Dr. Stephan Kokew hat in den Forschungen für seine Dissertation am Orientalischen Institut der Universität Leipzig ein wichtiges, bisher kaum beleuchtetes Teilgebiet innerhalb des Islams untersucht: Er befasste sich mit dem Stellenwert von Toleranz gegenüber anderen Glaubensbekenntnissen und abweichenden Lebensstilen. Dafür analysierte er über mehrere Jahre Schriften schiitischer Autoren aus unterschiedlichen muslimischen Regionen, die sich mit dem Begriff der anerkennenden Toleranz auseinandersetzten. Die Schiiten machen die zweitgrößte Strömung innerhalb des Islams aus.
Die Ergebnisse seiner Studie fielen sehr unterschiedlich aus: Während die Gesellschaft im Iran religiös eher tolerant ist, war dies in Saudi-Arabien häufig nicht der Fall. Kokew veröffentlichte seine Analysen kürzlich in dem Buch "Annäherung an Toleranz".
"Es ging mir um die Toleranz innerhalb des Islams sowie zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in religiösen, politischen und anderen Bereichen des Lebens", erklärt Kokew, dessen Dissertation von Prof. Dr. Hans-Georg Ebert vom Lehrstuhl Islamisches Recht an der Universität Leipzig wissenschaftlich betreut wurde. Er verglich Interpretationen aus dem Iran und Irak, Saudi-Arabien sowie Bahrein miteinander und kam unter anderem zu dem Schluss, dass es "vor allem im Iran jenseits der politischen und rechtlichen Ebene eine stark ausgeprägte religiöse Toleranz auf gesellschaftlicher Ebene gibt".
Dagegen sei diese in Saudi-Arabien innerhalb der untersuchten Länder am geringsten ausgeprägt. "Das Herrscherhaus dort ist sehr intolerant gegenüber der politischen Opposition. Man kann in Saudi-Arabien ein massives Problem bekommen, wenn man sich als Nicht-Moslem outet", erläutert Kokew, dessen Buch im Ergon-Verlag erschienen ist.
In anderen Ländern wie Syrien oder dem Irak habe es bis vor dem Ausbruch der Kriege trotz der diktatorischen Systeme eine große religiöse Toleranz gegeben, stellte der Islam-Experte fest. Jetzt sei in beiden Ländern der Terror an der Tagesordnung. Deshalb seien diese Staaten für radikale Gruppierungen wie der "Islamische Staat" (IS) eine leichte Beute. Das Hauptproblem hierbei ist seiner Ansicht nach die "Vormacht des politischen Islamismus", den Kokew als "Produkt der Moderne" bezeichnet.
Generell würden die Begriffe Freiheit und religiöse Toleranz in den meisten muslimischen Staaten nicht so ausgelegt wie in Deutschland. "In meinen Forschungen hat sich aber gezeigt, wie viele Grundlagen es in der muslimischen Tradition gibt, die Toleranz über Duldung hinaus als Repsekt und Anerkennung zulassen", resümiert er.
Kokew hatte im Jahr 2009 mit den Forschungen für seine Dissertation begonnen und diese im vergangenen Jahr abgeschlossen. Heute ist er an der Universität Erlangen-Nürnberg wissenschaftlich tätig.