Um die Debatte vielleicht wieder einen Schritt voranzubringen, einiges noch einmal zu nennen, zusammenzufassen, und als Basis für weitere Betrachtungen:
Zivilisation verstehe ich als eine Art Dressur und Gratwanderung der menschlichen Bedürfnisse, Triebe und Motive:
Natürlich könnte man hergehen, alle Regeln abschaffen und wie man so schön sagt: der Natur ihren Lauf lassen.
Aber was wäre das Ergebnis? Wahrscheinlich Anarchie und Faustrecht in ihren blutigsten Formen. Was bereits erklärt, warum es keine Kulturen gibt, bei denen das der Fall ist = sie haben sich schlicht und einfach ausgemendelt.
Man kann also annehmen, daß die frühen Hominoiden, nein: eigentlich schon Primaten und andere Säugetiere mit Gruppenbildung, irgendwie verstanden/gespürt haben, daß eine Gruppe mit Regeln besser und länger funktioniert, und so wurden verschiedenste Regelwerke und Verhaltensweisen ausprobiert und erarbeitet, angefangen bei Befehlshierarchien (Alphatiere) über Arbeitsteilung (jeder nach seinen Fähigkeiten), Verhalten im Alltag (Hackordnung, Empathie, Familienleben, Partnerschaften...) bis hin zum banalen Recht/der Gelegenheit zur Fortpflanzung.
Womit wir wieder beim Hauptthema wären: Angenommen, sämtliche Sittenregeln wären abgeschafft, und zwar im Alltag, nicht nur in geschützten "Räumen" wo wiederum eigene Regeln herrschen, was wäre die reale Konsequenz?
Einerseits haben wir da das Dilemma der sexuellen Selbstbestimmung, wie wir sie heute verstehen (die aber vor gar nicht sooo langer Zeit nur bestimmten Gruppen vorbehalten waren, vulgo: dem Ehemann), inkl. Schutz von Minderjährigen, und auch noch nicht ewig: die freie Partnerwahl, um nicht zu sagen: Liebesheirat.
All diese Dinge sind weitgehend höheren Lebensformen vorbehalten (vor allem Wirbeltiere? Also Säugetiere, aber auch zB Vögel), wo es monogame, lebenslange Paare gibt und Welpenschutz bereits hormonell usw. im Verhalten verankert ist.
Was beim Menschen hinzukommt:
Geschlechtskrankheiten. Diese konnten kleine Populationen schwer gefährden und schon die Assoziation dieser Erkrankungen mit Sex war eine ziemliche Erkenntnis, und die Konsequenz daraus durchaus zweckmässig, solange man keine medizinischen Mittel dagegen hatte, umso mehr als zB Syphilis ziemlich unappetitlich ist und mehrere Erreger fatale Inkubationszeiten haben, also Erkrankungen sehr spät erkannt werden.
Daß die jeweiligen Gesellschaftsformen oder eben Religionen Wert darauf legten, diese Gefährdungen der Gruppe zu minimieren, war also durchaus berechtigt, und da man vor der Jahrhunderten kaum zwischen Religion und weltlichen Hierarchien unterschied, wurden sowohl religiöse Regeln also auch jene für den Alltag (Speisenzubereitung, Landwirtschaft = vgl. Bauernregeln, eheliche Rechte und Pflichten, .....) in dasselbe Regelwerk aufgenommen, erst nur mündlich, später in den Schriften der jeweiligen Kultur. Und es hat sich offensichtlich bewährt, denn "wir", mit diesem historischen Erbe, existieren.
Und dann eben die Sache mit der lustfeindlichen Religion. Ich denke hier kommen 2 Aspekte zusammen und werden nicht immer getrennt betrachtet: Das Unterdrücken der Lust durch den Katholizismus kann man primär als Versuch der Kontrolle der Menschen auffassen, denn Menschen, die von ihren Trieben dominiert werden, sind fast nicht mehr steuerbar.
Aber da ist eben auch die Scham als Konstrukt, das es wahrscheinlich in allen Kulturen gibt, sich aber auf verschiedene Dinge beziehen kann: in der westlich-christlichen Welt sind es eben die Genitalien, im alten China waren es die Lotusfüsse, in Japan ist es vor allem eine Frage der persönlichen Ehre und Würde, die viele Aspekte des Verhaltens bestimmt.
Läßt man die Zügel der Scham-Elemente locker, so verschiebt sich die Schamgrenze, vulgo: die der Tabus lediglich. Waren Nippel in den 70ern im TV ein Eklat (ok ... die USA sind immer noch dort...), so haben sie sich inzwischen mangels Aufregerfaktor sogar schon auf Plakatwänden überlebt.
Wurden die Menschen durch diese Entwicklung sexuell glücklicher und erfüllter? Oder war bloß das Überkommen der Tabus während der eigenen Adoleszenz das Ziel ... um sich postwendend 20 Jahre später über die schamlose Jugend zu echauffieren, die sich angesichts von Uropas Vintage-Pr0n königlich amüsiert?