Bernhard Schlick, Der Vorleser
Den Film habe ich leider nicht gesehen, das Buch erst jetzt gelesen, aber es war so spannend, dass ich es fast in einem durchgelesen habe.
Unterteilt in drei Teile, erzählt der erste Teil von der erotischen Liebesgeschichte des 15-Jähringen Michael Berg (er ist der Ich-Erzähler des Buches) mit der ca. 20 Jahre älteren Hannah Schmitz.
"In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt. Ich schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von ihr, meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, dass ich das Kissen oder die Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh. Immer wieder regte sich mein Geschlecht, aber ich wollte mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich nie mehr selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein."
Sie erlebten eine nicht unschwierige, aber aufregende und innige Beziehung, bis Hanna nach einigen Jahren von heute auf morgen verwand. Ohne Abschied, ohne eine Nachricht - als ob es sie nie gegeben hätte. Michael, der ihr während der Beziehung fast hörig war, sollte sich von diesem abrupten Abriss, nie wirklich erholen.
"Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu halten, bis ich mich daran gewöhnte, dass die Nachmittage ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen geeignet wären. Es dauerte eine Weile, bis sich mein Körper nicht mehr nach ihrem sehnte; manchmal merkte ich selbst, wie meine Arme und Beine im Schlaf nach ihr tasteten(...)
Aber irgendwann hörte die Erinnerung an sie auf, mich zu begleiten. Sie blieb zurück, wie eine Stadt zurückbleibt, wenn der Zug weiterfährt. Sie ist da, irgendwo hinter einem, und man könnte hinfahren und sich ihrer versichern. Aber warum sollte man."
Im zweiten Teil des Buches begegnet der Jurastudent Michael im Rahmen eines Seminars Hanna wieder. Sie ist eine der 4 Angeklagten in einem NS-Prozess: als eine der Aufseherinnen in Ausschwitz soll sie zur Rechenschaft gezogen werden.
Michael steht zwischen seiner Liebe zu Hanna und seiner Ablehnung ihrer Taten, zwischen ihrer Menschlichkeit und ihren schrecklichen Taten als NS-Wächterin. Hier wird klar, dass hinter jedem Holocaust-Verbrecher auch eine menschliche Vergangenheit steht. Der Autor möchte die Taten der Zeit des dritten Reiches nicht schön reden und auf keinen Fall gut heißen, allerdings stellt er die Frage, ob Hanna voll für ihre Taten verantwortlich gemacht werden kann. Während des Prozesses wird Michael klar, dass Hanna Analphabetin war und sich dafür so sehr schämte, dass sie ein strengeres Urteil in Kauf nahm, anstatt ihren Analphabetismus bekannt zu geben.
Auch der dritte Teil des Buches ist der Aufarbeitung der NS Zeit gewidmet. Hanna ist im Gefängnis, Michael wird Rechtshistoriker und beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Aufarbeitung der NS-Zeit, während Hanna lesen und schreiben lernt und Bücher von Hannah Arendt und anderen PhilosophInnen, die sich mit der NS Zeit beschäftigt haben, liest. Michael beginnt wieder, ihr vorzulesen, indem er ihr besprochene Kassetten ins Gefängnis schickt....
Das Buch ist in einfacher Sprache gehalten, und überrascht, weil es die NS-Zeit aus der Sicht einer Täterin und eines Menschen, der sie geliebt hat, reflektieren lässt. Die größte Stärke des Buches ist sicher, die offenen Fragen, die sich dem Leser/der Leserin stellen.
"Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke? Ist es die Sehnsucht nach vergangenem Glück? Ist es das Wissen, was danach kam und dass nur ans Licht kam, was schon war?
Warum? Warum wird uns, was schön war, im Rückblick dadurch brüchig, dass es hässliche Wahrheiten verbarg? Warum vergällt es die Erinnerung an glückliche Ehejahre, wenn sich herausstellt, dass der andere die ganzen Jahre eine Geliebte hatte? Weil man in einer solchen Situation nicht glücklich sein kann? Aber man war glücklich! Manchmal hält die Erinnerung dem Glück schon dann die Treue nicht, wenn das Ende schmerzlich war. Weil Glück nur stimmt, wenn es ewig hält? Weil schmerzlich nur enden kann, was schmerzlich gewesen ist, unbewusst und unerkannt?"
Wenn der Film nur annähernd so gut ist, tut es mir sehr leid, dass ich ihn verpasst habe!