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die verlorene kunst des heilens / bernhard lown

Der Arzt Bernard Lown ist wohl den meisten bekannt durch den Friedensnobelpreis, den er 1985 zusammen mit dem russischen Arzt Jewgenij Chazov für die 1980 gegründete Organisation "International Physicians for the Prevention of Nuclear War" (IPPNW) erhalten hat. Den Medizinern ist Lown vor allem vertraut durch die Einführung der Gleichstrom-Kardioversion im Jahr 1962. Dieser bahnbrechende Erfolg in der Akutbehandlung lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen war der Startpunkt für die Einführung von Intensivstationen und damit eine weitere Technisierung der Inneren Medizin. Selbstkritisch merkt Lown in seinem Buch an, dass er durch diese Entdeckungen der technikdominierten Medizin und damit der Vernachlässigung des "Heilens" Vorschub geleistet hat.

Was einen guten Arzt ausmacht, ist schwer allgemein zu definieren und noch schwerer zu vermitteln. In diesem Zusammenhang erwähnt Lown immer wieder als großes Vorbild seinen klinischen Lehrer Samuel A. Levine. Das Buch lebt von zahlreichen Berichten über selbst erlebte Arzt-Patient-Begegnungen.

An Beispielen macht er wesentliche Grundregeln deutlich: Der Arzt kann und soll es seinem Patienten erleichtern, sich ihm anzuvertrauen. Dieses Vertrauen kann auch durch die Berührung im Rahmen der körperlichen Untersuchung entstehen, wie dies erfahrene ältere Internisten übereinstimmend berichten. Gegenüber dem Patienten muss der Arzt seine Worte sehr sorgfältig wählen. Leichtfertiger Einsatz invasiver Untersuchungen kann letztlich mehr schaden als nutzen. Diese - nicht neuen - Thesen erhalten hier ein besonderes Gewicht dadurch, dass ein exponierter Vertreter der wissenschaftlich-technischen Medizin sie vorbringt.

Ein ganzer Abschnitt des Buches ist der Würde des Alters und des Sterbens gewidmet. Erschütternd ist sein Bericht über die vergeblichen Reanimationsbemühungen bei seiner sterbenden 95jährigen Mutter, die wegen eines Organisationsfehlers entgegen seinen Anweisungen vorgenommen wurden.

Einige Kapitel behandeln den von ihm mitgestalteten technischen Fortschritt der Medizin in den 1960er und 1970er Jahren. Hier haben die Schilderungen nicht nur autobiografischen Charakter; sie können auch vom Medizinhistoriker mit Gewinn gelesen werden.

Die zentrale These seines Buches aber lautet: "Unser [das amerikanische] Gesundheitssystem droht zusammenzubrechen, wenn der ärztliche Berufsstand sein Augenmerk vom Heilen wegbewegt, das damit beginnt, dem Patienten zuzuhören." Aus dieser ärztlichen Grundhaltung zieht er auch politische Folgerungen, die nicht nur auf die Gestaltung der Gesundheitspolitik, sondern ausdrücklich auf die Linderung der Armut abzielen.

Neben den medizinischen und politischen Leistungen Bernard Lowns zeugt dieses Buch auch von seiner Zivilcourage. In der McCarthy-Ära weigerte er sich, aus einer Liste von 400 "subversiven" Organisationen diejenigen anzugeben, denen er angehört habe. Stattdessen forderte er die Abschaffung dieser diskriminierenden Gesetze. Das brachte ihm eine einjährige Strafversetzung in ein Krankenhaus nach Washington ein, die er später so kommentierte: "Sie ruinierte mein Leben ein Jahr lang und verzögerte meine Karriere um ein Jahrzehnt, aber sie machte mich zu einem besseren Arzt."

Dieses Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für eine menschliche, ganzheitliche Medizin. Es ist eine in meinen Augen gerechtfertigte Ermutigung an die Schulmedizin, die psychosomatischen Aspekte einer Erkrankung ernst zu nehmen. So ist es sehr zu empfehlen für alle Ärzte, darüber hinaus aber auch für Menschen, die in Krankenhausverwaltungen oder in der Gesundheitspolitik tätig sind.
Rezensent: Dr. Malte Meesmann
 
vorige woche: gut gegen nordwind, plötzlich shakespeare und wieder einmal krieg und frieden :)
 
vorige woche: gut gegen nordwind

Ich hoffe, du hast nicht vor die Fortsetzung zu lesen. Im Gegensatz zum ersten Teil, der Glattauer hat die Leichtigkeit der Situation verloren, keine Spannung rein gebracht und der Schluss war für mich eine Enttäuschung. Gut gegen Nordwind, war für mich eine leichte Sommerlektüre, die mich voll und ganz eingenommen hat für die paar Stunden während des Lesens. "Alle sieben Wellen" war teilweise langatmig und hat das Zauber des ersten Teils gekillt.
 
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die verlorene kunst des heilens / bernhard lown
Das hat mich auch recht beeindruckt :) Lowne ist in der Kardiologie auch fuer das LGL-Syndrom bekannt, also durchaus auch eine etablierte Autoritaet im wissenschaftlichen Bereich, zeigt aber mit seinem Buch, dass eine rein mechanistische Betrachtung Menschen nicht gerecht wird.

Zum Teil ist diese Zugangsweise natuerlich auch in den Zugangsmoeglichkeiten und im Lehr- und Studienbetrieb medizinischer Universitaeten zu suchen: zwar wird in den neuen Studienplaenen viel mehr Wert auf Anamnese, Gespraech, Haltung gelegt, aber bei den entscheidenden Pruefungen zaehlt trotzdem ein Wust von Faktenwissen, der sich bisweilen von der/dem PatientIn entfernt. Und wenn die Zugangsvoraussetzungen vor allem naturwissenschaftliche Kriterien und Skills in der Mustererkennung beinhalten, koennte die Empathie auf der Strecke bleiben (wobei es ja angeblich bei US-amerikanischen Unis inzwischen einen Trend in Richtung adaequaterer Eignungstests geben soll).

Ein anderes sehr spannendes Buch aus dieser Zeit, das sich mit dem Thema der medizinischen Ausbildung der USA in den 70ern auseinandersetzt, ist" The House of God" von Samuel Shem, wo er mit liebevollem Zynismus unter anderem die Vorteile des hydropneumatischen Bettes beschreibt und den unsterblichen Ratschlag erteilt, "in case of an emergency, first take your own pulse". Der Autor, seiner Ausbilung nach Psychiater, hat auch ein weiteres belletristisches Werk ueber dieses Fachgebiet verfasst ...

Und wenn wir schon bei populaerwissenschaftlichen Werken ueber medizinische Themen sind, darf auf Oliver Sacks nicht fehlen, der mit Werken wie "Awakenings" ueber die Behandlung der parkinsonaehnlichen Symptomatik bei Opfern der spanischen Grippe mit dem damals neuen L-DOPA oder "The Man Who Mistook His Wife for a Hat", einer Sammlung von Anekdoten aus seiner langjaehrigen neurologischen Praxis, auch medizinisch interessierten LaiInnen die Neurologie greifbar macht.

Derzeit beschaeftige ich mich mit Murakamis 1q84, nachdem ich Mr Aufziehvogel und Kafka am Strand gelesen habe.
 
Arno Schmidt: Lesungen, Interviews, Umfragen, unter anderem mit der Transkription eines Interviews anlässlich des Raubdruckes von Schmidts "Zettel's Traum".
 
Ich les grad Zwischendurch "SexLust" von unserer Userin Denise_R :herzen:
Erotischer Roman -> endlich mal mit Handlung

Perfekt für Zwischendurch :) :daumen:
 
Ich stell jetzt mal eine blöde Frage...als Viel-und Gern-Leser: wie machhs Ihr das? Im Ernst. Wenn ich arbeit, eine Beziehung hab, dann kommen die 1000 Sachen dazu, die man halt tun muss, putzen, kochen, waschen....wie schaffts Ihr das im Ernst, so Abhandlungen zu lesen...prosodos...ich mag Murakami sehr, aber wie kann man zB den Aufziegvogel so lesen? Das Gleiche gilt für eine Jelinek, einen Winkler, einen Cortazar, einen Proust....ich schaff das neben dem "normalen Leben" nicht. Wie machts Ihr das? Ich bin abends müd, unkonzentriert. Das ist auch keine Straßenbahn- oder Strandlektüre. Wann lest Ihr solche Bücher???
 
Gerade habe ich Kafka on the Shore von Murakami ausgelesen.
Anfangs bin ich schwer reingekommen, Parallelen zwischen den einzelnen Handlungssträngen waren wenn überhaupt nur zu erahnen. Kann aber auch an meiner mangelnden Konzentration gelegen haben, ich befand mich zu der Zeit auf Studienfahrt.
Nach den ersten 100 Seiten kam ich endlich in die Geschichte rein und konnte Bezüge zu Charakteren herstellen. Außerdem wurden die Kapitel in sich schlüssiger und interessanter, sodass ich das Buch kaum zur Seite legen konnte.

Überrascht haben mich einige deutsche Begriffe (habe es auf englisch gelesen), die dem ausländischen Leser nicht unbedingt etwas sagen. Mich würde ja mal interessieren, wie verbreitet der Begriff "Bildungsroman" weltweit bekannt ist.
Der literarisch-musikalische Aspekt (z.B. wird unter anderem Beethoven des öfteren erwähnt) sagt mir in Büchern grundsätzlich sehr zu.
Gern mochte ich auch die runden Charaktere, vor allem die eher zufällige, für das vorankommen der Geschichte aber bedeutsame Bekanntschaft des Hoshino gefiel mir durch die kontinuierliche Weiterentwicklung seines Charakters sehr.

Das Ende war nicht schon von Beginn an klar, ist aber auch nicht im eigentlichen Sinne offen, sprich: alles so wie ich es mag.
Besonders wichtig sind mir neben der Einleitung die letzten Sätze eines Buches, die hier meiner Meinung nach gelungen sind :)
 
@junge_nutte:
Du verstehst es wahrlich einem den Lesestoff schmackhaft zu machen.
"Kafka am Strand liegt seit Monaten bei mir zu Hause herum, konnte mich nur bisher nicht dazu durchringen zu beginnen, da ich immer wieder andere Bücher zur Hand genommen habe. Haruki Murakami hat mich mit "Mister Aufziehvogel" dermaßen begeistert, dass ich mir kurz danach den Nachfolger gekauft habe. Ich denke nun wird es Zeit, sobald ich mit meinem aktuellen Buch durch bin, muss auch ich zum Strand ;)
 
@the-seus: Ich hoffe, dass du mich dann auch über deine Meinung dazu in Kenntnis setzt :) Würde mich wirklich sehr interessieren.
 
also ich les gerade ein buch von alina bronsky mit dem klingenden titel "die schärfsten gerichte der tartarischen küche" - hat mich kochen gleich null zu tun. es geht um eine extrem dominante mutter, die ihre komplette familie unter der fuchtel hat. ist total gut geschrieben, teilweise amüsiert man sich, teilweise ist man auch etwas geschockt.
 
also ich les gerade ein buch von alina bronsky mit dem klingenden titel "die schärfsten gerichte der tartarischen küche" - hat mich kochen gleich null zu tun. es geht um eine extrem dominante mutter, die ihre komplette familie unter der fuchtel hat. ist total gut geschrieben, teilweise amüsiert man sich, teilweise ist man auch etwas geschockt.

Nach der ersten Zeile hab ich in der Tat mit einem Kochbuch voller rustikaler, russischer Gerichte gerechnet. Was sich dahinter verbirgt klingt aber noch interessanter. Handelt es sich dabei in erster Linie um einen humorvollen oder ernsten Roman?
 
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