In 37 Seiten habe ich nur 2 mal bemerkt, dass sich 2 Opfer kurz und zögerlich geoutet haben. Warum fällt es den Opfern nach Jahren noch so schwer darüber zu berichten?
Hitzige Diskussionen, Mitleid für die Opfer, Racheglüste, Paragraphenschlachten...... doch keiner hat jemals gefragt: wie fühlt sich so ein Opfer?
"Warum hat die Mutter nichts gemerkt"? - Beginne mal damit:
Ich war 3, als mein Stiefvater sich das erste Mal an mir verging. Es war meistens in meinem Kinderzimmer und meine Mutter wußte nichts davon. Mein Stiefvater sagte mir immer: Dass ist unser großes Geheimnis! Und ich dachte, dass ist was Besonderes, darauf darf ich auch noch stolz sein, dass er "so" aufmerksam zu mir ist.
Wenn mich meine Mutter fragte, was wir im Zimmer machten, sah ich in seine stechenden Augen und belog sie. Zum damaligen Zeitpunkt wußte ich nur, dass sie auch Einiges ertragen mußte, womit sie nicht glücklich ist. Ich dachte damals, dass ist nun mal so.
Als es mir anfing unangenehm zu werden und ich es ablehnte ihm ins Zimmer zu folgen, wurde er grantig. Endeffekt: Er schlug wieder meine Mutter, er trank noch mehr, er schimpfte noch lauter. Um des liebens Frieden Willen ertrug ich es.
Wenn meine Mutter mich in späteren Jahren wieder vorsichtig fragte (zwischenzeitlich hatte sie schon einen Herzinfarkt und war gesundheitlich dadurch angeschlagen) was wir im Zimmer machten, belog ich sie wieder. Mein Stiefvater hat mir ziemlich eingeschärft, was passieren würde, wenn ich ihr von unseren Geheimnis erzählen würde. (Sie würde sterben vor Aufregung-ich hätte Schuld daran, dann käme ich in ein Heim).
Einmal habe ich meiner Freundin davon erzählt, die meinte, dass sie sowas nicht machen müsse. 2 Tage später sprach mich dann deren Mutter an. Ich hatte Angst, dass sie meine Mutter informieren könnte und habe alles bagatellisiert.
Als ich 12 wurde und meine Tage bekam ließ er endlich von mir ab. Er wurde noch ärger in seinem Verhalten meiner Mutter und mir gegenüber und sie brachte dann endlich den Mut auf, egal wie schlecht es uns gehen würde, sich von diesem Mann zu trennen. Er verbot ihr in all den Jahren auch arbeiten zu gehen, auch das Essengeld, wenn er in den Dienst ging wurde abgezählt auf den Tisch gelegt. Er war in vielen Punkten ein miserables Arschloch, doch die Zeiten waren früher noch weit von Emanzipation entfernt.
Mühseligst raffte meine Mutter sich auf und wurde für die kurze Lebensdauer, die ihr noch blieb, eine selbstbewußte Frau.
Mein Stiefvater hat seine berufliche Karriere voll genossen und stand immer als der beste und tollste Mann da vor seinen Freunden und Kollegen.
Niemand, absolut niemand vermutete hinter dieser Fassade welch ein Unmensch sich dahinter verborgen hat.
Ich habe noch viele schlimme Dinge erleben müssen (Vergewaltigungen, 2 gescheiterte Ehen). Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass es einen Zusammenhang mit ihm und meinem weiteren Leben gab. Nach meinem Suizid wurde ich an einem Psychiater verwiesen. Einen Tag, bevor ich diesen aufsuchte, wollte ich meinem Peiniger noch einmal gegenüber stehen.
Alt, grau, verlebt, gezeichnet vom Alkohol stand er vor mir. Ich mußte nimmer raufschauen, er war nur mehr ein paar Zentimeter größer als ich. Die kalten Augen sind im geblieben, das dreckige Grinsen hatte er nicht mehr. Ich wußte, dass mir nun keine Gefahr mehr von ihm droht. Ich wollte ihm nur noch einmal gegenüberstehen und ihm ins Gesicht sagen, welches Schwein er in meinen Augen ist. Ober sich überhaupt bewußt ist, was er mir in all den Jahren angetan hat?
Ich wollte wissen, was er dabei dachte und fühlte, als er sich an mir verging. Ich habe ihm mein beziehungsmäßig gescheitertes Leben berichtet und ihm gefragt, ob er sich darüber im Klaren ist, dass er dafür die Verantwortung trägt?
Ich habe eine Stunde auf ihn eingeredet. Zu Beginn hat er alles beschönigt: "das war ja nicht so, ich kann mich gar nimmer erinnern". Nachdem ich mich noch an alle Details erinnern konnte, kam auch schön langsam bei ihm wieder Einiges hoch.
Ich habe ihn gefragt, ob er auch heute noch schweißgebadet munter wird, weil er Hände auf seinen Körper spürt? Ich habe ihn gefragt, wie oft er sich umdreht, wenn er duschen geht?
Und ich habe ihn gefragt, wie schwer es ihm fällt Vertrauen in einem Menschen zu finden. So schwer wie es mir fällt, weil ich doch nichts anderes wollte mit meinen 3 Jahren, als den Mann, den ich Papa nennen durfte meine kindliche Liebe schenken wollte und er sie für seine sexuellen und perversen Fantasien benutzte?
Es täte ihm heute leid und er werde mir zur Seite stehen, wenn ich Hilfe brauche. Warum ich ihm das jetzt unbedingt sagen mußte?
Weil ich mein Rucksackerl (der jahrelangen Belastung des Mißbrauchs) ihm umhängen wollte. Solle er sich doch seinen Rest des Lebens damit abschleppen.
Der Psychiater hielt eine Therapie für sinnvoll. Die Kosten konnte mein Stiefvater leider nicht übernehmen, er habe soeben eine Urlaub gebucht, ich müsse das verstehen......
Das Gefühl, der schönsten Zeit des Lebens bestohlen worden zu sein, schmerzt noch immer. Nie einfach so nackt herum laufen, weil es Sommer und heiß ist, ohne zu wissen, dass man vielleicht gleich wieder mitgehen muß. Duschen, einschlafen, lesend wo liegen, immer mit der Angst im Nacken, hoffentlich kommt er nicht....
Das Gefühl sich ständig duschen zu wollen, weil man glaubt schmutzig zu sein. Nicht sagen können, warum man heute nicht dies oder jenes mit Freunden spielen kann. (Wie auch, auf der Schaukel sitzen tut weh, Gummischnur hüpfen, Springschnur). Die eigene Mutter zu belügen, sich in Kindertagen schon mit der Verantwortung beladen einen Menschen zu schützen, nämlich der Mutter weitere Pein zu ersparen.
Kein Summe, kein Therapeut und auch keine Strafe für den Täter, kann so eine verletzte Seele wieder heilen. Egal wielange der Mißbrauch angedauert hat, er zieht sich bis ans Lebensende durch.
Ich habe lange gebraucht zu erkennen, dass Sex auch schön sein kann. Und es hat lange gedauert, bis ich erkannte, dass ich ein Recht dazu habe, zu bestimmen, wer meinen Körper berühren darf. Verstehen, werden diesen Satz nur diejenigen, denen selbes widerfahren ist.
Es hört nie auf, den selbst bei meinen Kindern wache ich mit Argusaugen über sie. Die Angst ist immer noch da.
Solange die Opfer sich als solche fühlen und weiterhin aus Scham schweigen, werden es Pädophile leichter haben weitere Opfer zu finden.
Auch ich brauchte lange Zeit um offen darüber zu reden. Vielleicht hilft es Anderen, schneller etwas zu bemerken, schneller einzugreifen oder noch besser es zu verhindern.......