war mir noch vor ein paar Monaten nicht bewusst.
In den letzten Wochen war ich an verschiedenen Wiener Schulen und habe mit dem biber-Schulprojekt „Newcomer“ jeweils in einer Woche versucht, einer Klasse einen Einblick in die mediale Welt zu gewähren, Rollenbilder zu hinterfragen und Trends zu diskutieren. Dieses Semester habe ich mit circa 120 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren zusammengearbeitet. Die Schulen, an denen ich war - von NMS bis AHS und BHS - gelten größtenteils als „Brennpunktschulen“. Der Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist hoch, die meisten kommen aus bildungsfernen Elternhäusern – diesmal waren besonders viele Jugendliche aus muslimischen Familien dabei. SchülerInnen mit diesem Background sind nicht neu für mich. Seit zwei Jahren bin ich nun schon mit dem „Newcomer-Projekt“ in Wiener Schulklassen unterwegs. Ich habe über engagierte LehrerInnen und talentierte SchülerInnen geschrieben. Aber auch über Frauenfeindlichkeit und über Chancenlosigkeit aus diesen Klassenzimmern berichtet. Ich dachte, mich könnte eigentlich nichts mehr verwundern, aber da habe ich die Rechnung ohne „Generation
haram“ gemacht.
Ich möchte von Mensur und den anderen SchülerInnen, die scheinbar so genau darüber informiert sind, was im Islam verboten ist, wissen, wofür der Islam eigentlich steht. Ich bekomme keine Antwort. Diese Situation wiederholt sich in fast jeder Klasse. Auf die Frage, wer gläubig ist, zeigen meistens alle muslimischen Schüler auf. Will ich von ihnen wissen, was den Islam ausmacht, was er vermitteln soll, herrscht Stille. Frage ich die Jugendlichen aber, was
haram oder
halal bedeutet, antworten sie brav.
Auswendig lernen
Alles, was sie über den Islam wissen, haben sie auswendig gelernt. Kein Wunder, funktioniert so in manchen österreichischen Schulen der islamische Religionsunterricht: Suren auswendig lernen. In ein paar Fällen sogar nur auf Arabisch. SchülerInnen die kein Arabisch sprechen, verstehen also gar nicht, was sie da nachsagen. Aber auch wenn sie die Suren in einer Sprache, die sie können, lernen, so hinterfragen sie die Bedeutung nicht immer – die SchülerInnen geben oft nur wieder, was sie gelernt haben, ohne zu reflektieren. Und weil sie im Islamunterricht oft nur Suren lernen, suchen sie die restlichen Informationen zum Islam eben wahllos aus dem Internet zusammen oder informieren sich im Freundeskreis.
Nach Schulschluss setze ich mich in eine Shisha-Bar. Eine Frau alleine Wasserpfeife rauchend in einer Bar,
haram würden meine Schüler sagen, die mir zuvor erklärt hatten, dass Shisha rauchen für Frauen
haram ist, es schaut zu lasziv aus, wenn sie die Wasserpfeife zum Mund führen und den Rauch ausblasen. Tatsächlich sind an dem Tag nur Männer zwischen 16 und 25 in der Shisha-Bar. Alle stylisch gekleidet mit Frisuren und getrimmten Bärten als kämen sie frisch vom Barbier. Dem Äußeren nach zu urteilen moderne Burschen. Ich frage eine Gruppe von vier jungen Männern, ob sie den Begriff
haram kennen und verwenden. Sie lachen. Einer von ihnen, Mert*, zückt sein Handy und zeigt mir die letzte Konversation in einer seiner WhatsApp-Gruppen: „Haraaaam“ steht da unter einem Foto von einer Frau im Bikini. Mert nimmt einen Zug von seiner Shisha, im Hintergrund läuft das Lied „Shisha Bar“ von zwei deutsch-türkischen YouTubern. „Schau dir mal das Musikvideo von denen auf YouTube an“, sagt Mert. Unter dem Video, in dem Frauen leicht bekleidet tanzen, stehen unzählige „haram“–Kommentare in Bezug auf das freizügige Erscheinungsbild der Frauen.
Mert und zwei andere aus der Gruppe sind Muslime. Ob sie gläubig sind, frage ich sie, alle drei nicken. Einer von ihnen, Halil*, fügt hinzu: „Leider bin ich nicht strenggläubig, so wie es sein sollte. Dafür ist die Verlockung hier in Österreich einfach zu groß. Aber eines Tages werde ich es sein“, sagt der 19-Jährige. Mit Verlockung meint er Alkohol, Partys und Frauen. Sein Freund Goran* lacht. Der gebürtige Kroate ist fast nur mit Muslimen befreundet. Er beobachtet in den letzten Jahren einen Anstieg der Religiosität innerhalb seines Freundeskreises: „Ein paar meiner Freunde, für die Religion nie ein Thema war, sagen auf einmal, sie widmen ihr Leben jetzt Allah.“ Ich möchte von ihm wissen, ob er eine Vermutung hat, woher der plötzliche Wandel kommt. „Auf jeden Fall durch das Internet. Vines, Memes, YouTube-Videos – Islam ist überall ein Thema. Früher haben viele meiner Freunde nicht einmal erwähnt, dass sie Muslime sind, heute leben sie ihren Glauben offen, weil es durch das Internet und Deutsch-Rap cool geworden ist, Moslem zu sein.“
Deutschrap & Social Media
Halil stimmt ihm zu. Er und seine Freunde hören am liebsten Deutschrap von Kollegah, Bushido und Alpa-Gun. Bushido und Alpa-Gun sind von ihrer Herkunft her Muslime, Kollegah ist mit 15 zum Islam konvertiert. In Interviews spricht er über den Islam – offen, verständlich und lässig – das kommt bei den Jugendlichen an. Der 32-jährige Kollegah rappt aber auch über „Fotzen“ und „ficken“ und die Jugendlichen feiern ihn, weil er Moslem ist. Dass seine Songtexte gar nicht zu einer religiösen Haltung passen, spielt keine Rolle.
„Kollegah ist harmlos. Aber es gibt radikale Prediger wie Pierre Vogel, von dem lassen sich Jugendliche beeinflussen. Wenn die mit 12 Jahren schon Zugang zum Internet haben, ist das ein Problem. In dem Alter wissen die nicht, was richtig oder falsch ist“, erklärt mir Halil. Ob Kollegahs Songtexte harmlos sind, darüber lässt sich streiten – dass der deutsche salafistische Hassprediger Pierre Vogel, der unter anderem von Muslimen verlangt für den Islam zu sterben, gefährlich ist, steht jedoch fest. Auf YouTube, eine der beliebtesten Sozialen Plattformen der Jugendlichen, kann sich jeder seine Predigten anhören - vom 14-jährigen Teenie der in einer Identitätskrise steckt, bis hin zum 16-jährigen Schulabbrecher ohne Perspektive.
Radikalisierung
Soziale Netzwerke wie YouTube sind zur wichtigsten Informationsquelle für Jugendliche geworden. Dass man in dem Alter besonders schwer zwischen normal islamischen und radikal islamistischen Inhalten differenzieren kann, könnte beim Thema Religion gefährlich werden.
Wie gefährlich zeigt eine im Oktober veröffentliche Studie der Stadt Wien, die die Bereitschaft zur islamistischen Radikalisierung von Jugendlichen in Wiener Jugendzentren untersucht hat – mit erschreckenden Ergebnissen. Konkret sollen 27 Prozent der muslimischen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahre, die von Jugendarbeitern betreut werden, gefährdet sein, sich zu radikalisieren, so die Studienautoren Kenan Güngör und Caroline Nik Nafs. 57 von 214 befragten muslimischen Jugendlichen vertreten unter anderem Meinungen wie: „Religiöse Gesetze sind wichtiger als die österreichischen Gesetze ... Die islamische Welt soll sich mit Gewalt gegen den Westen verteidigen ... Es soll im Namen der Religion getötet werden dürfen“.
Wieso gerade Jugendliche anfällig für Radikalisierung sind, liegt auf der Hand: Identitätskrise während der Pubertät, Rebellion aber auch ein verstärktes Dazugehören-Wollen prägen die Teenager-Zeit.
Dazugehören wollte auch Florian*, ein Freund von Halil, der mit 18 zum Islam konvertiert ist, weil alle seine Freunde Muslime sind. Dass er nach wie vor Alkohol trinkt und den anderen „Versuchungen“ wie Halil sie nennt, nicht widerstehen kann, ist nicht weiter schlimm für die Freunde, Hauptsache er ist jetzt auch einer von ihnen. „Inshallah, werden wir eines Tages nach dem Koran leben“, sagt Mert tröstend und nimmt einen Schluck von seinem Bier. Nachher ist er mit seinen Freunden im Wettbüro verabredet.
„Haramstufe rot“
Zurück in der Schule schauen sich die Jugendlichen in der Pause einen Sketch auf Facebook an, in dem ein junger Mann eine junge Frau in den Kofferraum sperrt, weil sie fälschlicherweise behauptet hatte, Jungfrau zu sein. Die Burschen lachen über das Video, die obligatorischen „oha –
haram!“ Rufe gehen durch die Reihen, als rauskommt, dass die junge Frau aus dem Video keine Jungfrau mehr ist. Die Mädchen lächeln verlegen. Ich frage die Mädchen, die sich bisher wenig zu dem Thema
haramgeäußert haben, ob und in welchem Zusammenhang sie den Begriff verwenden. „Wenn meine Freundin einen kurzen Rock oder bauchfrei trägt, sage ich im Spaß
haram zu ihr“, erzählt die 16-jährige Dilan*.
Sie und ihre Freundinnen haben einige
haram-Wortspiele auf Lager: „Machst du kein haram, ist alles tamam (in Ordnung)“ oder „haramstufe rot“ sind Sätze die unter den Freundinnen häufig fallen – aber nur im Spaß, versichern sie mir. Ob sie das Gefühl haben, dass ihre männlichen Klassenkollegen die
haram-Äußerungen auch nur lustig meinen? „Nein! Sie wissen immer, was für uns Mädchen
haram ist: Shisha rauchen, Ausschnitt zeigen - neulich hat einer in Biologie
haram gerufen, als unsere Lehrerin über die Menstruation gesprochen hat“, sagt Dilan.
Ich frage eine Lehrerin, wie sich solche vermeintlichen Tabus auf den Schulalltag auswirken. Sie erzählt mir, dass in den letzten Jahren die Zahl der Nichtschwimmerinnen unter ihren Schülerinnen enorm gestiegen ist. Sie kann mit den Klassen keinen Ausflug ins Schwimmbad machen, weil die Mädchen nicht schwimmen können oder nicht dürfen – sich im Bikini vor Männern zu zeigen ist nämlich
haram.
Mädchen wie Merve, die aus einem modernen muslimischen Elternhaus stammen und von ihren Eltern aus auf jeden Fall mit ins Schwimmbad gehen dürften, trauen sich trotzdem nicht: „Die Jungs würden schlecht über mich reden und bestimmt Fotos von mir im Bikini rumschicken“, sagt die 15-Jährige. Auf der letzten Schullandwoche hat ein Klassenkollege Merves Kleidungsstil kommentiert. „Er hat gesagt, es wäre
haramsich als Muslima so zu kleiden. Dabei hatte ich nur Jeans und ein etwas engeres T-Shirt an.“
Screenshot
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Ein männliches Problem
Meine Gespräche mit den Jugendlichen zeigen mir, dass es mehrheitlich die Burschen sind, die im Namen der Religion Verbote für andere erstellen und so das Leben ihres (weiblichen) Umfelds einschränken. Auch die Studie der Stadt Wien macht deutlich: Radikalisierung ist männlich. Doch diese männlichen Jugendlichen, vor denen sich zur Zeit viele fürchten, haben in Wirklichkeit keine Ahnung von dem was sie sagen. Sie tun ja nicht einmal selber das, was sie predigen. Sie widersprechen sich in allem, was sie sagen – denn sie sagen es nur, um cool zu sein.
Ich habe das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit die Mädchen beneiden, die die besseren Noten haben, die blühenderen Zukunftsaussichten, die keinen auf „harten Kerl“ machen müssen. Die Mädchen, die sich so gut integrieren konnten und an ihnen vorbeiziehen. Wenn ich die SchülerInnen frage, was sie mal werden wollen, antworten die Mädchen „Ärztin“ oder „Anwältin“, die Buben grinsend mit „AMS“ oder „Bombenleger“ – sie wissen, dass sie nicht mithalten können und kontern mit Provokation, veralteten Rollenbildern und gefährlichen Verhaltensvorschriften.
Islam ist Macht
Sie, die Burschen, die Fünfer schreiben, durchfliegen, schief angeschaut werden, wollen sich zumindest in einem Punkt mächtig fühlen. Sie haben erkannt, dass die Leute Angst vor dem Islam haben. Sie stellen ihren Handyklingelton in „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) Rufe um und genießen die verängstigten Blicke der anderen in der U-Bahn, wenn ihr Handy klingelt. Sie posen auf jedem ihrer Profilfotos mit dem angehobenen Isis-Zeigefinger. Sie teilen die Anti-Islam Posts der FPÖ und lesen stolz die Hass-Kommentare von Strache-Fans.
Sie wissen, da draußen gibt es hunderttausende Erwachsene die sie am liebsten abschieben würden, weil sie Angst vor ihnen - ein paar Teenagern - haben. Der Islam steht für sie für die Macht über die Ängste der anderen und sie wollen mächtig sein in einer Gesellschaft, in der sie sowieso schon als Verlierer gelten, die sie abgeschrieben hat, die ihnen eh nichts mehr zutraut außer den Weg in den Dschihad.
Problem ansprechen
So wie die Studie der Stadt Wien gibt auch dieser Bericht nur einen Überblick über einen kleinen Teil der muslimischen Jugendlichen in Wien. Aber er zeigt einen Trend auf, der sich schnell verstärken könnte, wenn nicht bald etwas geschieht. Wenn nicht deutlich mehr Geld für Sozialarbeiter in Schulen und Jugendprojekte gesteckt wird, aber auch, wenn es von Seiten der muslimischen Vertreter kein echtes Eingeständnis dafür gibt, dass es dieses Problem gibt und der Islam damit auch mitten in Österreich die Unterdrückung von Frauen und Verachtung von Andersdenkenden legitimiert.
Ja richtig, es ist nur ein kleiner Teil der Jugendlichen, die so drauf sind. Aber diese Gruppe von pseudo-religiösen Jung-Machos wird größer, einflussreicher und damit gefährlicher. Und ja richtig, natürlich ist die Mehrheit der muslimischen Jugendlichen nicht so drauf. Aber es gibt solche Jugendliche und dieses wachsende Problem müssen wir als biber-JournalistInnen ansprechen, ansonsten missbrauchen rechte Parteien diesen Zustand für ihre politischen Zwecke, obwohl ja gerade sie mit ihrer anti-muslimischen Hetze solche Teenager noch mehr antreiben.
Ob die Jugendlichen, die ich kennengelernt habe, Dschihadisten werden, bezweifle ich stark. Aber das ist ja auch kein Maßstab. So wie sie jetzt sind, müssen sie sich schon ändern. Und zwar schnell und deutlich. Denn pubertäre Großmäuler, die keinen Respekt vor Frauen und der österreichischen Gesellschaft haben, werden Erwachsene ohne Perspektive, die ihre Kinder genauso erziehen könnten. Und während der eine Teil der Gesellschaft diese Jugendlichen fürchtet, sie am liebsten abschieben würde, leugnet der andere Teil das Gefahrenpotential und die Jugendlichen bleiben wieder sich selbst überlassen und kreieren sich ihre eigene Welt – voll von Widersprüchen, Einschränkungen und ganz viel
haram.
*Namen von der Redaktion geändert
Generation haram | dasbiber.