1. Der Inzest-Paragraph 173 StGB wurde durch die Nazis eingeführt.
§ 173 existierte bereits im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 und hatte entsprechende Vorläufer in den Partikularrechten (PrALR, BayStGB etc.). Weiter entfernte Vorläufer von § 173 StGB sind die Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 und das Recht im Römischen Reich (”crimen incestus”).
Mit der Rassenideologie der Nazis hat der “Blutschande”-Paragraph unmittelbar nichts zu tun.
Schreibt man ihm allerdings heute den Zweck zu, die Erbverfassung der Bevölkerung vor Erbkrankheiten zu schützen, so gibt es durchaus eine Parallele: Das einzig andere Gesetz, das offen ein solches Ziel verfolgte, war das 1935 zur “Ausmerzung krankhafter Erbanlagen” erlassene Erbgesundheitsgesetz. Es wurde nach seinem formellen Fortgelten am 7.2.1986 vom Amtsgericht Kiel für verfassungswidrig erklärt.
2. Das Inzest-Verbot geht auf genetische Überlegungen zurück. Die Klassische Vererbungslehre nach Gregor Mendel gibt es erst seit 1896. Erst seit den 1930er Jahren ist sie in der Wissenschaft allgemein bekannt.Eines der ersten Inzestverbote hingegen gab es bereits mit dem Codex Hammurapi im alten Babylon des 18. Jh. v. Chr. — also weit vor den ersten philosophischen Überlegungen zur Vererbungslehre überhaupt, die Aristoteles 500 v. Chr. anstellte.
Inzestverbote gibt es selbst in manchen Gesellschaften, die sich des Kausalzusammenhangs zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft gar nicht bewusst sind.
Unverständlich wäre auch, weshalb der Mensch die endogame Fortpflanzung bei sich selbst als schädlich hätte erachten sollen, obwohl er seit Ende der Altsteinzeit erfolgreich Rückkreuzungsprozesse beim Anbau von Pflanzen und der Zucht von Tieren anwendet.
Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Inzestverbote mit soziologischer Zwecksetzung entstanden sind — namentlich, um das Erstarken einzelner Familien zu Lasten der Herrscher — bei denen Inzest oftmals die Regel war — zu verhindern.
3. Inzest schädigt die aus ihm hervorgehenden Kinder.
Menschen vor ihrer eigenen Geburt schützen zu wollen ist wohl die wahlweise unüberlegteste oder zynischste Argumentation überhaupt.
Ein “durch Inzest” behinderter Mensch wäre ohne Inzest nicht “gesund”, sondern nicht am Leben. Zu behaupten, man müsse Inzest allein schon im Interesse der Kinder unter Strafe stellen bedeutet, Menschen am Maßstab ihrer Erbanlagen zu messen. Genau diese Implikation “lebensunwerten Lebens” verbietet das Deutsche Grundgesetz in seiner Zentralnorm Art. 1 Abs. 1.
Konsequenterweise ist es in unserer Rechtsordnung daher beispielsweise auch verboten , einen Fötus allein wegen seiner zu erwartenden Behinderung abzutreiben.
Die Aussage, das menschliche Leben habe ausschließlich einen Wert an sich und sei darüberhinaus keinen Wertmaßstäben unterworfen kann man für eine Fiktion halten. Sie ist aber nunmal als Grundstein unserer Verfassung geltendes Recht. Und sie existiert nicht zuletzt zu dem Zweck, dass niemandem das Recht zugestanden werden soll, Maßstäbe für den Wert einzelner Menschenleben aufzustellen.
4. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Kind aus einer Inzestverbindung behindert wird beträgt 30/40/50/63,7 Prozent. Worauf sich solche Aussagen beziehen, sind Behinderungen, die auf rezessive Erbkrankheiten zurückgehen. Was die inzestuöse Fortpflanzung bewirkt, ist allerdings nicht etwa, solche Erbanlagen entstehen zu lassen:
Inzest erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Erbanlagen homozygot (”erbgleich”) werden. Weil beim Inzest die Erbanlagen der Eltern-Generation weitgehend ähnlich sind, wird es wahrscheinlicher, dass zwei rezessive Erbanlagen an derselben Stelle aufeinandertreffen, anstatt von einem dominanten Gen überlagert zu werden.
Durch Inzest erhöht sich also die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Erbanlagen, die bei den Eltern nur genotypisch existent sind, bei den Kindern zur Ausprägung im Phänotyp gelangen. Dies kann sowohl positive als auch negative Merkmale betreffen.
Welche Art von Merkmalen durch Inzest in der Kind-Generation verstärkt und ausgeprägt werden, hängt — wie bei jeder Art von sexueller Fortpflanzung — von der konkreten Beschaffenheit des elterlichen Erbguts ab. Zu beachten bei der Interpretation von Zahlen über “Behinderungsraten ” von Inzestverbindungen ist daher vor allem die Datenbasis:
Typischerweise führen inzestuöse Beziehungen vornehmlich in Kreisen von Minderbegabten zur Zeugung von Kindern. Auch sind es oft und gerade die intellektuellen Fähigkeiten der Eltern, die darüber entscheiden ob eine Inzestvaterschaft verschleiert wird — oder eben nach geltendem Recht vom Krankenhauspersonal direkt an die Staatsanwaltschaft gemeldet.
5. Inzest führt dazu, dass die Anzahl rezessive Erbkrankheiten im Genpool steigt.
Entstehen können Erbkrankheiten nur durch Mutation. Inzest hingegen vermag ausschließlich bereits in der Elterngeneration vorhandene rezessive Erbkrankheiten in der Kind-Generation zur Ausprägung zu bringen.
Überwiegender Inzest in einer abgeschlossenen Bevölkerungsgruppe würde die Anzahl rezessiver Erbanlagen im Genpool langfristig im Zeithorizont über mehrere Generationen sogar vermindern, soweit diese Anlagen bewirken, dass ihr Träger im Falle phänotypischer Ausprägung — sei es aus unmittelbar biologischen oder aus lediglich mittelbar soziologischen Gründen — an der eigenen Fortpflanzung gehindert wird.
6. Das strafrechtliche Inzestverbot schützt die Familie. Es ist höchst zweifelhaft, ob Staatsanwälte und öffentliche Strafprozesse wirklich dazu geeignet sind, Familien zu heilen.
Fraglich ist auch, ob nicht Inzest vielmehr Symptom einer bereits gestörten Familie ist als deren Ursache. Typischerweise fühlen sich nahe Verwandte in mikrosoziologischen Näheverhältnissen nicht voneinander sexuell angezogen. Dieses psychologische Phänomen (sog. Westermarck-Effekt) hat nichts mit einer angeblichen “angeborenen Inzestscheu” zu tun, sondern mit frühkindlicher Prägung.
Gerade bei Geschwistern, die getrennt voneinander aufgewachsen sind und bei denen mithin auch diese Prägung fehlt, stellt sich § 173 StGB nicht als Schutz der alten Familie dar, sondern als strafbewehrtes Verbot der Gründung einer neuen Familie.
7. Das strafrechtliche Inzestverbot schützt vor sexuellem Missbrauch. Seine Abschaffung hätte einen Dammbruch zu Lasten von Minderjährigen zur Folge. Es ist nicht ersichtlich, was die Abschaffung von § 173 StGB mit dem Auftreten von Beckenbodenproblemen zu tun haben soll…
Im Ernst:
§ 173 steht im Strafgesetzbuch im Abschnitt “Straftaten gegen Ehe und Familie”. Unter dem Titel “Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” sieht das Strafgesetzbuch hingegen vor allem die §§ 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen), 176 bis 176b (Sexueller Missbrauch von Kindern), 177 und 178 (Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung), 179 (Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen), 180 (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger sowie 182 (Sexueller Missbrauch von Jugendlichen) vor, die allesamt eine weitaus höhere Strafdrohung aufweisen als das Inzestverbot des § 173 StGB. Daher tritt die Strafbarkeit aus § 173 StGB bei den einschlägigen Vater-Tochter-Missbrauchsfällen, die sich manch einer beim Wort “Inzest” vorstellt, regelmäßig zurück. Man spricht dann von “qualifiziertem Inzest”.
Zur Anwendung kommt § 173 StGB ausschließlich in jenen Fällen, in denen es sich entweder um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen Verwandten handelt, oder um Inzest zwischen Geschwistern, bei denen der jüngere Partner mindestens 16 Jahre alt ist und der Beischlaf im gegenseitigen Einvernehmen vollzogen wird. Und das sind ca. 5-10 Fälle pro Jahr. Bundesweit.
Das Inzestverbot des § 173 StGB schützt also im Ergebnis niemanden vor ungewolltem Sex. Es bestraft nur für Gewollten.
8. Wenn § 173 StGB fällt wird es mehr Minderbegabte in Deutschland geben. § 173 StGB ist eine in ihrer Durchsetzung höchst ineffiziente Vorschrift. Strafverfahren auf ihrer Grundlage kommen praktisch nur durch Denunziation oder durch ausgesprochen naives Verhalten der Beteiligten in Gang. Schon heute spielt § 173 StGB in der Strafrechtspraxis kaum noch eine eigenständige Rolle.
Dass Menschen, die sich bislang nicht von ihren nächsten Verwandten sexuell angezogen gefühlt haben, ihre Einstellung ändern, nur weil sie nicht mehr mit Gefägnisstrafe rechnen müssen ist denkbar unwahrscheinlich. Alles andere würde schließlich implizieren, dass sich die Menschen in Deutschland derzeit nur durch die Strafdrohung von hemmungslosem Inzest abhalten lassen.
In Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Portugal, der Türkei, Japan, Argentinien oder auch Brasilien ist Inzest seit Jahrzehnten, teilweise seit Jahrhunderten straflos. Folgen: Keine.
9. Alles, was hinter § 173 StGB steht, ist das persönliche Ekelgefühl von Menschen aus intakten Familien vor Inzest und der Gedanke: “Das war doch schon immer so!”. Ja, sieht ganz so aus.
10. Wenn die Verfassungsbeschwerde durchgeht — darf ich dann als nächstes meinen Hund heiraten?
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Strafvorschrift § 173 StGB, weil es unverhältnismäßig ist, Menschen wegen eines nicht sozialschädlichen, in ihrer Intimsphäre stattfindenden Verhaltens ihrer Freiheit zu berauben.
Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Eheverbot des § 1307 BGB ist nicht angedacht und hätte — weil die Ehe ein norm- und kulturgeprägtes Rechtsinstitut ist — auch kaum Erfolg.